Fetales Alkoholsyndrom

Folgen von Alkohol in der Schwangerschaft

07:04 Minuten
Eine schwangere Person hälft ein Weinglas in der Hand.
Auch geringe Mengen Alkohol während der Schwangerschaft können beim ungeborenen Kind Schäden verursachen. © imago / Panthermedia / Ivanna
Von Alexander Budde |
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Schon als Kind ist Tim auffällig, ihm fällt das Lernen schwer. Auch später hat er Probleme, sein Leben zu organisieren, muss ins Gefängnis. Erst mit Anfang 30 bekommt er die für sich wohl rettende Diagnose: Er hat das fetale Alkoholsyndrom (FASD).
„Hier sieht man, wie unglaublich klein der Tim ist.“
Tim Puffler und seine Adoptivmutter Monika Reidegeld blättern heute entspannt durch das Familienfotoalbum. Das war lange undenkbar. Der 1980 geborene Tim isst wenig, lernt spät laufen. Er ist nicht in der Lage, vorausschauend zu denken, Ordnung zu halten, theoretische Inhalte abzurufen. Als Jugendlicher quält Tim sich durch die Schule, bricht eine Ausbildung zur Altenpflege ab. Er hat kaum Freunde. Monika Reidegeld führt einen täglichen Kampf gegen das Chaos im Kopf ihres Sohnes. Ist sie zu fordernd? Rat sucht sie damals vor allem bei ihren Freundinnen.
„Die haben schon versucht, mich zu verstehen. Haben aber dann auch so ihre eigenen Söhne rangezogen. Das waren auch schon heftige Sachen, aber irgendwann haben dann die Söhne meiner Freundinnen auch so die Kurve gekriegt.“
Anders bei Tim Puffler.
„Ich war ja auch mal in ´ner Insolvenz und hatte auch sehr viele Schulden – und habe eher das alles so immer unterm Bett versteckt oder in Schubladen, wenn dann Briefe kamen.“

Der Wendepunkt in Tims Leben

2011 muss Tim ins Gefängnis, er hat eine Geldstrafe nicht bezahlt. Das wird zum Wendepunkt: Monika Reidegeld recherchiert erneut das Verhalten ihres Sohnes und wendet sich schließlich an den Neurologen Hans-Ludwig Spohr vom FASD-Zentrum Berlin.
„Als er dann zum Tim sagte, ich weiß, was du hast, Du hast ein fetales Alkoholsyndrom, ich habe das schon gesehen, als ihr reingekommen seid. Ich glaube, bis ins Ruhrgebiet hätte man den Stein fallen hören, der mir vom Herzen gefallen ist! Ich bin völlig erleichtert nach Hause gefahren, weil ich dachte, jetzt kann ich Hilfen beantragen.“
Tims leibliche Mutter hat während der Schwangerschaft Alkohol getrunken. Im dritten Schwangerschaftsdrittel entwickelt sich das Gehirn besonders schnell. Und die meisten Nervenfasern und Synapsen bilden sich. Alkohol wirkt auf die Zellen verheerend und ist damit eine häufige Ursache für angeborene Fehlbildungen, Entwicklungsstörungen und extreme Verhaltensauffälligkeiten.

Wenn das ungeborene Kind geschädigt wird

Die medizinische Forschung fasst alle Formen dieser vorgeburtlichen Schädigung unter dem Begriff „Fetal Alcohol Spectrum Disorder“ zusammen – kurz: FASD. Heike Hoff-Emden ist Fachärztin am Sozialpädiatrischen Zentrum Leipzig und Expertin auf dem Gebiet der Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit FASD.
„Eine frühe Diagnose ist wichtig, damit die Bezugspersonen wissen, was mit dem Kind los ist. Sie sind anders. Sie haben häufig Regulationsstörungen, also essen nicht, schlafen nicht, haben nicht richtig Stuhlgang oder nässen noch lange ein und verhalten sich anders als andere Kinder und entwickeln sich auch langsamer. Sodass es wichtig ist, zu erkennen, was hat das Kind. Und wichtig ist auch für die Bezugspersonen: Ich bin okay, aber mit dem Kind gibt es Probleme und ich muss mir Hilfe holen.“
Neusten Untersuchungen zufolge leben allein hierzulande rund 1,5 Millionen Menschen mit FASD. Und jede Stunde kommt ein Kind dazu. Kinder, die aufgrund ihrer vorgeburtlichen Exposition selbst ein hohes Risiko haben, später suchtkrank zu werden.
„Man geht davon aus, dass das sehr hohe Kosten verursacht. Die Amerikaner sprechen immer von Million Dollar Baby, also mit dem gesamten Verlust an Lebenszeit, an Therapien, an Unterbringung etc.“, sagt Heike Hoff-Emden.

Ein Buch für andere Betroffene

Die Symptome sind bei Menschen mit FASD unterschiedlich ausgeprägt. Es ist nicht zwangsläufig so, dass die Betroffenen aufgrund ihrer vorgeburtlichen Schädigung etwa einen niedrigen Intelligenzquotienten haben und Förderschulen besuchen. Denn viele körperliche Auffälligkeiten können sich auswachsen. Auch deshalb bleibt FASD unsichtbar. Das macht es schwierig. Für die Diagnose und den Umgang. Auch Tim Puffler muss gegen Ignoranz und Missverständnisse kämpfen: Alle halten ihn für faul, unverschämt, unwillig.
„Zum Beispiel gibt es da eine Episode im Buch ("Tim: Ein Leben mit dem Fetalen Alkoholsyndrom" Anm.d.R.), wie ich ihn zum Zivildienst gefahren habe. Da wollte er nicht hin, weil er total überfordert war, schon allein mit der Telefonanlage. Und ich wusste ja, was das für Konsequenzen hat, wenn er jetzt nicht mehr da hin geht. Ich habe ihn praktisch zwingen müssen, den Dienst wieder aufzunehmen. Ich habe schon gemerkt, der kriegt das nicht hin und der schafft das nicht – und ich habe das Gefühl gehabt, ich liefere ihn aus“, erzählt Monika Reidegeld.

Die Diagnose rettete wohl Tims Leben

Ohne die rettende Diagnose im Alter von fast 32 Jahren wäre Tim womöglich auf der Straße oder in der Psychiatrie gelandet – dieser Gedanke lässt Monika Reidegeld nicht los. Heute lebt ihr Sohn im betreuten Wohnen. Das stabile Umfeld tut ihm gut. Routinen schaffen eine Tagesstruktur. Ein gesetzlicher Betreuer überwacht sein Konto. Unterstützung, die der heute 42-Jährige nicht länger als Einmischung in seine inneren Angelegenheiten empfindet.
„Kommt da jetzt ein böser Brief oder muss ich irgendwas verheimlichen oder so – das gibt es gar nicht mehr! Ich habe jetzt so ein zweites Leben. Ich habe ein Leben vor der Diagnose, was nicht gut war – und seit der Diagnose. Das kann man gar nicht vergleichen.“
Noch ist der Übergang in ein Berufsleben eine zu hohe Hürde, in der Tagesstätte bei St. Georg in Gelsenkirchen spielt Tim Puffler jetzt aber Improvisationstheater. In diesem geschützten Raum, begleitet von einer Theaterpädagogin, hat er keine Angst, Fehler zu machen. Er genießt die Anerkennung, die ihm so lange verwehrt war.
„Und da sind mir echt die Gesichtszüge entglitten, weil ich dachte, das kann doch gar nicht sein! Der ist so souverän, der Tim! Als wenn er nie was anderes gemacht hätte! Er ist in diesem Ensemble und auch in der Tagesstätte wirklich tonangebend. Und mich als Mutter macht das natürlich stolz und glücklich. Mein Sohn soll zufrieden durchs Leben gehen!“
„Ein Glas schadet ja nicht!“ Das ist ein ebenso gängiger wie gefährlicher Irrglaube! Vor allem während der Schwangerschaft. Genau deshalb erzählen Monika Reidgeld und ihr Sohn Tim Puffler von den glücklichen Wendungen in ihren Leben – aber auch vom Leid, das sie anderen Menschen gerne ersparen wollen. Denn FASD ließe sich zu 100 Prozent vermeiden.

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