Russlands Kriegsgesellschaft

"Viele merken jetzt, dass sie für Putin sterben sollen"

10:36 Minuten
DIESES FOTO WIRD VON DER RUSSISCHEN STAATSAGENTUR TASS ZUR VERFÃGUNG GESTELLT. [MOSCOW, RUSSIA - SEPTEMBER 29, 2022: Mobilised men say goodbye to their families at a temporary mobilisation station set up at the VDNKh's pavilion No 46. On September 21, Russia's President Vladimir Putin signed a decree on a partial military mobilisation in Russia. The Russian Armed Forces are carrying out a special military operation in Ukraine in response to requests from the leaders of the Donetsk People's Republic and Lugansk People's Republic for help. Mikhail Metzel/TASS]
Angehörige verabschieden sich von russischen Soldaten, die sich aufgrund der Teilmobilmachung auf einen Kriegseinsatz vorbereiten (Hinweis: Dieses Foto wird von der russischen Staatsagentur Tass zur Verfügung gestellt). © picture alliance / dpa / TASS / Mikhail Metzel
Ilja Kalinin im Gespräch mit Vladimir Balzer · 29.09.2022
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Die Teilmobilmachung in Russland setzt einen Zusammenbruch des Kreml in Gang, prophezeit Kulturwissenschaftler Ilja Kalinin. Er spricht von einem Erwachen der russischen Gesellschaft, warnt aber auch vor der Macht und Brutalität des Putin-Regimes.
Zeitgleich mit der Erklärung des russischen Staatschefs Wladimir Putin am Freitagnachmittag, vier russisch kontrollierte Regionen in der Ukraine nach offenkundigen Scheinreferenden offiziell zu annektieren, eskaliert die Lage im eigenen Land. Nachdem der Kreml vor neun Tagen die Teilmobilmachung der Streitkräfte angekündigt hat, verließen tausende Russen fluchtartig ihre Heimat. Zuletzt schloss Finnland seine Grenze für russische Staatsbürger. Die Widerstandsbewegung von im Ausland lebenden Russen bekommt Zulauf.
"Der Krieg hat in dieser Phase ein neues Niveau erreicht", sagt der russische Kulturwissenschaftler Ilja Kalinin, der aktuell an der Universität Princeton im US-Bundesstaat New Jersey forscht und lebt. Die Drohungen gegen den Westen wegen der Unterstützung der Ukraine werden zu einer Bedrohung für das eigene Volk. "Es wird in Russland klar, dass man diesen Krieg einfach nicht mehr ignorieren kann", erklärt er weiter. Bis zuletzt hätten viele Russen das versucht und ihren Alltag weitergelebt. Das sei nun nicht mehr möglich.

"Putin-Regime ist brutaler und machtvoller"

Eine solche Teilmobilmachung habe es zuletzt 1941 im Zweiten Weltkrieg gegeben, fährt Kalinin fort. "Deswegen bewegt sich die russische Gesellschaft in eine außergewöhliche und sehr krisenhafte Situation", so der Kulturwissenschaftler. Er frage sich daher, wo die entschlossenen Antikriegsproteste bleiben, um die russische Gesellschaft aufzurütteln.

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Seine Antwort ist ebenso simpel wie logisch: "Die meisten Menschen haben einfach Angst." Vor mehr als zehn Jahren gab es bereits Demonstrationen gegen das Putin-Regime und für Reformen. Man habe aber nichts erreicht, sei geflohen oder verhaftet worden.
"Putin und sein Sicherheitsapparat sind sehr wohl auf Verhaftungen und auf zehn- oder hundertausende Menschen auf den Straßen vorbereitet", so Kalinin weiter. Die Sicherheitskräfte würden dafür ausreichen, um die Menschen in Schach zu halten, zu vertreiben und Proteste zu unterdrücken, sagt der Dozent und erinnert an Belarus, wo dies geschehen sei. "Das Putin-Regime ist deutlich brutaler und machtvoller", warnt er mit Blick auf den belarussichen Machthaber Alexander Lukaschenko.

Teilmobilsierung setzt Selbstzerstörung in Gang

"Die Opposition ist zerbrochen und entweder im Gefängnis oder im Ausland", berichtet Kalinin. Zudem mangele es an einer Koordination der Protestbewegungen: "Jeder rettet sich selbst in diesem Russland von heute." Dabei müsse der Frust und die Isolation, in die vor allem die junge russische Generation steuere, Energien freisetzen und einen Weg aufzeigen, beklagt Kalinin.
Er sieht die Teilmobilsierung als ersten Schritt zum Erwachen der russischen Gesellschaft und damit zum Zusammenbruch des Regimes unter Putin. Wann es soweit ist, könne der Kulturwissenschaftler allerdings nicht abschätzen. "Viele merken jetzt, dass sie für Putin sterben sollen. Das geht zu weit", sagt Kalinin. Viele Männer würden deshalb versuchen, das Land zu verlassen.
Kalinin betrachtet es daher mit Sorge und Unverständnis, dass Russlands Nachbarstaaten die Grenzübergänge schließen und Russen kein Asyl gewähren. Er appelliert an Europa: "Nehmt sie auf, es sind Flüchtlinge!" Es gehe um europäische Werte, für die die europäische Union auch stehe.
(lsc/AFP)
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