Familiengeschichte

Reise in die Vergangenheit

Von Jörg Magenau |
Melitta Breznik lässt in ihrem neuen Roman neben Margarethe auch deren verstorbenen Mann Max und Tochter Lena zu Wort kommen. In wechselnder Ich-Perspektive schickt die österreichische Autorin die beiden Frauen aufeinander zu, monologisierend, erzählend, erinnernd.
Es könnte ihre letzte Reise sein: Margarethe ist 90 Jahre alt, und auf dem Weg von Basel nach Frankfurt am Main, um sich dort mit ihrer Tochter zu treffen. Lena kommt aus London, wo sie als Modemacherin lebt, und hat der Mutter nach Tochterart einiges vorzuwerfen. Während Margarethe schon im ICE unterwegs ist, packt Lena noch ihre Sachen und kramt alte Fotos heraus, die sie mitnehmen will. In wechselnder Ich-Perspektive schickt die österreichische Autorin Melitta Breznik die beiden Frauen aufeinander zu, monologisierend, erzählend, erinnernd.
Zwischen ihnen steht als dritte Figur Max, Lenas Vater, Margarethes erster Mann. Mitte der 60er-Jahre brachte er sich um, nachdem er bei einem Unfall beide Beine verlor und depressiv wurde. Er litt, wie sich in einem Therapiegespräch herausstellt, unter einem schweren Kriegstrauma. In Griechenland war er als Soldat am Massaker in einem Dorf beteiligt. Seine Familiengeschichte, die weit zurückreicht bis ins Österreich der 30er-Jahre und zu den blutigen Kämpfen zwischen Sozialisten und Nationalisten, wird in auktorialer Perspektive eingeschoben und steht deshalb eher unverbunden neben den beiden anderen Erzählsträngen. Lena aber, die den Tod des Vaters als kleines Mädchen miterlebte, macht die Mutter dafür verantwortlich.
Kreuzbrave Konstruktion
Der Wille der Autorin besteht darin, dass ihre Figuren sich pausenlos erinnern, und zwar im Präsens, so als würden sie all das, was sie gerade erleben und was ihnen so durch den Kopf geht, auch gleich zu Diktat geben. Das könnte vielleicht sogar funktionieren, wenn die Erinnerungen nicht gar zu geradlinig und direkt abgespult werden würden. Dabei weiß Melitta Breznik, im Hauptberuf Psychiaterin und Psychotherapeutin, doch sehr genau, wie widerständig und bruchstückhaft, wie widersprüchlich und unzuverlässig Erinnerung zutage tritt. Nichts davon ist ihrer kreuzbraven Konstruktion anzumerken. Statt disparate Bewusstseinslagen entstehen zu lassen, schnurren die Geschichten einfach so ab, weil es die Autorin so will.
Besonders aufregend ist all das nicht, was die beiden Frauen erlebt haben. Auch die zwischen ihnen bestehende Entfremdung unterscheidet sich nicht von dem, was Kinder und Eltern häufig voneinander trennt. Bleibt also Max, seine Soldaten-Vergangenheit und die NS-Zeit, die aber, so ausschließlich wie sie hier als seine Geschichte präsentiert wird, eine Dominanz gewinnt, die eben auch nur der postumen Erzählerhaltung geschuldet ist. Was hier deutlich wird, ist nicht erlebte Geschichte, sondern bloß der Zugriff von heute auf die Geschichte, ein rechtschaffener, korrekter, bemühter Blick, der nicht müde wird in seinem Bedürfnis nach immer neuer und wiederholter Aufarbeitung.
Das mag als Prinzip der Psychotherapie seine Berechtigung haben, als erzählerischer Antrieb ist es nur noch ermüdend. Da wird ja - bei all den unzähligen Büchern, die sich diesem Thema widmen - schon lange nichts mehr zu Tage gefördert, was man nicht schon wüsste, sondern nur noch ein Programm abgespult, das auf die notorische Betroffenheit einer vergangenheits-pflichtschuldigen Leserschaft setzt. Das reicht für noch ein biederes, historisch korrektes Buch. Für aufregende Literatur, die in unbekannte Gefilde vorstößt, reicht es nicht.

Melitta Breznik: Der Sommer hat lange auf sich warten lassen
Luchterhand, München 2013
252 Seiten, 19,99 Euro

Mehr zum Thema