Florian Coulmas: "Ich, wir und die Anderen"

Die blinden Flecken der Identitätsdebatte

05:35 Minuten
Das Buchcover von Florian Coulmas "Ich, wir und die Anderen. Das Zeitalter der Identität" auf pastellfarbenen Hintergrund.
Der Essay "Ich, wir und die Anderen. Das Zeitalter der Identität" von Florian Coulmas kommt zur rechten Zeit. © Deutschlandradio / Orell Füssli Verlag
Von Marko Martin · 11.05.2020
Audio herunterladen
Für die einen bezieht sich Identität auf Nation und Kultur, für die anderen auf ethnische oder sexuelle Diversität: Unproblematisch sind aber weder die konservative noch die liberale Variante des Identitätsdiskurses, macht Florian Coulmas deutlich.
Zu den gegenwärtig beliebtesten Plattitüden zählt zweifellos die Klage, dass Gewissheiten, Strukturen und Identitäten auf einmal unübersichtlich geworden wären und zersplittert seien – selbstverständlich "wie nie zuvor". Ironischerweise sind es häufig selbsternannte "Kulturkonservative", die auf diese Weise ihren Unmut artikulieren, dabei jedoch wenig Vertrautheit mit Kultur und Tradition erkennen lassen.

Identität ist etwas Temporäres

Florian Coulmas' schlanker, konziser Essay "Ich, wir und die Anderen. Das Zeitalter der Identität", kommt also zur rechten Zeit. Der 1949 geborene Wissenschaftler und renommierte Publizist schlägt auf elegante Weise Breschen in die gegenwärtige Begriffsverwirrung, suggeriert doch die Vokabel "Identität" etwas Feststehendes und Unverrückbares.
Dabei hatte bereits Shakespeare in seiner Komödie "Wie es euch gefällt" um das Situative und Temporäre dessen gewusst, "was uns ausmacht":
"Die ganze Welt ist Bühne
Und alle Fraun und Männer bloße Spieler.
Sie treten auf und gehen wieder ab,
Sein Leben lang spielt einer manche Rollen
Durch sieben Akte hin."
Goethes Werther dagegen buchstabierte die – um es modern zu sagen – Diversifizierung seines Gefühlslebens als ausweglos tragische Zerrissenheit. Es ist deshalb durchaus überlegenswert, ob jene sehr deutsche Obsession des widerspruchsfreien Fühlens und eines "Eins-Seins mit sich" nicht sogar noch in den aktuellen Debatten wabert, wenn bei jedem Dissens zu vernehmen ist, er "spalte das Land".

Kollektive Identitäten als Keim der Intoleranz

Hier kommen nun, so argumentiert Coulmas, kollektive Identitäten ins Spiel – mit allen fürchterlichen Nebenwirkungen.
"In diesem Übergang von 'Identität' zu 'sich identifizieren mit' ruht der Keim der Intoleranz, den nicht alles überwuchern zu lassen, die größte Aufgabe der Aufklärung ist. Da der Mensch ein soziales Wesen ist, wird sich dieser Keim nie ausmerzen lassen, aber individuelle Identität als Idee und als Forderung birgt die Möglichkeit, kollektive Identität nicht als unentrinnbares Schicksal zu begreifen."
Dass gerade auch Nationen, Kulturen, Religionen und Traditionen nicht etwa organisch gewachsen sind, sondern Resultat zum Teil durchaus arbiträrer Prozesse sind, mögen – wider besseres Wissen – Rechtskonservative und Integristen jeglicher religiöser Couleur zwar nicht wahrhaben wollen, doch hat eine progressive Weltsicht auch hier erfreulich an Terrain gewonnen.
Was aber, wenn dies nicht vollständig eine gute Nachricht ist? Denn oftmals setzen auch diejenigen, die mit Recht auf das Konstruierte von Mehrheits-Identitäten hinweisen, nun ihre eigenen ethnischen, religiösen oder sexuellen Identitäten als absolut und gerieren sich dabei gar als Fürsprecher und selbsternannte Repräsentanten.
Florian Coulmas, der auf dem zivilisierenden Charakter jener Vielfalt rekurriert, die wiederum selbst Vielfalt aushält und zulässt, schreibt:
"Die Legitimierung von Vielfalt und Verschiedenheit birgt allerdings auch die Gefahr, zur Reproduktion von Diskriminierung beizutragen, statt sie zu verringern. Gruppen bekommen einen fixierten Charakter und erschweren es Individuen möglicherweise, sich von einer kategorialen Abstempelung zu befreien."

Identitätspolitik ohne soziale Komponente

Besonders nimmt er hier das sogenannte "Diversity Management" ins Visier, mit dem internationale Großunternehmen auf Frauen und ethnische und sexuelle Minderheiten vermeintlich "Rücksicht" nehmen, gleichzeitig aber ungemein harsch reagieren, sollte es diesen einfallen, sich etwa gewerkschaftlich zu organisieren.
Fast en passant und ohne zu eifern, legt Coulmas hier einen weiteren blinden Fleck einer sich progressiv dünkenden "Identitätspolitik" frei, nämlich jene dort oft zu beobachtende Negierung der sozialen Komponente. Was nämlich nützt es Minderheiten, betriebsintern anerkannt und nicht oder gar "positiv diskriminiert" zu werden, wenn gleichzeitig von der Chefetage her weiterhin Lohn-Dumping betrieben wird? Früher hätte man das wahrscheinlich mit marxistischem Vokabular als "Klassengegensatz" bezeichnet – was heute indessen etwas antiquiert klingt, aber dennoch auch weiterhin nicht gänzlich ohne Realitätsbezug ist.
Kurz: Es ist lehrreich und Erkenntnis spendend, ein Sujet, das oftmals in eher dunkel dräuendem Ton verhandelt wird, hier auf hundert Seiten derart unaufgeregt diskutiert zu finden. Zum Schluss zitiert Florian Coulmas übrigens nicht erneut Shakespeare oder Goethe, sondern den Rapper Akala, der uns mit ebenso kluger Einsicht beschenkt:
"Bitte verwechsle deine Lage nicht mit deiner Identität, das ist nicht dasselbe."

Florian Coulmas: "Ich, wir und die Anderen. Das Zeitalter der Identität"
Orell Füssli Verlag, Zürich 2020
110 Seiten, 10 Euro

Mehr zum Thema