"Festivals müssen heutzutage auch immer mehr eingreifen"

Olivier Père im Gespräch mit Ulrike Timm · 04.08.2010
"Wir müssen auch helfen", sagt Olivier Père, neuer Leiter des Festivals in Locarno, und unterstreicht damit die wichtige Rolle von Festivals beim Aufbau junger Filmtalente. Festivals seien auch Orte, wo alle, die das Kino lieben, es gemeinsam feiern könnten.
Ulrike Timm: Das Filmfestival von Locarno im schweizerischen Tessin hat einen künstlerisch sehr guten Ruf, aber er ist doch leiser als der, den man etwa von Cannes kennt. Macht nichts – der Goldene Leopard, den man in Locarno vergibt, der muss sich ja nicht in direkte Konkurrenz begeben zur Goldenen Palme von Cannes. Oder etwa doch? In den nächsten Tagen wird man jedenfalls einiges hören von Filmen, deren Schöpfer bislang noch niemand kennt, denn auch für ganz neue Regisseure und Blicke aufs Kino steht dieses Filmfestival von Locarno.

Neuer Leiter ist Olivier Père, er hat die Filme ausgesucht und ist in den kommenden Tagen auch Herr über einen großen, wunderschönen Platz, eingerahmt von Häusern aus dem 19. Jahrhundert, die Piazza Grande. Da gibt es Freiluftkino. Guten Tag, bonjour, Monsieur Père!

Olivier Père: Bonjour!

Timm: Dieser Platz ist die nächsten Abende über proppenvoll.

Père: Nun, das hoffe ich doch, das ist ja das Ziel des Spiels, weil es geht uns ja hier einerseits natürlich um Qualität, aber natürlich auch um Originalität: Wir wollen anspruchsvolle Filme zeigen, aber Filme, die auch ein großes, ein breites Publikum erreichen. Denn das ist ja das, wo sich Locarno ein bisschen von den anderen traditionellen Festivals unterscheidet, das macht das Einmalige aus. Und dieser Ort hat ja etwas Magisches, etwas Zauberhaftes, dieser große Platz, und wir werden hauptsächlich Weltpremieren zeigen, sehr viel Genrekino, das reicht von Komödien bis hin zum Thriller.

Timm: Man konstruiert immer gerne so ein Gegensatzpaar: Locarno ist bedeutend, aber Cannes hat Sexappeal und Glamour. Und im gleichen Atemzug, mit dem man dann Locarno gelobt hat, heißt es immer: Na ja, aber Cannes ist einfach schicker. Ärgert Sie das?

Père: Ja, das ärgert mich schon ein bisschen, weil das macht so wenig Sinn, Festivals miteinander zu vergleichen. Locarno hat einfach den Ruf, ein sehr unabhängiges Festival zu sein, und natürlich gibt es bei uns auch den Traum und es gibt natürlich auch Glamour. Es ist ein junges, ein sehr aufregendes Festival und wir haben uns in diesem Jahr auch Mühe gegeben, sehr viele junge gerade Schauspieler und Schauspielerinnen hier einzuladen, und das Ganze wird eine große Party, denn es wird ein großes Kinofest. Und deswegen sage ich jetzt auch, dass Locarno wirklich auch sexy sein wird.

Und beispielsweise Chiara Mastroianni ist daran gewöhnt, auf den roten Teppich zu gehen, und sie wird mit einem Preis ausgezeichnet auf der Piazza Grande, aber es gibt auch andere, sehr junge Schauspieler wie beispielsweise Lou Garell, der hier bei uns sein wird, und deswegen ist Locarno weit davon entfernt, ein ganz spezialisiertes Festival zu sein oder irgendwie langweilig, sondern wir werden hier leben.

Timm: Sie haben sich mit einem merkwürdigen Satz vernehmen lassen: Wir müssen militanter werden. Was meinen Sie damit?

Père: Nun, damit meine ich keinen politischen Militantismus, sondern einen Kinomilitantismus, wie ich das nennen würde. Festivals müssen heutzutage auch immer mehr eingreifen und auch eine viel aktivere Rolle spielen, als das früher der Fall war, weil: Wir müssen auch helfen. Es ist einfach so, dass Festivals dann einen jungen Regisseur und auch einen Anfänger in Kontakt bringen mit Produzenten, mit Verleihern, mit Käufern, aber natürlich auch mit Journalisten, und da haben wir eine sehr viel aktivere Rolle zu spielen.

Und wenn man sich für einen Film entschieden hat, dann hat man das ja aus dem Herzen getan, dann will man diesen Film eben auch aktiv unterstützen, und diese Rolle müssen wir als Festival einfach auch mehr wahrnehmen. Da steht einfach auch der Aspekt im Vordergrund, dass man vor, während und auch nach dem Festival den einzelnen Film, den man ausgewählt hat, aktiver hilft.

Timm: Es sind ganz viele europäische Koproduktionen darunter, man könnte meinen, den französischen, italienischen oder deutschen Film, den gibt es alleine kaum noch, und es sind sehr viele Filme in diesem Jahr mit deutscher Beteiligung. Wie ist denn eigentlich Ihr Blick auf den deutschen Film – eigene Farbe oder im europäischen nahtlos aufgegangen?

Père: Ja, es ist so, dass es eine sehr starke europäische Präsenz in diesem Jahr gibt, und wirklich auch so, dass sehr viele deutsche Filme da sind, seien es Koproduktionen oder seien es einfach auch nur deutsche Produktionen, und ich habe sehr viele Filme gesehen aus Deutschland. Einige davon haben mir wirklich auch sehr, sehr gefallen und die werden in den verschiedensten Wettbewerben hier zu sehen sein, auch auf der Piazza Granda, zum Beispiel "Das letzte Schweigen" oder "Im Atem von Ellen" von Pierre Mare.

Aber ich kenne mich jetzt nicht so aus mit dem System der Koproduktion, die hat es natürlich immer gegeben im europäischen Kontext, aber es gibt ja auch Koproduktionen im lateinamerikanischen Raum oder im asiatischen Raum.

Was für mich mehr zählt, ist die Identität des Filmemachers, ist die kulturelle Spezifizität eines Werkes, und für mich ist die Nationalität eines Filmes ... hat eher damit was zu tun, welche Nationalität der Regisseur hat oder welche Sprache in dem Film gesprochen wird. Da geht es weniger um die Identität der Geldgeber, aus welchen Ländern sie dann auch stammen.

Timm: Deutschlandradio Kultur, das "Radiofeuilleton" im Gespräch mit dem neuen Leiter des internationalen Filmfestivals von Locarno, das heute beginnt. Olivier Père, über Ihren Namen, der sowohl "Vater" als auch "Gott" bedeutet, haben schon viele Kollegen gekalauert. Wir nehmen das mal als gutes Omen für die neue Aufgabe. Wir wollen Sie gern ein bisschen kennenlernen, Olivier Père. Woher rührt Ihre Kinoleidenschaft? Können Sie sich noch an Ihren allerersten Kinobesuch erinnern, als kleiner Junge vielleicht?

Père: Nun, es ist so, dass mich schon seit frühester Kindheit und auch in der Jugend das Kino auf eine fast irrationale Art und Weise angezogen hat. Das kam sehr unerwartet für meine Nächsten und auch für meine Familie, aber ich hab schon als Kind eben angefangen, sehr viel mich mit Filmen und Kino zu befassen, und es wurde dann eben später zu einer echten Leidenschaft.

Und ich habe dann auch sehr, sehr viel über das Kino gelesen und bin einfach auch sehr, sehr viel ins Kino gegangen, habe sehr viele Filme gesehen, habe dann auch die Geschichte des Kinos studiert, in der Cinémathèque française gearbeitet und hatte dann eben auch das Glück, aus dieser Leidenschaft auch eine professionelle Tätigkeit machen zu können. Das war einerseits Zufall, aber natürlich auch ein Glücksfall.

Und wie jedes Kind habe ich natürlich auch angefangen mit Filmen von Walt Disney beispielsweise, sah mir aber auch schon die Filmposter für Filme an, die für Erwachsene waren und fühlte mich da sehr angezogen. Und einen meiner größten Schocks im Kino habe ich erlebt mit 13 Jahren, als ich "Phantom of the Paradise" sah von Brian De Palma.

Timm: Kann man diese intensiven Gefühle, die man als ganz junger Mensch im Kino hatte, kann man die sich wirklich erhalten und fortsetzen und vielleicht sogar ins Kinoprogramm von Locarno mitnehmen?

Père: Na, das hoffe ich doch. Als Cinéphiler, als Filmbegeisterter gibt es ja zwei Möglichkeiten, die man hat, wie man mit Kino umgeht: Man kann es als eine Art Fetisch ansehen, auf eine sehr egoistische Art und Weise alles für sich behalten, oder aber – und das ist das wohl eher mein Fall – diese starken Emotionen, die man im Kino gehabt hat, versuchen zu teilen. Man teilt sie erst mit Bekannten, man teilt sie mit Leuten, die man kennt, oder man teilt sie auch mit Leuten, die man eben nicht kennt, wie zum Beispiel ein breiteres Publikum.

Und das ist eben auch die Arbeit, die Festivaldirektoren aber beispielsweise auch Filmkritiker und überhaupt Filmbegeisterte machen: Dass sie das, was sie begeistert, versuchen, mit so vielen Menschen wie möglich zu teilen. Und in diesem Jahr habe ich versucht, eine ganz breite Palette von Emotionen, die ich auch selbst im Kino oft empfinde, mit einzubringen in dieses Festival.

Es geht los mit eben Komödien von Ernst Lubitsch, der die komischsten und intelligentesten Komödien überhaupt je gemacht hat. Wir haben aber auch experimentelle Filme, wir haben sogar Horrorfilme. Also da ist ein breites Feld von verschiedensten Genres, die wir bedienen, und wichtig ist halt immer das Gefühl, was man im Kino hatte, zu teilen, einem großen Publikum mitzuteilen.

Timm: Wir sind heute ganz selbstverständlich umgeben von Internet, von DVDs. Kann das Kino da heute noch die Bedeutung haben, die es mal hatte, ich meine, dass wirklich eine ganze Stadt, ein ganzes Land in einen Film rennt? Das gibt es doch heute eigentlich nicht mehr.

Père: Es stimmt, dass sich in den vergangenen Jahren das Verhältnis des Kinos zu seinem Publikum doch sehr, sehr stark verändert hat. Im 20. Jahrhundert war Kino die populärste Kunstform, es war die populärste Form von Kunst, die Massen wirklich vereint hat, und im 21. Jahrhundert ist doch eine ganz starke Konkurrenz erwachsen. Es gibt andere Formen von Unterhaltung, es gibt andere visuelle Künste, die plötzlich da sind, und das Kino hat sich da auch verändert, gerade auch, was die technischen Möglichkeiten des Kinos angeht, aber auch was den Vertrieb des Kinos angeht und wie Kino heutzutage gezeigt wird. Ich würde behaupten, dass das Kino sich zwischen 1920, 1930 und 1990, also in dieser Zeitspanne von etwa 60, 70 Jahren, weniger verändert hat als in den letzten 20 Jahren zwischen 1990 und 2010.

Das Kino hat ein bisschen seinen Status verloren, es ist nicht mehr die populärste Kunst für ein Massenpublikum, aber das ist etwas, damit muss man leben, das ist einfach eine Entwicklung, die man irgendwo auch akzeptieren muss, und dafür hat sich jetzt eine neue Generation von Filmemachern eben auch herausgebildet, die Geschichten ganz anders erzählt und auch mit ganz anderen Mitteln erzählt.

Also ich sehe das jetzt nicht wirklich als ein so großes Problem an, aber es stimmt, dass es nur noch sehr selten Filme gibt, die ein Millionenpublikum oder auch Zigtausende ins Kino bringen, wie zum Beispiel "Avatar", das ist seltener geworden. Das stört mich jetzt nicht wirklich, aber ich finde es schon ein bisschen traurig, dass das Kino so einen gewissen Gemeinschaftsaspekt verloren hat, und deswegen ist es halt so, dass Festivals auch sehr, sehr viel wichtiger geworden sind, weil Festivals sind die Orte, wo sich alle, die das Kino lieben, praktisch wie eine eingeschworene Gemeinde noch einmal treffen und das Kino dann eben auch feiern können. Und deswegen würde ich jetzt sagen: Kino ist heutzutage – und Festivals tragen stark dazu bei – etwas, was für eine sehr große und sehr wichtige Minderheit gemacht wird.

Timm: Zwischen Kunst und Piazza Grande, heute beginnen die Filmfestspiele in Locarno. Ich sprach mit dem neuen Leiter, mit Olivier Père. Merci beaucoup!

Père: Merci beaucoup!
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