Fatma Aydemir: "Ellbogen"

Ein geklauter Lippenstift, dann stumpfe Gewalt

Farbenfroh ist die Fassade von Wohnhäusern Am Nordufer in Berlin-Wedding gestaltet.
Fassade von Wohnhäusern: Hazal und ihre Freundinnen langweilen sich im Wedding. © picture alliance / dpa / Jens Kalaene
Von Maike Albath · 01.02.2017
Zu Hause im Berliner Wedding spielt sie die brave Tochter, aber draußen lässt Hazel ihren Frust an irgendwelchen Leuten aus. Als sie einen jungen Mann vor die U-Bahn schubst, ist die nächste Station für sie Istanbul. Das Buch „Ellbogen“ von Fatma Aydemir ist kein cooles Metropolen-Panorama.
Es ist harter Stoff. Anders lässt sich das literarische Debüt der Journalistin Fatma Aydemir nicht umschreiben. Ihr rasant getakteter Roman Ellbogen, angesiedelt im Berliner Wedding unter türkischen Einwandererfamilien, dreht sich um junge Frauen, die zwischen Anpassung und rohem Aufbegehren schwanken. Die knapp achtzehnjährige Hazal, zugleich die Ich-Erzählerin der Geschichte, absolviert lustlos einen Kurs zur Berufsvorbereitung, jobbt bei ihrem Onkel in der Bäckerei, hängt mit ihren Freundinnen Elma, Gül und Ebru ab, schmachtet über Skype einen gewissen Mehmet in Istanbul an und will zu ihrem achtzehnten Geburtstag groß ausgehen. Allerdings ist sie ihre gesamte Barschaft bei einem Ladendetektiv losgeworden, der sie beim Klauen erwischt hat: Die Nummer des armen türkischen Mädchens hat er ihr immerhin abgenommen. Zuhause schlüpft Hazal in der Rolle der mehr oder weniger braven Tochter, kocht den Eltern Tee und zieht in Gedanken über den cholerischen Vater her, einen Taxifahrer, und über die unterwürfige Mutter.

Jeder wird verachtet

Der jüngere Bruder rutscht gerade in die Kleinkriminalität ab. Der einzige Lichtblick ist ihre Tante Semra, unverheiratet und Sozialarbeiterin von Beruf. Sie hat Verständnis für ihre Nichte und könnte eigentlich ein Vorbild sein. Aber Hazal und ihre Freundinnen wissen nicht recht, wer sie sind, was sie wollen und wo ihr Platz sein könnte; sie sind eher frustriert als tatsächlich böse. Eine Mitte-Tussi, die im falschen Moment kichert, wird schon mal der Arm umgedreht, und irgendwie gefällt das Hazal. Dass sie gemeinsam mit Gül und Elma eines Nachts einen jungen Mann zusammenschlägt und ihn dann allein vor die U-Bahn schubst, scheint nur folgerichtig. Die nächste Station ist Istanbul, und dort begreift Hazal gar nichts mehr.

Reaktionen der Heldin sind nicht immer schlüssig

Fatma Aydemir, Jahrgang 1986, lässt Hazal einen schnoddrigen Ton anschlagen, ihr Introspektionsvermögen ist eingeschränkt, wenn eine Situation kippt, regiert der Instinkt. Die Ich-Perspektive bietet der Autorin die Möglichkeit, die Gefühlswelt der Achtzehnjährigen direkt zu vermitteln, und da wird es spannend. Hazal steckt in einer tiefen Isolation. Die Mischung aus übermäßiger Kontrolle und Desinteresse ihrer entwurzelten Eltern führt bei ihr einerseits zu anfallartiger Gewalt, andererseits zu innerer Taubheit. Sie ist wie narkotisiert, Empathie kennt sie nicht, sie spaltet den Mord komplett ab. Ob der Ladendetektiv, das Mitte-Girl, der Student in der U-Bahn, jeder wird verachtet. Aber auch in Istanbul fehlen ihr die Parameter.
Die politischen Verhältnisse nach den Protesten im Gezi-Park bleiben erratisch; dass sie selbst kurdischer Herkunft ist, war ihr nie klar. Ellbogen hat ein paar handwerkliche Mängel: Die drei Teile fallen auseinander, die Reaktionen der Heldin sind nicht immer schlüssig. Aber es gibt immer wieder Momente, in denen man sich an Wolfgang Herrndorfs Tschick oder an Scherbenpark von Alina Bronsky erinnert fühlt. Ellbogen ist das Protokoll einer Verrohung, die Aydemir auf beinahe dokumentarische Weise nachzeichnet: mit einer harten Sprache, knappen Dialogen und starken Szenen. Kein Multikulti-Idyll, auch kein cooles Metropolen-Panorama, sondern eine Mischung aus Psychogramm und bedrängender Milieustudie, die es in sich hat.

Fatma Aydemir: Ellbogen
Carl Hanser Verlag, München 2017
270 Seiten, 20 Euro

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