"Cannes ist die Abschussrampe für die amerikanischen Filme geworden"

Volker Schlöndorff im Gespräch mit Ulrike Timm · 12.05.2010
Die Internationalen Filmfestspiele in Cannes haben ihre Bedeutung als Festival für Filmemacher verloren, findet Regisseur Volker Schlöndorff. "Das ist jetzt kein Festival für Macher mehr, sondern das ist ein Riesen-Marketingunternehmen".
Ulrike Timm: "Alle wollen nach Cannes, sogar die Aschewolke" scherzte der Bürgermeister, hofft aber, dass der isländische Vulkan keinen Ärger macht und alle erwarteten Stars pünktlich zu den Filmfestspielen eintrudeln. Die Promenade ist einigermaßen wiederaufgeräumt, Sturm und Riesenwellen hatten ihr doch ziemlich zugesetzt und also kann es heute losgehen mit dem berühmten Filmfestival an der französischen Riviera.

Seit 1966, als er seinen Debütfilm "Der junge Törless" in Cannes vorstellte, ist Volker Schlöndorff immer wieder dabei – als Regisseur, als Juror, als Gast. 1979 erhielt er für seine Verfilmung der "Blechtrommel" nach Günter Grass die "Goldene Palme", und auch diesmal will er sich den Besuch nicht nehmen lassen, Wind und Wetter und Vulkan zum Trotz. Und wer vor über 40 Jahren mit einem alten VW über die Alpenpässe gebrettert ist, um in Cannes dabei zu sein, der kommt auch diesmal ganz bestimmt an. Schönen guten Morgen, Herr Schlöndorff!

Volker Schlöndorff: Ja, guten Morgen!

Timm: Herr Schlöndorff, trotzdem: So viele Jahre Cannes – vor 44 Jahren waren Sie zum ersten Mal da, haben es sich häufig nicht entgehen lassen. Ist das auch so was wie ein Pflichttermin, der gelegentlich ein bisschen öde sein kann?

Schlöndorff: Na, Pflicht eigentlich nicht. Erstens mal ist es eine Gelegenheit, immer wieder Freunde zu treffen, die man dann allmählich nur noch einmal im Jahr dort trifft, aus dem Ausland, aus Südamerika, aus Asien und wo die alle herkommen, die man früher mal gekannt hat. Und dann – ja, wenn man noch neue Projekte hat, dann ist es natürlich wichtig, dorthin zum Pitchen, wie das heißt, ... also, um die vorzustellen und um zu versuchen, Partner und Produzenten dafür zu finden.

Timm: Sie haben in diesem Jahr ein Projekt dort, das Sie pitchen wollen. Darüber wollen wir noch sprechen. Ich würde erst mal gerne wissen, wie sich das Festival über die Jahrzehnte verändert hat, atmosphärisch und inhaltlich.

Schlöndorff: Na ja, nicht so sehr. Das ist wie mit dem Altern, das geht nicht so allmählich, sondern dann passiert irgendwas und auf einmal ist man zehn Jahre älter. Und so ist es auch mit Cannes gewesen. Also, der erste Einschnitt war sicher 1968, als das Festival abgebrochen wurde durch Godard und Malle und Polanski und viele andere im Zeichen des Generalstreiks damals in Frankreich, und danach hat man ja das Festival umgekrempelt, dann wurde es geöffnet für die Jungen, dann wurde es geöffnet für ganz andere Filme, es wurde ein Parallelfestival – das Festival der Regisseure – eingerichtet. Und da wurde Cannes richtig lebendig dann für die nächsten 15, 20 Jahre, weil dann wurde es eben dieser Treffpunkt, wo auch der junge deutsche Film sich auf den Stufen der Palais Malmaison, so hieß das, immer getroffen hat, und man also stundenlang diskutierte und Wim Wenders mit seinem Bus vorfuhr und dann Fassbinder dazukam, Werner Herzog immer, und sehr, sehr lebendig war das.

Und dann kam irgendwann noch mal wieder so ein Einschnitt, wo das Festival dann gleich 20 Jahre älter wurde, würde ich mal sagen: in den 80er-Jahren, als man ja aus Verzweiflung auf einmal ganz auf die amerikanische Karte gesetzt hat. Neuer Festivalchef und Favre Le Bret ist abgetreten und nun war auf einmal ... ging alles nur noch um – sagen wir, wie heute um George Clooney –, um die jeweiligen Stars, und Cannes ist der große Filmmarkt und die Abschussrampe auch für die amerikanischen Filme geworden. Ja, damit hat natürlich ein Medienrummel eingesetzt, die freien Fernsehanstalten und -sender, die da also batterieweise aufgestellt sind – das ist jetzt kein Festival für Macher mehr, sondern das ist ein Riesen-Marketingunternehmen.

Timm: Das Wort "Abschussrampe" piekse ich mal auf: Es war ja mal ein künstlerischer Ritterschlag, nach Cannes zu fahren, fast eine Pilgerfahrt, dort seinen Film zu zeigen. Heute ist es mehr das Eintrittsbillet in den globalen Markt. Gibt es überhaupt noch was von dieser Atmosphäre des Rauchens, Redens, Trinkens und den großen Szenen, Strandbohémes, bei denen dann neue Filmideen wuchsen, oder ist es wirklich heute ein Handel mit Kinobesuch?

Schlöndorff: Da bin ich vielleicht die falsche Adresse, wahrscheinlich würde irgendein junger aufstrebender Regisseur das so beurteilen, dass er da tatsächlich noch Möglichkeiten hat. Ich bin da etwas skeptischer. Eigentlich ist der künstlerische Anspruch nur noch durch die Jury und die Auswahl der Filme, also im offiziellen Programm, das aber immer weniger an Bedeutung hat. Aber da sieht man dann ja auch dies Jahr wieder: Ken Loach, Mike Lee, Kitano, Abbas Kiarostami – also, da ist einfach das letzte, was es noch so an Filmkunstkultur gibt, versammelt in der Auswahl und in der Jury. Aber das eigentliche Festival läuft sozusagen neben dem offiziellen Programm.

Timm: Es ist ja auch nicht nur ein Festival, das zunehmend nach Hollywood guckt, sondern auch das Zuschauen hat sich ja verändert in den letzten 20, 30 Jahren. In den 1970ern hat man in Deutschland mit großer Selbstverständlichkeit viele französische Filme geschaut, in Frankreich italienische, in ganz Europa auch skandinavische. Das gibt es in dem Ausmaß nicht mehr. Wie kommt das eigentlich? Wir sind globaler denn je, und trotzdem ist die Neugier aufeinander ein bisschen weg.

Schlöndorff: Das ist das große Paradox. Speziell in Europa haben wir die Einheitswährung – noch –, und kulturell sind die Grenzen immer höher, die Mauern immer höher geworden. Diese Renationalisierung, man sieht das ja auch an den Fernsehprogrammen überall in Europa: Nur nationale Ware ist gefragt. Ich glaube, dass einfach die Menschen ein bisschen so erschrocken sind vor der Globalisierung, dass sie sich dann an das Hausgemachte klammern und sich plötzlich in Europa eben nicht mehr für die Filme der Nachbarn interessieren. Das ist überall, in allen Ländern so, kann man nicht filmpolitisch erklären, das ist ein Gesellschaftsphänomen.

Timm: Aber gerade so ein Festival könnte das doch wieder ankurbeln?

Schlöndorff: Deshalb sind ja die Festivals so wichtig. Nicht nur Cannes, sondern auch jedes kleine Festival in jeder europäischen Stadt – und die blühen ja überall – sind praktisch die einzigen Orte geworden, wo man noch ausländische Filme sehen kann. Und deshalb – egal ob das jetzt in Ludwigshafen oder in einer französischen Kleinstadt oder in Amiens oder ich weiß nicht wo, in Italien, in Bari ist: Diese Festivals sind auf einmal ganz, ganz wichtig geworden. Das ist der eigentliche Verteiler für europäische Filme. Und Cannes ist natürlich da das große Vorbild, und wenn die Filme dort gelaufen sind, dann tauchen sie auch kurz danach auf den Hunderten von kleinen Festivals auf.

Timm: Deutschlandradio Kultur, das "Radiofeuilleton", wir sprechen mit Volker Schlöndorff über die Filmfestspiele von Cannes, die heute beginnen und bei denen auch Volker Schlöndorffs berühmte "Blechtrommel"-Verfilmung nach Günter Grass noch einmal gezeigt wird, und zwar in einer Spezialversion, nämlich, wenn ich es richtig verstanden habe, im ursprünglichen Schnitt – Director's Cut heißt das – und das heißt: Der Film dauert eine halbe Stunde länger als die Fassung, die 1979 die "Goldene Palme" erhielt. Warum haben Sie denn damals ...

Schlöndorff: Dauert eine halbe Stunde länger, das klingt so ein bisschen erschreckend, aber in Wirklichkeit – nein, er ist einfach kompletter. Es ist übrigens nicht mal eine Urfassung, denn wir waren damals derartig unter Druck, dass wir ganz, ganz viele Sequenzen einfach eliminiert haben. Wir wussten: 2 Stunden 15, keine Minute länger, das war die Auflage des Verleihs, und als der Film dann so ein Erfolg war, hat man gesagt: Na ja, das wird schon seine Richtigkeit haben, lassen wir ihn so. Und erst, als jetzt das Material, das immer noch im Keller lag, entsorgt werden musste, habe ich letzten Sommer gesagt, das will ich mir doch mal anschauen, und habe entdeckt: Ja, da sind ganze Sequenzen, die auch eigentlich für das Verständnis des Films ganz wichtig sind, und die haben wir jetzt erst geschnitten, also, die waren nie bearbeitet worden. Das heißt: Wir mussten sie auch nachsynchronisieren zum Teil, mit Schauspielern, die inzwischen 30 Jahre älter waren.

Timm: Das heißt, man sieht dann sozusagen ein luxuriöses Abfallprodukt, weil Sie sonst die Filmrollen hätten entsorgen müssen?

Schlöndorff: Man kann auch auf dem Abfall Perlen finden. Also, mir gefällt der Film in der Form – und auch Günter Grass – sehr viel besser, weil er wirklich jetzt die Geschichte auserzählt. Da sind auch die Figuren, wie die von Mario Adorf, die fast unverständlich war, der da eine gewisse Revolte jetzt hat gegen die Nazis, als sein kleiner Sohn für die Euthanasie abgeholt werden soll; es gibt das Auftauchen eines Überlebenden aus Treblinka, der am Ende das Geschäft übernimmt, und das sind wirklich sehr, sehr schöne Sachen. Ich bin sehr froh, dass das drin ist.

Timm: Aber wie haben Sie denn nach 30 Jahren mit denselben Schauspielern das noch mal synchronisiert? David Bennent war damals ein Kind, ein Teenager, ist heute ein erwachsener Mann – wie soll das funktionieren?

Schlöndorff: David war der schwerste Fall.

Timm: Der Oskar Matzerath, der trommelt und nicht groß werden will.

Schlöndorff: Ja, David war der schwerste Fall. Also, Mario Adorf und Angela Winkler konnten mühelos einen jugendlichen Ton wiederfinden – ein guter Schauspieler kann ja so ein bisschen die Tonlage seiner Stimme verändern. Bei Katharina Thalbach war es unmöglich, aber die hat ... Ihre Tochter Anna Thalbach, die hat genau die junge Stimme, die sie damals hatte, also ist die Tochter für die Mutter eingesprungen. Und beim David mussten wir nun wirklich mit allen möglichen elektronischen und digitalen Mitteln seine Stimme dahin kriegen, dass er wieder der kindliche Oskar war – aber es ging.

Timm: Also eine Menge Kunst am Bau war trotzdem nötig, um dann diesen Director's Cut, diese Langfassung der "Blechtrommel" in Cannes zeigen zu dürfen. Volker Schlöndorff, der Regisseur freut sich darauf und fährt trotz zunehmender Kommerzialisierung, glaube ich, immer noch ganz gerne nach Cannes.

Schlöndorff: Ja, ich habe ja auch neue Projekte, die will ich da verkaufen.

Timm: Vielen Dank für das Gespräch und alles Gute!

Schlöndorff: Danke schön!