Im Dunkeln hellsichtig

Um sich ihrer eigenen Geschichte bewusst zu werden, zieht sich die Hauptfigur in Melitta Brezniks Roman "Nordlicht" in die Dunkelheit des nördlichen Norwegens zurück. Die Finsternis wirkt reinigend - und lässt sie über die Soldatenvergangenheit ihres Vaters nachdenken, dessen Tagebücher sie auf ihre Reise mitgenommen hat.
Am Anfang steht ein Geräusch: "Die Tür fiel mit einem leisen Klicken hinter ihr ins Schloss." So leise wie dieser Beginn, so still und präzise ist auch der Erzählton von Melitta Breznik. Ihre Hauptfigur, die in Zürich lebende Ärztin Anna, verlässt ihren Mann und die gemeinsame Wohnung und beschließt, sich in den Norden Norwegens zurückzuziehen. Sie mietet sich in einer abgelegenen Hütte auf den Lofoten ein und stellt sich der Herausforderung, die dunkle Jahreszeit zu überstehen, wenn die Sonne für viele Wochen unterm Horizont verschwindet. In der "weltverschlingenden Dunkelheit" hofft sie, wieder zur Besinnung zu kommen und Klarheit über ihr Leben zu gewinnen. Im Gepäck hat sie auch die Tagebücher ihres Vaters, der als Soldat im Zweiten Weltkrieg in dieser Gegend stationiert war, der aber seiner Tochter nur wenig davon erzählte.

Auf doppelte Weise setzt sie sich also mit ihrer Geschichte auseinander. Sie erinnert sich an die Anfänge ihrer Liebe, die Studienzeit in Graz und einen Aufenthalt mit ihrem Mann in Vancouver. Doch das alles ist so fern gerückt und auch die eigene Person erscheint ihr so fremd, dass sie sich nur "von außen betrachten kann", als wäre sie "eine dritte Person". Also sind diese Rückblenden in der dritten Person erzählt, während die norwegische Gegenwart in der Ich-Form steht. Und erst hier, in der Gegenwart, gewinnt die Prosa von Melitta Breznik ihre kraftvolle Eindringlichkeit. Sie zeichnet klare, schöne Landschaftsbilder und zeigt, wie das Sehen in der Dunkelheit an Schärfe gewinnt.

Es ist, als ob die Ich-Erzählerin sich selbst zu viel wäre in dieser einsamen, eisigen Stille, in der ihr die wenigen Menschen in der benachbarten Kleinstadt unerträglich werden und Anna sogar die eigene Stimme bei ihren Selbstgesprächen auf die Nerven geht. Die Dunkelheit ist eine Diät für die Sinne, eine Askeseübung der Seele, bis sich schließlich mit der Wiederkehr der Sonne Licht und Farben entfalten, wie zum ersten Mal. Die Erinnerungen an die eigene Beziehungsgeschichte und die Auseinandersetzung mit der Soldatenvergangenheit des Vaters wirken dagegen seltsam blass und austauschbar.

Doch dann lernt Anna die Norwegerin Giske kennen, die im zweiten Teil des Romans als eine zweite Ich-Erzählerin in den Mittelpunkt rückt. Die beiden Frauen freunden sich an, und Giske erzählt von ihrer Kindheit als "Deutschenbalg". Mehr als 8000 von deutschen Soldaten gezeugte Kinder wurden in Norwegen nach dem Zweiten Weltkrieg geboren. Kinder, die es als lebende Beweise der Kollaboration und der Schande nicht leicht hatten. Viele von ihnen wurden in Heime gesteckt oder zwangspsychiatrisiert, wie Giske, die erst in späteren Jahren ihre Mutter ausfindig machte und nach deren Tod ihren Bauernhof übernahm. Die beiden Frauen sind über ihre Herkunft miteinander verknüpft und könnten sogar Halbschwestern sein. Doch das ist nicht entscheidend. Wichtiger ist es für Melitta Breznik, das Weiterwirken der Geschichte im Leben der Nachgeborenen zu zeigen.

Breznik, wie ihre Romanheldin Ärztin und Psychiaterin, hat sich in ihren literarischen Arbeiten auf dieses Thema spezialisiert: In ihrer Erzählung "Das Umstellformat" aus dem Jahr 2002 begab sie sich auf die Spur einer Großmutter, die von den Nazis im Rahmen des sogenannten "Euthanasieprogramms" ermordet wurde. Da stand das rein Faktische noch stärker im Zentrum, das Aufklärungsbemühen dominierte das Erzählen. In "Nordlicht", ihrem ersten Roman, hat Melitta Breznik nun zu einer eindrucksvollen, zurückhaltenden und doch poetischen Sprache gefunden. Am Ende steht, wie zu Beginn, ein Geräusch, und das nordische Dunkel hat sich in sommerliches Licht verwandelt: "Es ist nichts zu hören außer dem leisen Plätschern der Wellen, über denen die tief stehende Sonne an diesem Abend nicht mehr untergehen würde."

Besprochen von Jörg Magenau

Melitta Breznik: Nordlicht. Roman.
Luchterhand Literaturverlag, München 2009
252 Seiten, 17,95 Euro