Florjan Lipuš: "Schotter"

Gedenken an eine Großmutter, die nicht zurückkam

06:38 Minuten
Buchcover von Florjan Lipuš' Roman "Schotter". Im Hintergrund Skulpturen von Künstlern die heute im ehemaligen Konzentrationslager Staro Sajmiöte in Belgrad ihre Ateliers haben
Bücher wie "Schotter" retten die Perspektive des Einzelnen vor der großen kollektiven Verdrängung. © Jung und Jung / imago/epd
Von Jörg Plath · 05.04.2019
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In "Schotter" schreibt der 81-jährige Kärntner Slowene Florjan Lipuš über eine Deportierte, über das eilige Vergessen ihrer Dorfnachbarn und das abweichende Erinnern ihrer Enkel. Ein still bestürzendes Buch, das nicht verallgemeinert.
Immer wieder hat Florjan Lipuš in seinen Büchern von einem traumatischen Erlebnis seiner Kindheit erzählt: Wie der Sechsjährige erlebte, dass die Mutter abgeholt wurde, weil sie als Partisanen verkleidete Gestapo-Männer bewirtet hatte. Daher behauptet der Erzähler seines letzten Romans "Seelenruhe" keineswegs ironisch, er schreibe immer dasselbe Buch. Doch Lipuš' Bücher – "Der Zögling Tjaž", mit dem er 1981 dank der Übersetzung von Peter Handke und Helga Mračnikar endlich bekannt wurde, oder "Boštjans Flug" – fallen immer anders aus.
2018 erhielt der Kärntner den Großen Österreichischen Staatspreis, dem man ihm noch 2016 mit der skandalösen Begründung verweigert hatte, er schreibe auf Slowenisch.
In dem neuen Buch "Schotter" wird eine Großmutter deportiert und kehrt nicht aus dem Frauen-KZ Ravensbrück zurück. In den typischen kurzen Absätzen entfaltet der 1937 geborene Volksschullehrer und -direktor, durch den Besuch eines katholischen Internats und dem abgebrochenen Theologiestudium vertraut mit der Liturgie, ruhig die Motive, einem Klagelied nicht unähnlich.

Gedächtnismarsch in ein Frauen-KZ

Die Bewohner eines Dorfes, deren Verwandte abgeholt und meist umgebracht wurden, treten in "Schotter" einen Gedächtnismarsch in ein deutsches Frauen-KZ an. Zwei Kinder sind unter ihnen, "vielleicht Bruder und Schwester", die ihre Großmutter "treffen wollen", die sie nie gesehen, von der sie nur gehört haben. Im Steinbruch brechen sie den Stein wie die Großmutter, sie stehen mit ihr vor der Genickschussmauer, und sie drücken auf dem Appellplatz, auf dem die Häftlinge stundenlang ausharren mussten, ihre Füße in den Schotter, sodass ihnen die Sohlen der unbekannten Großmutter entgegenkommen. Für wenige Minuten werden ihnen Qual und Todesangst erfahrbar.
Die Gedächtnismarschierer kehren in der zweiten Hälfte des Buches in das Dorf zurück und zeichnen "Kainsmale" in die Gesichter der anderen, der für das Leiden der früheren Nachbarn Verantwortlichen. Doch die Rückkehrer werden eingebunden in gemeinsame Arbeiten, sie schlucken die stille Wut allmählich hinunter. Die Erinnerung an das Lagerleiden geht verloren, das Kainsmal wird undeutlich, und die Verdrängung befördert eine neue "Ganzheit des Dorfes".

Denkmäler der individuellen Erinnerung

"Schotter" ist eine bewegende und deprimierende Lebensbilanz. Denn wenn der 81-jährige Lipuš klagt, es sei nicht gelungen, das Andenken des Leidens zu bewahren, dann fällt er ein vernichtendes Urteil über sein Lebenswerk: In den 1960er-Jahren kämpfte er für die Erneuerung der slowenischen Kultur in Österreich jenseits der akzeptierten Folklore und setzte auf die Sprache.
Der politische Kampf mag verloren sein, ästhetisch jedoch hat Lipuš gewonnen: Seine literarischen Werke, seit Jahren von Johann Strutz knorrig eigenwillig übersetzt, bewahren auf eindrucksvolle Weise die abweichende partikulare Erinnerung. Lipuš' Klage in "Schotter" über das eilige Vergessen der Dörfler klingt allerdings zu bekannt – Städter verhielten sich genauso.
Still bestürzend ist das Buch, wenn es nicht verallgemeinert. Wenn es im Schotter die Welt des Lagers und im Glockenläuten die des Dorfes erfasst. Oder im ungerührten Aus-dem-Fenster-Schauen, der Kuh hinterher oder, einerlei, der von Gendarmen verhafteten Nachbarin.

Florjan Lipuš: "Schotter". Aus dem Slowenischen von Johann Strutz
Jung und Jung, Salzburg und Wien 2019
139 Seiten, 20 Euro

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