Familienkonflikte

Geschichten vom Loslassen

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Eine nachdenkliche Frau am Meer © Artem Kovalev / unsplash.com
Von Margarete Groschupf |
Wenn sich Familienkonflikte nicht lösen lassen, bleibt noch die Möglichkeit, sich ganz zu trennen. Die "Lange Nacht" porträtiert Menschen, die genau das getan haben.
Es geht um schmerzhafte und anstrengende innere Prozesse und um den äußeren Schritt des Sichtrennens. Danach allerdings winkt die Freiheit, man selbst zu sein und die Chance, radikal künstlerisch zu arbeiten.
Diego stammt aus einer Militärdynastie in Ecuador, er malt in Berlin die Vulkanlandschaft seiner Heimat. Michela will nicht schizophren werden, rettet sich aus Italien nach Wien, als Malerin bricht sie aus. Die Mutter liegt tablettensüchtig im Bett. Und nach dem Tod der Mutter sieht alles noch einmal anders aus.
Bridge verzeiht ihrem jüdischen Vater die Verstörtheit, ihren Brief liest er vor seinem Tod nicht. Sie wird Puppenspielerin und strippt, ist heute Performerin. Marianne entdeckt Kriminalität, seit sie klar denken kann. Missbrauch und Schläge, all die Jahre steht sie unter Schock, heute trifft sie ihre vier Kinder nicht mehr. Martin versteht das merkwürdige Verhalten seiner Mutter Alice ihm gegenüber als Wiederholungsspiel ihrer Verfolgung als Jüdin in Polen, er macht eine LSD-Therapie und fühlt sich heute ebenbürtig. Christians Stiefvater war ein typischer Zwangsneurotiker, aber diese Art von Abschied war dann doch hart.
Eine Lange Nacht über Lebenswege, auf denen sich Aufbegehren und Verzweiflung, Hoffnung und Ernüchterung immer wieder begegnen.

Sich selbst in Sicherheit bringen

Es gibt Menschen, mit denen man nicht sprechen kann. Es gab eine Zeit in Deutschland, in der Gewalt der Umgangston war zwischen den Menschen und auch zwischen den Nationen.
Nun kann Gewalt aber sehr viele Gesichter haben, äußerst unterschiedliche Kleider tragen. Verschiedene Aspekte haben, sich offensichtlich oder subtil darstellen. Wird man deshalb besser mit einander reden können? Ein kleiner Schritt, eine fließende Grenze verläuft zwischen Bosheit und Krankheit, zwischen Egozentrik und Wahn.
Wie will man sich retten, wenn man in eine Familie geboren wurde, in der ein Tyrann den Ton angibt? In der das Familienoberhaupt einfach spinnt? Auf einem Trip ist, wo ihm niemand folgen kann? Es gibt Menschen, die einfach Unterwerfung fordern. Die so viel Angst auslösen, dass sie jeden manipulieren, zu tun was sie brauchen.
Wir finden die Schleichwege des Psychoterrors in Familien, in Gesellschaften, es kann eine Lebensaufgabe sein, den Code zu entschlüsseln, sich selbst in Sicherheit zu bringen. Auch wenn die Verständigung niemals stattfindet, ist der Abschied dann ein einseitiger, innerlicher Prozess.

Interviewpartner zufällig kennen gelernt

Wir hatten dasselbe Thema, Eltern aus der Nazi-Generation. Mit der Puppenspielerin Bridge Markland saß ich eines Tages in einem Restaurant nach einer Lesung der Autorin Elke Heinemann, Anlass war ein Text über Franz Kafka. Das Vater-Problem hatten wir alle drei. Bridge Markland erzählte ihre Geschichte, vier Jahre später bat ich sie zum Interview. Ihrem Vater, der eines Tages einfach aufhörte, mit ihr zu sprechen, möchte man die abgedrehte Handlung nicht übel nehmen, wenn man erfährt, dass seine Mutter bei seiner Geburt starb – das Leben zieht lange Schleifen von Ursache und Wirkung. Und doch ist es für eine Tochter eine existenzielle Arbeit, diese Demütigung zu überwinden.
Mit Diego Gortaire organisierte ich Lyrik-Lesungen und eine Ausstellung. Die Geschichte, die hinter ihm steht, ahnte ich nicht. Ich hörte es munkeln - auf dem Markt, wo wir beide eine Zeitlang arbeiteten, machten die Kollegen Andeutungen. Die direkten Fakten haben mich umgehauen: seine Familie ist unmittelbar Teil der Militärregierung in Ecuador, der Name für jedermann im Land Hinweis genug. So lebt er denn in Berlin, irgendwo muss er ja bleiben. Manchmal kann man nur weggehen. Hier heißt das Stichwort "Loslassen" - um einen jahrelangen, Jahrzehnte dauernden Psychokrieg zu vermeiden.

In einem anderen Leben

Während ich die Interviewpartner für diese Sendung suchte, las ich eine Neuerscheinung, ein autobiografisch angekündigtes Buch des Schweizer Schriftstellers Linus Reichlin zu meinem Identitätsthema: "In einem anderen Leben", erschienen 2015 im Galiani Verlag Berlin.
Reichlin denkt in kindlicher Logik über seine Eltern nach. Die Mutter war nach einem Unfall querschnittsgelähmt, der Vater, seit der Sohn denken kann, alkoholsüchtig. Der Autor schildert schließlich, wie das emotionale Muster der Familie ihn und seine Beziehungen bis zu Wiederholungshandlungen prägte. Linus Reichlin formuliert die Basics, die elementaren Bausteine der eigenen Entstehung. Im Anfang gab es zwei Menschen, die sich trafen. Vielleicht gibt es dabei keine Zufälle.
"Man muss ja seine Eltern erst einmal kennenlernen. Sie sind zwar von Anbeginn an da, aber was weiß man schon über sie, wenn man klein ist? Wenn man Glück hat, braucht man als kleines Kind nichts über sie zu wissen. Man fühlt sich dann einfach wohl, ohne etwas über sie zu wissen, fühlt sich geliebt, aufgehoben und dergleichen. Manche Leute, wenn sie Pech haben, verbringen ein Leben damit, ihre Eltern kennenzulernen. Es ist ein Prozess, der nicht immer zu einem Ende kommt." (Linus Reichlin)

Linus Reichlin: "In einem anderen Leben"
Kiepenheuer&Witsch 2016

"Als er noch ein Kind war, kamen ihm seine Eltern oft wie Richard Burton und Liz Taylor vor. Sie waren das schillernde Paar in einer spießigen Umgebung: schön, erfolgreich, voller Leidenschaft – und ständig flogen die Teller durch die Luft. Der Ehekrieg tobte, bis ein tragischer Unfall ihm ein Ende setzte. Und mittendrin: er, Luis.
Zwanzig Jahre später, Luis lebt schon lange in einem anderen Land und einem anderen Leben, lässt ein Zufall die Erinnerung an seine Jugendjahre wieder auf leben: In einer Berliner Galerie sieht er das von ihm gefälschte Gemälde, das auf fatale Weise mit dem Tod seiner Mutter verknüpft war.
Luis, ein Meister der Verdrängung, hatte damals alle Familienbande radikal gekappt. Sein Vater war eine Enttäuschung, einer, der sich am Whiskyglas festhielt und von der Bärenjagd träumte. Die unerwartete Wiederbegegnung mit dem Gemälde wirkt wie ein Wink des Schicksals, sich endlich der Vergangenheit zu stellen, die ihn, seine Beziehungen und vor allem ihr Scheitern, stärker bestimmt, als er sich eingestehen will. Und so beginnt für Luis eine Erinnerungsreise zu seinen Anfängen, zu seinen drei wichtigen Beziehungen und seinen Versuchen, den richtigen Rhythmus für sich in der Welt zu finden. Eine Reise, an deren Ende er – vielleicht – den richtigen Takt finden wird."

Bridge Markland, Performerin in Berlin

Bridge Markland, Jahrgang 61, lebt in Berlin. Als Puppenspielerin bereist sie Deutschland und die USA:
Bridge Markland: "Ich habe in diesem Brief einfach so über mein Leben erzählt und einfach nur geplaudert und über mich berichtet. Ja, das war toll, dass ich das überhaupt geschafft habe, weil mein Verhältnis zu meinem Vater so angespannt war über 20 Jahre lang, in denen er nicht mit mir redete. Und er hat ja einfach aufgehört, mit mir zu kommunizieren, ohne dass zu dem Zeitpunkt irgendwas passiert war, es kam irgendwie so von heute auf morgen. Und das ist besonders irritierend. Wenn man sich verzankt hätte, weißt du wenigstens, was Sache ist, aber so wusste ich nie, warum der nicht mit mir redete. Und dass ich dann einfach geschafft habe, so locker zu plaudern, war irgendwie was Besonderes. Immerhin ist bei mir während seiner schweren Krankheit was passiert, dass sich bei mir was gelockert hat, was gelöst hat.
Als der Brief ankam, hat meine Mutter sich total gefreut, und er ist irgendwie ins Koma gefallen sowieso, und sie hat ihm dann, als er im Koma lag, den Brief vorgelesen, und über Nacht ist er gestorben. Und dann hat sie diesen Brief ihm dazu gegeben, und er ist mit ihm verbrannt worden. Das war echt so eine symbolische Bedeutung.

Diego Gortaire, Lyriker und Maler in Berlin

Diego Gortaire, Jahrgang 1967, stammt aus Ecuador. Er lebt seit vielen Jahren in Berlin, schreibt Lyrik und malt:
"Aber ich, mit ungefähr 20 Jahren, ich habe mein Haus, mein Zuhause, verlassen. Weil, das war ganz wichtig für mich in dieser Richtung meine Freiheit zu haben. Und nicht diesen Druck, du musst studieren und so, und du musst ein Zertifikat haben. Das war meine Entscheidung. Mein Vater war schon weg, ein paar Jahre vorher. Getrennt. Meine Familie in der Geschichte immer hatte eine Beziehung mit der Macht. Immer war es präsent auch mit dem Namen. Der Name war ganz wichtig.
Und Ecuador ist ein kleines Land, wo die Namen sind wichtig, immer noch. Die sind dabei in dieser schrecklichen Sache nur wegen dem Namen. Das sind so klassische Familien, und der Name bestimmt viele Sachen. Ich hatte einen Onkel, er war Gouvernador in einer Provinz, und er hat regelrecht Sachen gemacht. Und diese Provinz, die Leute vergessen nicht den Namen. Und ich kann nicht z.B. einfach eine Ausstellung machen, weil alle Leute fragen mich, wer ist dieser Mann? Und das ist schlecht.
Mein Vater lebt, meine Mutter lebt. Ich besuche fast alle vier Jahre mein Land. Und jedes Mal wegen Ausstellungen. Es ist nie genau wegen meiner Familie, das ist die Sache. Ich liebe Kontakte, aber ich glaube, jede Person macht seine Sachen oder baut sein Leben. Mit meiner Mutter, ich hatte immer eine gute Beziehung. Auch mit meinem Vater, mein Vater ist wie ein Freund. Aber ich glaube, wegen dieser Situation, was er hat gelebt, er wollte nicht mit seinen Kindern diese Situation wiederholen. Sein Leben war total anderes als unser Leben. Und es war relativ - sehr ruhig mit uns. Und er hatte fast nie diese Situationen erzählt. Ich musste ihn ungefähr fragen, und dann, ich habe untersucht, diese Situation.

Das war wichtig, weil ich habe einen Onkel, er war Colonel, er ist gestorben vor ein paar Jahren, er war der Gouvernador von dieser Provinz, und ich habe ihn kennen gelernt als Kind und später mit ungefähr 14 Jahren, war ich das erste Mal direkt mit ihm und sofort hatten wir Probleme. "Du bist Kommunist und ich hasse diese!" Ich war 14 Jahre, und es gab eine Hochzeit von meiner Cousine, (Cousine oder Cousin, ich erinnere mich nicht so gut), und sofort hatten wir Probleme. Diese Autorität, immer. Vor der Nase von meinem Vater. In diesem Moment habe ich gesagt, okay tschüs, wir machen nichts hier. Das ist interessant, weil man kann nicht eine Beziehung haben zu …, ist egal, ob Familie ist oder nicht. Einfach so. Und die beiden Söhne von ihm, einer ist gestorben vor ein oder zwei Jahren in einem Unfall, Hubschrauber-Unfall mit der Ministerin. Er war dabei in diesem Hubschrauber. Und wenn ich keinen Fehler mache, ist ein Kommandant oder General in Ecuador auch mein Cousin, Sohn von diesem Colonel, mein Onkel. Ich habe keine Beziehung mit meinem Cousin. Und das ist die Situation."
TRAGÖDIE von Diego Gortaire:
Ein Lichtstrahl fällt durchs Fenster
dennoch erlaubt er nicht zu sehen
wo die Ketten geboren werden.

Martin Miller, Sohn der Psychoanalytikerin und Autorin Alice Miller

Martin Miller, Jahrgang 1950, ist Spezialist, er ist Therapeut in der Schweiz und er ist Betroffener von einem sehr prominenten Missbrauch. Er schrieb ein Buch über seine Mutter Alice Miller, die wiederum Spezialistin der Psychoanalyse für die subtilen Machtmethoden von Eltern ihren Kindern gegenüber als Autorin war. Menschen haben viele Seiten – der Sohn kann sehr wohl die theoretischen Verdienste seiner Mutter anerkennen, wenn er auch ihr tatsächliches Verhalten ihm als Sohn gegenüber nie verzeihen konnte. Aber er erklärt, warum. Er hat sich frei geschwommen.
Und er nimmt in seinen allgemeinen Ausführungen meine andere Gesprächspartnerin, Marianne Hansen, unter die Fittiche, deren Leid ungefiltert chaotisch aus ihr heraus bricht. Sie wuchs im Randbereich der bürgerlichen Gesellschaft auf, wo die Struktur zerfällt, wo jede Form von Missbrauch und Verbrechen frei wuchert. Sie erzählt fröhlich, eine tiefe Lebenskraft sitzt ihr in den Knochen, ein Schalk und eine Warmherzigkeit, die ihr angeboren sind. Sie hat aber ihre Angstzustände Jahrzehnte nach den Gewaltexzessen nicht bändigen können und starb im Frühjahr 2016, vielleicht am Herzschlag aus Angst, an Wahnvorstellungen. Schließlich traute sie niemandem mehr.

Martin Miller: "Das wahre 'Drama des begabten Kindes'" - Die Tragödie Alice Millers
Kreuz Verlag 2013

Im Schatten des Krieges

Alice Miller (1923 - 2010), die weltberühmte Kindheitsforscherin und Bestsellerautorin, unermüdliche Streiterin für die Rechte der Kinder, litt unter einer nie bearbeiteten Kriegstraumatisierung, wie sie in vielen Familien nach 1945 gewirkt hat. Ihr Sohn Martin Miller (geboren 1950) erzählt erstmals die tragische Lebensgeschichte seiner polnisch-jüdischen Mutter, die dem Getto von Piotrków entkam und nach dem Krieg in der Schweiz ein neues Leben begann. Sein Ringen darum, die Mutter zu verstehen, ist auch ein Lehrstück über die destruktive Kraft der Verdrängung und den Mut, sie zu überwinden.
"Es war nicht schön, der Sohn Alice Millers zu sein. Im Gegenteil. Und trotzdem war meine Mutter eine große Kindheitsforscherin. In diesem Buch versuche ich nun, diese beiden Welten in einen Zusammenhang zu bringen. Für meine Mutter war die Abspaltung offenbar die einzige Möglichkeit, für sich ein Stück Lebensqualität nach dem Kriege zu erlangen. Und Ihr Kampf ist trotz allem ein ermutigendes Beispiel dafür, sich nicht aufzugeben, was immer einem zustößt. Andererseits zeigt ihr Beispiel auf erschreckende Weise, was geschehen kann, wenn schwere Traumatisierungen - wie Krieg, Verfolgung oder andere Gewalterfahrungen sie nach sich ziehen können - nicht aufgearbeitet werden. "(Martin Miller)
"Das Buch ist erschütternd und ganz und gar gelungen in seiner klugen Einfühlung in die Protagonistin!" (Dr. Kathrin Meier-Rust, NZZ am Sonntag)

Marianne Hansen, Raumpflegerin in Schleswig-Holstein

Marianne Hansen also, Jahrgang 54, lebte und arbeitete in Schleswig-Holstein als Raumpflegerin. Ihre Mutter war Prostituierte. Zu ihrem leiblichen Vater wurde sie gegen ihren Willen nach einem Kinderheim-Aufenthalt mit 14 Jahren gebracht.
"Also, der Vater, wo du hinkamst, und die Stiefmutter und die Schwiegermutter, das war ja alles ein Kreis und eine Bande, und die glaubten nicht an Marianne. Für Marianne, das stand vom zweiten Lebensjahr fest, hat er so das Bild aufgebaut, die ist genau wie ihre Mutter – ohne dass er irgendeine Verbindung hatte. Ich hatte überhaupt keinen Kontakt mit ihm, er war völlig fremd. Aber er hat ein Gesamtbild, ein schlechtes Bild von mir überall hingestellt. Und du kamst da mit 14, 15 Jahren an und für sie stand es völlig fest, das ist ein schlechter Kern, das muss raus und ich durfte mein eigenes Ich nicht tragen. Die wollten das nicht sehen. Ich hatte mich ja immer bemüht, immer alles gemacht, was sie wollten und wenn es richtig war, war es trotzdem für sie falsch. Warum? Sie wollten das Gute in Marianne nicht sehen."

Christian Sturm, Produktdesigner in Potsdam

Christian Sturm, Jahrgang 79, lebt in Potsdam und studiert Produktdesign. Er stammt aus Mecklenburg-Vorpommern.
"Ja, ich habe mich gewehrt. Irgendwann ging es dahin, dass ich wirklich unterhalb der Gürtellinie geantwortet habe. Wenn er gesagt hat: "Du bist doch Scheiße, was du machst, ist Scheiße”, habe ich geantwortet: "Und du bist ein Idiot. Einfach nur ein Idiot.” Es war ja nichts anderes als – da schubst dich einer und du schubst einfach nur noch zurück.
Ich kann mich erinnern an eine Situation: Ich und mein Bruder hatten ein Zimmer zusammen, das war eh schon nicht gut, weil ich hatte früher ein Zimmer alleine, das war sozusagen ein Rückschritt – ich war 17, ich habe in der Partyszene ein ganz anderes Leben geführt als mein Bruder, der nur in seinem Bett rumgelegen hat. Egal, ich hatte ein Zimmer mit dem und nicht die zwei anderen, die viel besser zusammen gepasst hätten, hatten eins zusammen. Ich hatte mit ihm ausgemacht, dass ich in die Nische gehe und er das Bett am Fenster nimmt, das war für ihn okay.
Und dann kam mein Stiefvater an und hat gesagt: "Das ist doch nicht gerecht, wenn Du deinem Bruder das Bett weg nimmst, das machst Du nicht!” Habe ich gesagt: "Das mache ich wohl.” Da habe ich mein Zeug rüber gezogen, und er hat es wieder zurück gezogen. Wieder rüber gezogen, und dann ist das so ausgeartet, dass der anfing, mich zu schubsen, und dann habe ich ihn geschubst, und dann ging das soweit, dass dann irgendwann ein Schrank umgekippt ist und eine Glasscheibe zersplittert ist in das ganze Zimmer rein. Das ganze Zimmer ein einziges Chaos, überall Glasscherben und Schrankinhalt. Der hatte schon Herzprobleme, der hätte dabei drauf gehen können. Der hat sich tierisch aufgeregt innerlich.
Die Situation ist einfach stellvertretend dafür, dass ich irgendwann so weit war zu sagen, ich lasse mich nicht schubsen, ich stehe jetzt hier, und hier bleibe ich stehen. Emotional und körperlich, es gab dann nicht mehr viele körperliche Auseinandersetzungen."

Michela Ghisetti, Malerin in Wien

Die aus Italien stammende Malerin Michela Ghisetti, Jahrgang 66, lebt heute in Wien.
"Es ist so, wie wenn Du sitzt vor zwei Fernsehen, und du schaust zwei Programme an, und ein Programm ist langweilig und schwer. Und in dem anderen Programm läuft was Nettes, was dich komplett anzieht. Links ist das Programm, wo meine Kinder gewesen sind, rechts das Programm, wo meine Eltern waren. Kinder zu haben hat mich komplett von meinen Eltern weggenommen. Wie die erste Tochter gekommen ist, war diese Sehnsucht, Großeltern zu haben, sie einzubeziehen. Aber das war okay, das war nicht tragisch. Sie waren sicher zum Schluss ganz traurige Großeltern. Weil ihnen verboten wurde der Kontakt zu Kindern und Enkelkindern, das weiß ich schon."

Minka Zimmermann, Weberin

Die 101 jährige Weberin Minka Zimmermann hat sich einen entschieden klaren Blick zu eigen gemacht:
"Man kann loslassen – Dinge, die zum täglichen Leben hinderlich sind, die sollte man loslassen. Und das merkt man manchmal gar nicht, dass man sie nicht mehr braucht. Man hat einen Rest, den muss man immer behalten, man darf nicht restlos sich verausgaben. Oder heute möchte ich singen – das kann man nur, wenn man nicht so sich belastet.
Wegschmeißen ist ein Wort, ist eigentlich ein bisschen zu gewöhnlich dafür. Aber wegschmeißen ist sich abwenden von Dingen, die auf die Dauer einem auch schädlich sind. Dass man sich frei macht immer und locker bleibt. Und sich freuen können! Und alles, was einen belastet, nimmt mir die Freude am Leben weg! Und die Freude am Leben ist doch etwas sehr Schönes! Wenn die Sonne scheint, das Wetter ist schön, die Freunde sind lieb, alles ist so viel Positives...
Loslassen ist etwas vorsichtig ausgedrückt, sich trennen von Dingen, dass man nicht unbedingt wegschmeißen muss, aber sich langsam trennen von Menschen, von Kleidung – von allem muss man sich langsam trennen können. Ja, die Trauer, geliebte Menschen zu verlieren. Die Trauer ist etwas sehr trauriges, das muss man leider. Etwas Negatives muss man nicht unbedingt als negativ sehen, vielleicht sollte man es erkennen, dass es gar nicht negativ ist. Da wird man eine Erfahrung machen, zu der man sonst nicht vielleicht die Gelegenheit hat, die gar nicht gewollt war, die einen überrascht, und mit einem Mal merkt man, dass es positive Wirkungen hat. Hat man vielleicht gar nicht wirklich wahrgenommen. Auch negative Dinge können einen bereichern! Das muss man mal erkennen können."
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