Kulturelle Anerkennung

Warum linke und rechte Identitätspolitik nicht das Gleiche sind

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Illustration einer Hand, die eine trennende rote Linie zwischen einem Menschen und anderen Menschen zeichnet.
Herkunft und Geschlecht - sind das sind nicht eigentlich Kategorien der Rechten? Der Sozialwissenschaftler Houssam Hamad sieht einen Unterschied zwischen linker und rechter Identitätspolitik. © imago / Ikon Images / Gary Waters
Ein Einwurf von Houssam Hamade · 02.04.2020
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Links - das stand immer für Universalismus, für "alle Menschen sind gleich". Doch heute treten linke Bewegungen oft für die Rechte spezieller Gruppen ein: Homosexuelle etwa oder Migranten. Houssam Hamade sieht hierin keinen Verrat am ursprünglichen Ideal.
Seit Jahren wettern zahllose Kommentatoren gegen linke Identitätspolitik. Diese betone zu sehr die Partikularinteressen einzelner Gruppen: Frauen, Homosexuelle oder Menschen mit Migrationshintergrund. Das widerspreche der aufklärerischen Idee, Menschen als Menschen zu sehen. Der Politikwissenschaftler Francis Fukuyama spricht sogar von einem Verrat am Universalismus der Würde.
Die Behauptung, dass diese Art Identitätspolitik ein so großes Problem ist sei, irritiert mich: Seit 16 Jahren lebe ich im linken Berliner Bezirk Friedrichshain, meine Freunde sind durchgehend links und liberal. Auch habe ich noch vor Kurzem an der Humboldt-Universität studiert, wo ich einige Seminare zu Rassismus und Gender Studies besucht habe. Mindestens dort hätte ich eigentlich ständig dieser verbohrten Identitätspolitik begegnen müssen. Dennoch kann ich an zwei Fingern abzählen, wie oft ich nur auf Grund meines männlichen Geschlechts oder meiner Heterosexualität negativ beurteilt wurde.

Die Rechte sieht die Welt durch die Brille fester Identitäten

Medienbeiträge, die partikulare Identitäten ernsthaft als entscheidendes Merkmal eines Menschen beschreiben, finde ich nur im rechten Spektrum. Es ist kein Zufall, dass beispielsweise in einem Interview des Deutschlandfunks mit dem Soziologen Armin Nassehi der türkische Nationalismus von Mesut Özil beispielhaft angeführt wird. Dabei wurde in dem Interview linke Identitätspolitik diskutiert. Özils Nationalismus ist aber Identitätspolitik rechter Art.
Und genau hier zeigt sich das Problem: Entscheidende Unterschiede zwischen rechter und progressiver Identitätspolitik werden übergangen. Die Rechte denkt partikularistisch und sieht die Welt nur durch die Brille fester Identitäten. In Debatten um Kriminalität blenden rechte Sprecher beispielsweise entscheidende Faktoren wie die soziale Lage, Geschlecht oder Alterstruktur aus. Das verzerrt die Sachlage.
Linke und progressive Identitätspolitik ist anders. Sie ist mindestens in Deutschland an das Konzept der Intersektionalität geknüpft. Das heißt, verschiedene Diskriminierungsformen können sich in einer Person überlappen. Eine türkischstämmige Putzkraft kann beispielsweise auf Grund ihrer Herkunft, als Frau und auf Grund ihrer Klassenzugehörigkeit Diskriminierung erfahren. Diese "Identitäten" sind soziale Identitäten. Hier können alle möglichen Einflüsse eine Rolle spielen und sich zum Teil auch widersprechen. Intersektionale Identitätspolitik basiert auf dem Grundsatz, dass kein Mensch in seiner Würde verletzt oder ausgebeutet werden soll. Entgegen Fukuyamas Vorwurf ist sie damit fest im "Universalismus der Würde" verwurzelt.

Diskriminierung richtet sich gegen spezifische Identitäten

Wer Diskriminierungen benennt, kann das kaum tun, ohne spezifische Identitäten zu benennen. Das ist nicht neu. Schon Hannah Arendt erklärte: "Ein Mensch kann sich nur als das wehren, als was er angegriffen wird." Ein Jude könne seine Menschenwürde nur bewahren, wenn er als Jude Mensch sein kann. Das Gleiche gilt für andere Gruppen. Loslassen können wir zugeschriebene Identitäten erst, wenn sie keine Rolle mehr spielen. Wenn wir tatsächlich zuallererst Menschen sind.
Zum Ende des besagten Interviews erklärt Nassehi übrigens, gut fände er Rollstuhlfahrer, die selbst Witze über ihren Rollstuhl machten. Eine weit verbreitete Haltung, die das Pferd von hinten aufzäumt. Selbstverständlich ist es für die nicht-rollstuhlfahrende Umgebung sehr angenehm, wenn Rollstuhlfahrer Witze über sich selbst machen. Das ist bequem. Das funktioniert aber nur, wenn der Rollstuhlfahrer sich tatsächlich nicht diskriminiert fühlt. Ansonsten bleibt ihm nur das Benennen dieser Diskriminierung und der damit zusammenhängenden Rollen. Oder er muss zum Behagen seiner Umgebung die giftige Kröte der Diskriminierung schlucken. Wenigstens muss er sich dann nicht vorwerfen lassen, Identitätspolitik zu betreiben.

Houssam Hamade ist freier Journalist und Autor. Im Herbst 2018 erschien sein Buch: "Sich prügeln: 18 Geschichten aus dem Leben". Hamade lebt in Berlin.


Houssam Hamade
© Tobias Faisst