Fernando Aramburu: "Langsame Jahre"

Ungenießbare Kokosstückchen in der Franco-Ära

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Vieles in diesem Roman wirkt wie aus grauer Vorzeit, aus einem verschwundenen Milieu, dem der Arbeiterviertel San Sebastians.
Vieles in diesem Roman wirkt wie aus grauer Vorzeit, aus einem verschwundenen Milieu, dem der Arbeiterviertel San Sebastians. © Rowohlt Verlag/Deutschlandradio
Von Gerrit Bartels · 17.07.2019
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Haben Romane aus dem Ausland in Deutschland Erfolg, werden meist auch die Frühwerke der Autoren übersetzt. So ergeht es auch Fernando Aramburu, der mit "Patria" erfolgreich war. Gerrit Bartels hat einen älteren Roman des baskischen Autors gelesen.
Als Anfang 2018 Fernando Aramburus Roman "Patria" in Deutschland veröffentlicht wurde, war der Name dieses Autors kaum jemandem ein Begriff. Der 1959 im baskischen San Sebastian geborene Aramburu lebte zwar seit Mitte der achtziger Jahre in Hannover. Und sein Anfang der nuller Jahre erschienener Roman "Limonenfeuer" wurde ins Deutsche übersetzt.
"Patria" wiederum führte nach seinem Erscheinen 2016 über ein Jahr lang die spanischen Bestsellerlisten an und verkaufte sich 700.000 Mal. Dennoch: Hierzulande sorgte Aramburu für wenig Aufsehen. Erst nach und nach stieß "Patria", Aramburus dickleibiger, abwechslungsreich erzählter Familienroman über die Auswirkungen des Kampfes der baskischen Terrororganisation ETA auf positive Resonanz in Deutschland und wurde zu einem kleinen Bestseller.
Der deutsche Literaturmarkt ist bisweilen unergründlich, gerade was Bestseller aus benachbarten europäischen Ländern anbetrifft, mit ihren manchmal speziellen nationalen Stoffen. Oft lässt sich schwer vorhersehen, ob diese auch in Deutschland Erfolg haben. Wenn das der Fall ist wie bei Aramburu, wie bei der französischen Schriftstellerin Annie Ernaux oder auch bei Elena Ferrante, greifen die immer gleichen Mechanismen. Dann werden, sofern es nichts aktuell Neues der Autorinnen gibt, alte Bücher von ihnen neu oder erstmals übersetzt und veröffentlicht.

"Langsame Jahre" stammt aus dem Jahr 2012

"Años lentos" heißt der Roman von Fernando Aramburu, den der Rowohlt Verlag jetzt anderthalb Jahre nach "Patria" unter dem Titel "Langsame Jahre" veröffentlicht. Er ist von 2012 und erscheint erstmals auf deutsch. Vom Umfang her ist "Langsame Jahre" mit seinen 200 Seiten ein Gegenstück zu "Patria" – vom Stoff her erinnert er an eine erste Vorarbeit. Wieder geht es um eine Familie in San Sebastian und deren Verstrickungen in den Kampf der ETA, dieses Mal aber zu deren frühen Anfangszeit in den sechziger und frühen siebziger Jahren, als Spaniens Diktator Franco noch lebte.
Hauptfigur und Ich-Erzähler ist der achtjährige Txiki, der zu der Familie seiner Tante nach San Sebastian ziehen muss, weil seine Mutter es mit ihm und seinen zwei Brüdern allein nicht mehr schafft. Txiki berichtet einem gewissen Herrn Aramburu, eben jenem Schriftsteller, was er in den Jahren bei den Barriolas beobachtet und wie es ihm ergeht mit Tante Maripuy, Onkel Vicente, seiner Cousine Mari Nieve und seinem Cousin Julen. Vicente arbeitet in einer Seifenfabrik, Maripuy führt zuhause das Regiment, die Cousine wird 17-jährig schwanger, und Julen ist glühender Baske.
All das, was Aramburu seinen Helden – im Nachhinein aus einer kindlichen Perspektive – erzählen lässt, wirkt wie aus grauer Vorzeit, in schwarz-weiß getaucht, aus einem verschwundenen Milieu, nämlich dem der Arbeiterviertel San Sebastians. Über allem schwebt der Hass auf die Zentralregierung und die Sympathien für die ETA. Julen schließt sich ihr an, unter dem Einfluss eines Pfarrers. Er wird verhaftet, flüchtet nach Frankreich, kehrt anderthalb Jahre später zurück und wird fortan misstrauisch als Verräter in seinem Viertel beäugt.

Originelle Komposion überzeugt mehr als Sprache

Wie schon "Patria" besticht "Langsame Jahre" weniger durch seine Sprachmacht als seine originelle Komposition. Denn der Bericht von Txiki wird immer wieder unterbrochen von sogenannten Notaten, die sich der Schriftsteller macht, von eigentlich unausgearbeiteten, kurzen Szenenfragmenten, die jedoch die Lücken in der Erinnerung des Erzählers bildstark auffüllen. Beide formal so unterschiedlichen Teile ergänzen sich gut. Detailliert beschwört Aramburu das Ambiente der Zeit herauf, von den ungenießbaren Kokosstückchen, die Vicente von der Arbeit nach Haus bringt über das Einwickeln der Seifen durch die Familie bis zu den Radrennfahrerfiguren, mit denen Txiki spielt. Und psychologisch genau versteht er es, das Auseinanderbrechen der Familie Barriola zu schildern.
Am Ende spricht der Schriftsteller in einem letzten Notat davon, dass er gemerkt habe, wie diese Geschichte "flutscht". Wenn das so sei, gebe es für ihn beim Schreiben kein Zurück mehr. "Langsame Jahre", womit die lähmende späte Franco-Ära gemeint ist, flutscht aber nicht nur, sondern vermittelt Erkenntnisse aus einer Zeit, die noch gar nicht so lange zurückliegt. Gut, dass mit dem Erfolg von "Patria" jetzt das gesamte Werk von Fernando Aramburu nach und nach auf Deutsch erschlossen wird.

Fernando Aramburu: "Langsame Jahre"
Aus dem Spanischen von Willi Zurbrüggen
Rowohlt Verlag, Hamburg 2019
200 Seiten, 20 Euro

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