Finanzsystem

Radikalkur in Sachen Risiko

Besprochen von Andreas Rinke · 24.11.2013
Eindrucksvoll und aktuell ist das Buch des Bielefelder Mathematikers Frank Riedel. Er sieht die Finanzkrise als Folge einer mathematisch-technischen Ratio, die mit aufgeklärter Vernunft nichts mehr zu tun hat. Befördert durch einen Kulturverlust der Banker und verstärkt durch die Macht großer Banken.
Eigentlich hatte der Stadtkämmerer alles richtig machen wollen: Um seiner verschuldeten Kommune die Last ein wenig zu erleichtern, wollte der Mann neuartige Angebote des Finanzmarktes nutzen. Also ließ er sich auf einen komplizierten Vertrag mit einer Bank ein, der ihm einen niedrigeren Zinssatz nach einem ausgetüftelten Berechnungsverfahren sicherte – der Stadt aber explodierende Kosten bescherte.
Frank Riedel nutzt unter anderem dieses Beispiel, um zu erklären, wieso gutgläubige Akteure in großer Zahl in eine Falle getappt sind – eine Falle, die Finanzmathematiker aufgestellt hatten, indem sie das Risiko bewusst oder unbewusst herunterspielten. Die Kombination von Gier und Bankenmacht ist schon häufig als Erklärung für die Finanzkrise herangezogen worden. Aber der Bielefelder Mathematiker und Wirtschaftswissenschaftler fügt dem fatalen Bündel nun neue Komponenten hinzu.
Schuld haben für ihn auch jene, die mit komplizierten Berechnungen finanzieller Risiken erst einmal die Basis für schwer durchschaubare Produkte bildeten, also die Finanzmathematiker. Auch den staatlichen Regulierungsstellen weist er eine Verantwortung zu, weil sie im hilflosen Versuch, Schaden abzuwenden, die Krise nur noch vergrößerten.
Einfach ist die Kost nicht, die er seinen Lesern präsentiert. Gerade weil er enthüllen will, auf welch wackeligen Füssen, auf welch naiven Annahmen manchmal Entscheidungen über Milliardeninvestitionen aufbauen, strotzt sein Buch vor englischsprachigen Fachbegriffen und Berechnungs-Modellen.
Es geht um “Bid-Ask-Spreads”, “digital calls” oder “value at risk”.
Mischung aus Naivität und Partikularinteressen
Aber der Leser sollte sich weder von Fachterminologie noch von detaillierten Berechnungsmodellen abschrecken lassen. Denen muss er nicht folgen können, um die erschreckende Botschaft des Buches zu verstehen: Die Krise kam unvermeidlich, weil die Berechnung des tatsächlich eingegangenen Risikos nicht stimmte. Eine Mischung aus Naivität und Partikularinteressen verhinderte, Fehler zu erkennen und abzustellen.
“Es gab und es gibt bei den Banken wie auch bei ihren Kunden ein grobes Missverständnis der Möglichkeiten und der Grenzen der Finanzmathematik.”
Denn eine simple Weisheit ging in der Begeisterung über ‘Hebelungen’ oder ‘Derivate’ verloren:
“Es gibt auch mit Hilfe der Finanzmathematik kein Schlaraffenland. Wer einen festen Zins von fünf Prozent zahlen muss, der muss diesen zahlen.”
Tauscht ein Akteur diese Verpflichtung gegen einen vermeintlichen niedrigeren Zinssatz um, kann er das nur tun, indem er ein höheres Risiko an anderer Stelle übernimmt. Anders ausgedrückt: Zu jedem Geschäft gehören zwei Akteure. Und ein jeder will einen Gewinn machen.
Cover: Frank Riedel "Die Schuld der Ökonomen"
Cover: Frank Riedel "Die Schuld der Ökonomen"© Econ Verlag
Frank Riedel beschreibt eindrucksvoll und sehr aktuell, wie das, was wir als gesunden Menschenverstand bezeichnen würden, durch die Finanzmathematiker ausgehebelt wurde – befördert durch einen Kulturverlust der Banker und verstärkt durch die Macht großer Banken. Risikobewertungen waren fehlerhaft – auch die von eigentlich unabhängigen Ratingagenturen und staatliche Vorgaben erwiesen sich als falsch.
Das ging bis zum Betrug. Ein Beispiel sei der Skandal um den Libor-Zinssatz, zu dem sich Banken gegenseitig kurzfristig Geld leihen und der vielen Marktteilnehmer als Referenzgröße für ihre Geschäfte galt, weil er scheinbar objektiv festgestellt wurde. Doch in Wirklichkeit hatten ihn die Banken in London bewusst zu ihrem Nutzen manipuliert. Auch prangert Riedel den Trend an, dass die Institute ihren Kunden nicht mehr Risiken abnehmen, sondern auf sie abwälzen – eben mit Hilfe finanzmathematischer Konstrukte.
Angesichts der vernichtenden Analyse des Finanzsystems ist es kein Wunder, dass Riedel eine Radikalkur fordert: Er will die Bezahlung von Bankern ändern. Immer größere Risikopakete zu entwickeln, dürfte nicht auch noch mit Erfolgsprämien belohnt werden. Außerdem sollte eine Spekulationsabgabe risikoreiche Anlagen wie Derivate teurer und damit unattraktiv machen.
Echtes revolutionäres Umdenken
Zweimal fordert er echtes revolutionäres Umdenken – sowohl von Finanzmathematikern als auch vom Gesetzgeber. Risiken sollten nicht länger danach berechnet werden, wie unwahrscheinlich es sei, dass eine bestimmte negative Entwicklung eintrete, sondern das Gegenteil ausdrücken, wie hoch der größtmögliche Schaden werden könnte. Dann kämen Banken und Investoren zu völlig neuen Bewertungen und würden fast automatisch vorsichtiger agieren.
“Eine Regulierung auf Basis dieses Risikomaßes würde sofort zu einem extreme stabilen (und, aus Händlersicht, extrem langweiligen) Finanzmarkt führen.”
Nicht weniger radikal klingt sein Vorschlag, nicht weiter über eine Trennung von Geschäfts- und Investmentbanken zu debattieren, sondern Lizenzen für Investmentbanken zu versteigern. So könnte der Staat Geld einnehmen, um Schulden zu tilgen oder einen Sicherungsfonds für den Bankensektor aufzubauen. Zugleich stellte er mit Hilfe der Lizenzen sicher, dass kein Finanzinstitut zu groß werde.
Denn “wer ‘too big to fail’ ist, ist ‘too big anyway'.''
Je mehr Lizenzen man vergibt, umso kleiner ist die Marktmacht der einzelnen Investmentbanken.
Paradoxerweise liegt aber auch die Schwäche des Buches genau in diesen Lösungsvorschlägen. Denn der radikale Wechsel zum Besseren ist eben gerade deshalb bisher nicht eingetreten, weil es im globalen Finanzmarkt immer Akteure und Länder gab und gibt, die bewusst auf eine möglichst schnelle und große Geldvermehrung setzen – dabei Risiken auf andere übertragen.
Auch eine Versteigerung von Lizenzen ist kaum vorstellbar, weil sich nicht einmal alle der 20 großen Industrie- und Schwellenländer an einem solchen Verfahren beteiligen würden. Den Grund benennt der Wirtschaftswissenschaftler selbst, indem er bekennt:
“Ohne die Banken abschaffen zu wollen, wollen wir natürlich einen gewissen Teil des ‘Business-Modells’ zerstören.”
Der Hinweis, dass Frank Riedels Vorschläge nur schwer umzusetzen wären, schmälert aber nicht den Erkenntnisgewinn, der sich durch die Lektüre einstellt. Er immunisiert gegen Versprechen, mit denen Banker sich und ihren Kunden einreden, es gebe einen schnellen Profit ohne Risiko.

Frank Riedel: Die Schuld der Ökonomen. Was Mathematik und Ökonomie zur Krise beitrugen
Econ Verlag, Berlin 2013
208 Seiten, 19,99 Euro

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