Favoriten-Festival in Dortmund

Die freie Theaterszene trumpft auf

05:56 Minuten
Swoosh Lieu - Everything but Solo.
Swoosh Lieu - Everything but Solo. © Favoriten-Festival / Jörg Baumann
Von Dorothea Marcus · 19.09.2020
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Die Künstlerinnen und Künstler des Favoriten-Theaterfestivals in Dortmund arbeiten wieder. Und Arbeit ist auch Thema des alle zwei Jahre stattfindenden Treffens: in all ihren Formen, darunter Arbeitsweisen, Verausgabung, Solidarität und Sorgearbeit.
Mit Mundschutz, Sporthosen und jeder Menge gute Laune machen sich die 16 Darsteller – schwarz, weiß, dick, dünn, groß und klein – in einem leer stehenden Ladenlokal in der Dortmunder Innenstadt vor der St.Petri-Kirche warm.
Goldknisternde Wärmedecken hängen an den Wänden, Papp-Buchstaben von der Decke: ORDNUNG – GEMEINSAM – HIRN – NOTWENDIG, Assoziationen zum Thema Arbeit, die in den Proben entstanden sind. Jeder hier ist in den drei letzten Wochen zufällig über die Schwelle gestolpert, jeder erhält hier seinen eigenen Kunst-Moment:
"Ich bin Tomek, bin aus Dortmund, bin neu dabei. Bin Lyriker und schreibe Texte… In der Kunst kommt man immer irgendwo an. Krieg ich dafür jetzt auch einen Vertrag?"
Nach dem Auftritt gibt es 50 Euro auf die Hand, und weiter geht es in einem fröhlichen, anarchischen Dilettanten-Abend, der sich zum Schluss in einem großen gemeinschaftlichen Tanz- und Musikrausch auflöst.

Arbeiten für die Kunst – und als Selbstermächtigung

Seit 2017 betreibt der Choreograf und Tänzer Thomas Lehmen das "Erste Oberhausener Arbeitslosenballett". Für das Favoriten-Festival hat er es nach Dortmund verlegt. Alle Darsteller haben vorgeführt, was sie wollten. Und das Beste: Die Kunst-Arbeit eines jeden wurde vergütet. Zum Schluss legt sich jeder triumphierend eine Goldfolie um, als Umhang, Röcke oder Fantasierüstungen umfunktioniert: ein schönes Bild dafür, dass Kunst für alle da ist, unabhängig vom Privilegienstand oder vermeintlichen Kriterien wie Qualität oder Marktwert – die so als neoliberale Behauptungen entlarvt werden.
Um Arbeit im Sinne von Selbstermächtigung geht es vielleicht auch bei dem grandiosen Lautgedicht "Metamorphose" des geborenen Kameruners David Guy Kono, der seit einigen Jahren in Dortmund lebt. Es ist die einzige echte Premiere der Favoriten, die ja vor allen Dingen alle zwei Jahre die spannendsten Produktionen aus NRW versammeln.
"Europa hat das große Glück, ein Kreuzungspunkt gewesen zu sein", sagt Kono. "Aber dann stelle ich die Frage: Hat die Kolonisation alle miteinander in Berührung gebracht?"
Im assoziativen Wortkonzert der je zwei schwarzen und weißen Darsteller, die steppen, musizieren, sprechen, uns auf eine lässig-entspannt-kraftvolle Gedankenreise mitnehmen, kommt von Geburtenkontrolle bis Kolonialismus vieles vor, verweigert sich aber der Deutung – und öffnet dafür andere Seinszustände und Horizonte. Auch strukturell ein wunderbares Beispiel dafür, dass ein Künstler im Exil seinen Platz in der Förderlandschaft von NRW einnehmen kann.

Das Verschwistern über Altersgrenzen hinweg als Utopie

Und dann gibt es da auch noch Antje Velsinger mit "Dreams in a Cloudy Space", einer zarten, sensiblen Arbeit über das Altern und die Beweglichkeit des Körpers. Auf der steril-weißen Bühne treffen sich eine alte und eine junge Tänzerin, 35 und 75 Jahre alt, stützen, ringen, helfen, spielen und springen mit dem Rollator. Auf dem Video erscheinen alte Damen im Rollstuhl mit Glitzerblusen und rosa Perücken.
"Kann ich mir nicht mehr so gut anhören, diese ganze Tüchtigkeit. Weil ich weiß, ich kann es nicht mitmachen", sagt eine. Wochenlang hat die Choreografin Antje Velsinger Interviews mit alten Damen geführt, über die Zukunft, die gefühlte Zerbrechlichkeit des Lebens und der Körper.
Sichtlich Spaß haben die Damen an ihrer Selbstinszenierung vor der Kamera – in Zeiten von Corona-Kontaktsperren erscheint das schon als ein politischer Akt. Und zugleich als ungemein kluger Kommentar auf eine Gesellschaft, in der selbst das Altwerden zu einem neoliberalen Konkurrenzkampf wird.
Am Ende ist das Verschwistern über alle Altersgrenzen hinweg eine tröstliche Utopie und löst sich auf im gemeinsamen Lachen – denn schließlich sind wir ja alle gefangen im gleichen Lebenskreislauf.

Das Thema Arbeit betrifft die Theaterschaffenden unmittelbar

Auf vielen verschiedenen Ebenen haben die Festivalmacherinnen Fanti Baum und Olivia Ebert das Leitmotiv der Arbeit also ausgelotet, sogar mit "Masallah Dortmund" ein kleines postmigrantisches Festival im Festival ermöglicht, kuratiert von Tunay Önder, Blog-Autorin des "Migrantenstadls".
Erfrischend ist in jedem Fall, dass bei den Favoriten nicht nur Corona das Thema ist – obwohl genau die freie Szene, die als erstes wieder aus dem Lockdown auftauchte, davon am meisten betroffen ist. Auch eine Definition von Arbeit, sagt auch Fanti Baum:
"Hart gesprochen, muss man sagen, dass jeder und jede, die hier arbeitet, selbst die Verantwortung trägt, weil er selbständig ist. Ein neoliberaler Effekt. Trotzdem sind wir froh, dass es stattfindet."
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