Fassadenlyrik

Neues Gedicht ist ein "kruder Kompromiss"

Fotomontage: Das Gedicht von Barbara Köhler nach der Fassadensanierung an der ASH Berlin, es lautet "SIE BEWUNDERN SIE / BEZWEIFELN SIE ENTSCHEIDEN: / SIE WIRD ODER WERDEN GROSS / ODER KLEIN GESCHRIEBEN SO / STEHEN SIE VOR IHNEN / IN IHRER SPRACHE / WÜNSCHEN SIE IHNEN / BON DIA GOOD LUCK
Fotomontage: Das Gedicht von Barbara Köhler nach der Fassadensanierung an der ASH Berlin © ASH Berlin
André Hatting im Gespräch mit Max Oppel · 30.08.2018
Ein Gedicht der Lyrikerin Barbara Köhler soll künftig die Fassade der Berliner Alice Salomon Hochschule schmücken. Es löst das umstrittene Werk "avenidas" von Eugen Gomringer ab. Eine halbherzige Entscheidung, meint unser Lyrikexperte André Hatting.
Die Alice Salomon Hochschule in Berlin hat am heutigen Donnerstag bekanntgegeben, welches neu ausgewählte Gedicht ihre Südfassade zieren wird. Vorausgegangen war ein Streit über das Gedicht "avenidas" des bolivianisch-schweizerischen Schriftstellers Eugen Gomringer, das bisher auf der Fassade zu sehen ist.
Studierende hatten sich beschwert, das Gedicht sei sexistisch, da es ein altmodisches Frauenbild transportiere. Ergebnis eines langen Diskussionsprozesses: Die Fassade soll alle fünf Jahre neu gestaltet werden, jeweils mit einem Gedicht des Preisträgers des Poetikpreises der Hochschule.
Im vergangenen Jahr war das die Schriftstellerin, Übersetzerin und Lyrikerin Barbara Köhler. Ihr neues Gedicht:
SIE BEWUNDERN SIE
BEZWEIFELN SIE ENTSCHEIDEN:
SIE WIRD ODER WERDEN GROSS
ODER KLEIN GESCHRIEBEN SO
STEHEN SIE VOR IHNEN
IN IHRER SPRACHE
WÜNSCHEN SIE IHNEN
BON DIA GOOD LUCK
"Für mich ist es eine kleine grammatische Meditation", sagt unser Lyrikspezialist André Hatting. Barbara Köhler spiele da mit dem Personalpronomen "sie", das in dem Gedicht verschiedene Bedeutungen haben könne. Es gebe dabei auch einen Bezug zur Genderdiskussion im Zusammenhang mit Eugen Gomringer.
Auch das Ende des Gedichts sei ein "großes Schillern zwischen den Bedeutungen", diesmal zwischen den Sprachen: Eugen Gomringers Gedicht ist auf Spanisch verfasst, Barbara Köhlers endet u.a. mit dem katalanischen "Bon dia".

"Weder Fisch noch Fleisch"

Die 1959 in Sachsen geborene Barbara Köhler sei "eine gemäßigte Moderne, die sehr breit aufgestellt ist", so Hatting. Eine konkrete Lyrikerin wie Gomringer sei sie nicht. Außerdem in dem Zusammenhang besonders wichtig, so Hatting:
"Sie ist eine gemäßigte Feministin. Denn sie versucht in ihrer Arbeit immer auch, die weiblichen Perspektiven darzustellen - in Denken und Grammatik, wie sie selbst formuliert. Und auch das Verschwinden."
Insofern sei sie eine passende Kandidatin für das erste Gedicht nach Gomringers "avenidas" an der Fassade der Hochschule.
Die Entscheidung der Hochschule sieht Hatting hingegen sehr kritisch: "Ich finde, das Gedicht ist ein kruder Kompromiss."
Köhler überschreibe das Gomringer-Gedicht ganz bewusst, manche Buchstaben schimmerten noch durch, so Hatting. Sie wolle das Gedicht aufnehmen, nicht auslöschen.
Er finde das halbherzig, so Hatting. "Das ist weder Fisch noch Fleisch, es ist irgendwo dazwischen."
Und weiter:
"Sie versucht einen thematischen Ausgleich: Ja, es gibt das Genus in der deutschen Sprachen, ja, irgendwie auch diesen Gender-Diskurs, ich baue das ein, gehe aber darüber hinaus. Und am Ende blinzelt dann so eine Art Insider-Humor aus den Zeilen - also ich nehme Katalanisch statt Spanisch."
(abr)
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