Fleisch als Kulturgut

"Wir verorten uns über Ernährung auch sozial"

Ein durchwachsenes, rohes Rindersteak, dekoriert mit einem Rosmarinzweig.
Die einen graust es, den anderen läuft das Wasser im Mund zusammen - Fleisch ist vom Luxussymbol zum hochumstrittenen Lebensmittel geworden. © dpa / picture alliance / Marco Stirn
Gunther Hirschfelder im Gespräch mit Stephan Karkowsky · 29.08.2018
Ernährung ist mehr als Nahrungsaufnahme, sagt Kulturwissenschaftler Gunther Hirschfelder. Das zeigt sich an der Diskussion ums Fleisch: Vom Symbol für Wohlstand und Lebenskraft ist es zum Chiffre für "ungesund" und "umweltschädlich" geworden.
Stephan Karkowsky: "Fleisch ist ein Stück Lebenskraft" – offenbar hat die Zentrale Marketinggesellschaft der Deutschen Agrarwirtschaft früher echte Poeten beschäftigt, die solche Werbesprüche dichten durften. Heute steht Fleisch längst auch sinnbildlich für Fehlernährung, Umweltzerstörung und Tierleid. Wie das passieren konnte, das möchte ein neues Forschungsprojekt an der Universität Regensburg herausfinden. Es heißt "Fleisch als Kulturgut" und wird geleitet vom Regensburger Professor für Vergleichende Kulturwissenschaft, Gunther Hirschfelder. Herr Hirschfelder, guten Morgen!
Gunther Hirschfelder: Ja, guten Morgen nach Berlin!
Karkowsky: Ist Fleisch ein Kulturgut?
Hirschfelder: Ja. Auf der einen Seite ist Fleisch natürlich nur eine organische Substanz und etwas dann Biochemisch-Physikalisches. Und in seinem Gebrauch wird Fleisch dann tatsächlich zum Kulturgut, und das zeigen ja die kontroversen Diskussionen nicht nur in Deutschland, sondern global.
Karkowsky: Wissen wir das denn heute überhaupt noch zu schätzen, Fleisch als Kulturgut, oder hat die Herstellung von Fleisch längst jegliche Kultur verloren?
Hirschfelder: Wir haben eine große mediale Aufregung um das Thema Fleisch, und wenn man im Blätterwald herumstapft, dann denkt man, dass eigentlich kein Mensch mehr Fleisch isst, auch gerade in Deutschland nicht. Aber realiter sieht es ja so aus, dass der Fleisch-Peak möglicherweise erreicht ist, dass aber die Absatzzahlen stabil bleiben. Das heißt, im Bewusstsein der Konsumenten ist Fleisch eine wertige Angelegenheit, die man gern isst und oft isst – 63 Gramm am Tag ungefähr.
Gunther Hirschfelder, Professor an der Universität Regensburg
Gunther Hirschfelder, Professor an der Universität Regensburg© picture alliance / dpa
Karkowsky: Sie sagen es, trotz des Imageverlusts, die Currywurst zum Beispiel steht ganz hoch oben im Kurs. Das Volkswagen-Werk Wolfsburg wurde nicht vom Dieselskandal erschüttert, sondern von einem veränderten Currywurstrezept. Da ging die Belegschaft auf die Barrikaden. Auch das Sommergrillen wird als Grillkultur weiter zelebriert. Wie passt das denn zusammen, also wie erklären Sie sich das, obwohl es ja dieses schlechte Image gibt vom Fleisch?
Hirschfelder: Das sind diese Dissonanzen, die wir beim Essen immer haben. Wir wissen ja eigentlich alle, ab einem gewissen Bildungsgrad, den man niedrig ansetzen kann, was einigermaßen gesund ist und unserem Körper gut tut. Und es gibt viele Ernährungsrichtlinien und eine Ernährungspyramide der Deutschen Gesellschaft für Ernährung. Und nirgends steht, dass größere Mengen Schweinefett eigentlich ganz gut wären. Trotzdem essen das viele Leute.
Nirgends steht übrigens auch, dass man nur ein einziges Gramm Alkohol pro Tag konsumieren sollten. Trotzdem tun die Menschen das in erheblichen Mengen. Der Mensch ist eben ein Kulturwesen, der Mensch hat eine Psyche, der Mensch braucht emotionale Sicherheit. Der Mensch ist eingesponnen in ein kulturelles Bedeutungsgewebe, und da ist Ernährung eben weit mehr als eine bloße Nahrungsaufnahme.
Der Mensch ist kein Tier, was wir füttern können, und es wird das akzeptieren, sondern der Mensch braucht Ernährung, um sich sozial, historisch und auch emotional zu verorten.

Das Eiweiß und der Wohlstand

Karkowsky: Die historische Entwicklung ist auch Thema Ihres Forschungsprojekts "Fleisch als Kulturgut". Früher war Fleisch Luxus. Einmal die Woche, wenn überhaupt, kam Fleisch auf den Tisch. Heute ist es auch Sinnbild für Umweltzerstörung und Tierleid. War das eine schleichende Entwicklung, oder würden Sie sagen, da gab es ganz bestimmte Wegmarken?
Hirschfelder: Ja, das genau versuchen wir herauszubekommen. Das Spannende am Fleisch ist ja, dass wir von Beginn der Menschheit an eigentlich den Wohlstand einer Gesellschaft und die Innovationskraft einer Gesellschaft ablesen können an der Eiweißzufuhr, die zumindest im Binnenland in der Regel über Fleisch erfolgt und sonst über Fisch. Und die Hirngröße, die Entwicklung der Gehirngröße, all das hängt von Eiweißzufuhr ab, und Fleisch ist eben primär dann erst mal auch Eiweiß- und Energieträger. Wir können das besonders deutlich im 18., 19. Jahrhundert sehen. Im 19. Jahrhundert haben wir zu Beginn der Zeit, in der Frühindustrialisierung einen dramatisch niedrigen Fleischverbrauch, viel zu wenig Eiweiß. Ein Großteil der Bevölkerung in Mitteleuropa isst praktisch vegetarisch - faktisch.
Und dann kommt im Verlauf des 19. Jahrhunderts die große Steigerung des Fleischkonsums. Am Ende der Kaiserzeit haben wir ungefähr 55 Kilo Fleisch pro Kopf und Jahr, also ungefähr fast so viel wie heute. Und das wird von den Menschen als großer Wohlstandsmarker wahrgenommen. Menschen ziehen aus einer dörflichen Umgebung, aus den armen Agrargebieten in die Industriestädte, nicht nur, weil sie dort Arbeit finden, sondern weil sie mit dem Geld, das sie verdienen, Fleisch essen können, weil das eine so hohe kulturelle Wertigkeit hat. Fleisch ist praktisch im Kaiserreich Chiffre für hohen Lebensstandard.
Und dann kommt der Prozess des 20. Jahrhunderts, dass sich das umkehrt. Fleisch ist heute im Bewusstsein vieler und in der medialen Diskussion und nicht zuletzt in den Wissenschaften Chiffre für Umweltzerstörung, für einen fahrlässigen Umgang mit dem eigenen Körper und für Tierleid. Und wie dieser Prozess zustande kommt und wie er strukturell aufgebaut ist, das möchten wir grundlegend erforschen, um auch eine Vorlage zu haben für andere, ähnliche Prozesse. Wie entsteht Kultur? Wie funktioniert Kultur, und wie können wir unter diesen Bedingungen auch Zukunft gestalten?

Kleinkinder und Säuglinge sollten nicht vegan ernährt werden

Karkowsky: Ich habe jetzt bei Ihnen gehört einen Zusammenhang zwischen Gehirngröße und Fleischkonsum. Müssen alle Vegetarier und Veganer sich Sorgen machen?
Hirschfelder: Nein. Wir sind heute gut aufgestellt, wir wissen um Ernährung, und in vegetarischen und vor allem veganen Foren wird ja intensiv diskutiert, wie man etwas mit pflanzlichem Eiweiß umgehen kann und wie die Stoffe, die nur im Tierischen sind wie etwa verschiedene B12-Gruppen, wie man das substituieren kann. Also, da sind wir auf einem guten Weg. Wobei die Deutsche Gesellschaft für Ernährung ja eindeutig empfiehlt, Kleinkinder und Säuglinge eben nicht vegan zu ernähren. Die tierische Komponenten ist da ganz gut, und so mache ich es in der Kindererziehung übrigens auch.
Karkowsky: Viele Kritiker beklagen weiterhin, dass Fleisch in Deutschland zu billig ist, und sehen das auch als einen Grund dafür, dass die industrielle Fleischproduktion weitergeht, statt das Ganze wieder umzustellen auf eine familien-ökologische Fleischproduktion. Wie sehen Sie das?
Hirschfelder: Als Historiker würde ich sagen und als Kulturwissenschaftler, das ist zunächst mal eine kulturelle Tatsache. Der Markt regelt das. Aber als Historiker würde ich auch sagen, in ein, zwei Generationen werden wir noch deutlicher erkennen, wie dramatisch die Lebensmittelproduktion global eigentlich aufgestellt ist.
Wir tragen keine Umweltfolgekosten, wir konsumieren in Deutschland viel Fleisch, und wir kaufen eben auch viel Grillkohle zum Beispiel und zahlen die Umweltfolgeschäden, die damit etwa in Südamerika durch Regenwaldabholzung und Holzkohlegewinnung und vor allem durch den Anbau von Futtermittelpflanzen wie Soja entstehen, eigentlich nicht mit. Die Verödung der Böden, die Ausbeutung der Böden, das ist eine Raubbauwirtschaft, die wir in breitem Stil betreiben.
Und ich würde sagen, ein Fleischkonsum, wie wir ihn im Augenblick haben in Deutschland und vor allem auch global gesehen, das ist eine Sache, die wir uns auf Dauer so nicht leisten können. Es ist eigentlich eine Katastrophe, und wir werden als Menschheit diese Entwicklung irgendwann bereuen.

Das Schlachthaus als Black Box

Karkowsky: Befasst sich Ihr Projekt eigentlich auch mit Schlachtungsmethoden, damit also mit der Kultur des Tötens, und wie die sich verändert hat?
Hirschfelder: Ja. Und da geht es eben ganz zentral bei den gegenwartsorientierten Aspekten des Projekts darum, dass wir hier eben auch Feldforschung führen. Wir reden viel über Schlachtungen und haben viel Aufregungsdiskussionen – Niklas Luhmann hat mal den Begriff "Aufregungsschäden" genannt – über Schlachthäuser und die ganze Wertschöpfungskette.
Auf der anderen Seite gibt es in Dänemark einen gläsernen Schlachthof, der das Ganze entskandalisiert. Und wir wollen eben hier mal mit einer teilnehmenden Beobachtung in der ganzen Wertschöpfungskette von der Landwirtschaft über die Schlachtung bis in den Handel mit zentralen Akteuren sprechen und mal schauen, wie werden hier diese Dissonanzen und diese Problemlagen überhaupt wahrgenommen.
Wir haben ja in weiten Teilen des Fleischgewerbes ein Unwohlsein auch bei den Beschäftigten. Fleischarbeiter und Schlachthofarbeiter zu sein, war früher ein ehrenvoller Job. Heute schämen sich die Leute. Und wir wollen mal schauen, wie wird das verhandelt, und wie ist dann eben auch der dingliche Umgang mit diesen Dingen? Wird da präsentiert, wird da verborgen? Was für Mechanismen wirken da dann? Das ist ja eigentlich eine Blackbox. "Skandalhaus Schlachthof" oder "business as usual" – wir wissen es gar nicht, und das kriegen wir heraus.
Karkowsky: Zum Forschungsprojekt "Fleisch als Kulturgut" hörten wir den Regensburger Professor für Vergleichende Kulturwissenschaft Gunther Hirschfelder. Ihnen besten Dank!
Hirschfelder: Gern, alles Gute, ciao!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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