Der Jaguarkopf in der Kiste

Ein familiäres Erbstück und seine kolonialen Geschichten

57:45 Minuten
Der Jaguarkopf wird in der Werkstatt angeschaut.
Gips statt Schädelknochen, aber das Fell ist echt: Präparator René Diebitz begutachtet den Jaguarkopf. © Jonas Lüth
Von Jonas Lüth · 21.12.2022
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Beim Ausräumen der Wohnung einer verstorbenen Tante stößt Jonas Lüth auf einen ausgestopften Jaguarkopf. Was ist zu tun, wenn man privat koloniales Treibgut entdeckt? Unser Autor begibt sich auf die Suche nach der Herkunft des Familienerbstücks.
„Als wir vor einem halben Jahr in Asuncion, der Hauptstadt Paraguays, anlandeten, war die Enttäuschung groß. Denn bis in den Hafen selbst sickerte der Lärm der Straßenbahnen und Autohupen. Wie sehr ich doch in diesem Moment die Menschen hasste, die die Straßen dieser romantischen Stadt mit Asphalt zugeschmiert haben! Und als uns die kreischenden Plakate ins Kino luden, entschieden wir uns, in die Dörfer der Rothäute zu entkommen. Erst hinter dem Rio Paraguay konnten wir aufatmen!“ Das Abenteuer kann beginnen! Vladimír Šustr, ein in Deutschland wenig bekannter tschechischer Autor, lässt in einem Zeitungsroman seinen Protagonisten in die paraguayischen Wälder eintauchen.
Šustr, der diese Zeilen nach einer langen Paraguay-Reise im November 1939 in einer tschechischen Sonntagszeitung veröffentlichte, war der kleine Bruder meiner Urgroßmutter, die starb, als ich zehn Jahre alt war. Über sie besteht zwischen meinem Urgroßonkel Vladimír und mir eine Verbindung – und über ein sonderbares Objekt: den Jaguarkopf in der Kiste.

Der Jaguarkopf im Bücherregal

Prag 2010: Die Schwester meiner Urgroßmutter ist gestorben, und ich helfe beim Ausräumen ihrer Wohnung. Ich bin fast 18 Jahre alt und begeistert von dem Kuriositätenkabinett, das ein 80 Jahre langes Sammlerinnenleben hinterlassen hat. Die verstorbene Tante war kinderlos. Als Urenkel ihrer Schwester erben wir die Dinge, die sie hinterlassen hat. Allerlei Krempel – und dazwischen er: ein verstaubter, ausgestopfter Jaguarkopf. „Irgendwie cool“, denke ich. Ich nehme den Jaguarkopf mit nach Berlin, wo ich als Jugendlicher aufwachse. Dort verschwindet er erst einmal in einer Kiste.
Der Jaguarkopf liegt auf dem Küchentisch im ehemaligen Wohnhaus des Schriftstellers Sustr.
Der Jaguarkopf im ehemaligen Wohnhaus des Schriftstellers Vladimír Šustr. Er brachte ihn aus Paraguay mit nach Europa.© Jonas Lüth
Der Jaguarkopf in der Kiste kommt mit, als ich bei meinen Eltern ausziehe. In der Kiste, fast neun Jahre lang. Einige Umzüge später erblickt er 2019 wieder das Licht der Welt. Ich platziere ihn im Flur meiner Wohnung auf dem Bücherregal, seine Augen auf die Eingangstür gerichtet. Für Gäste ein Hingucker – sie schauen ihn an, aber oft mit Sicherheitsabstand. Auf jeden Fall läuft niemand daran einfach so vorbei. Gespräche entspinnen sich, aber das Gefühl „irgendwie cool“ verschwindet. So ein toter Kopf ist doch eher irgendwie unheimlich – und nicht nur das.

Kolonialismus und Umweltzerstörung

Im Laufe der Jahre, in denen der Kopf bei mir herumlag, wurden in der Öffentlichkeit zwei Debatten immer lauter: erstens die über die Zerstörung des Planeten und zweitens die über den europäischen Kolonialismus. Präsentiere ich, ein weißer europäischer Mann, hier ein Aushängeschild von Umweltzerstörung und Kolonialismus in meinem Flur? Was verkörpert dieser Kopf, den ich geerbt und über Jahre mit mir herumgeschleppt habe? Und was soll ich mit ihm anfangen? Zurückgeben? Wie die Benin-Bronzen? „Restituieren“, wie man im musealen Kontext sagt, um mich damit ein Stück weit selbst zu dekolonisieren?
Erst einmal möchte ich wissen, was ich da in den Händen halte, und hole den Kopf, den ich wieder in die Kiste gepackt habe, raus aus seinem Versteck. René Diebitz, ist zoologischer Tierpräparator des Naturkundemuseums in Leipzig und schaut sich das Erbstück mit mir an: ein Fellteppich, wie in „Dinner for One“.
Den Fellteppich, von dem heute nur noch der Kopf und ein handflächengroßer Hautfetzen übrig sind, brachte mein Urgroßonkel Vladimír Šustr, der kleine Bruder meiner Uroma, 1938 aus dem südamerikanischen Paraguay in die tschechische Hauptstadt Prag. Dort hütete er dann die Wohnung einer seiner Schwestern. Nach ihrem Tod fand ich den Kopf, der nun bei René Diebitz in seiner Leipziger Werkstatt liegt.

Ein Kopf aus Gips

Der zoologische Präparator ist überrascht von der veralteten Machart der Dermoplastik, dem „ausgestopften Tier“, die ich ihm mitgebracht habe. Die Augen im Jaguarkopf seien mindestens 80 Jahre alt. Er selbst hat zu DDR-Zeiten eine Ausbildung zum Tierpräparator am Naturkundemuseum in Berlin gemacht. In den letzten Jahren hat er sogar erste Preise bei Präparationsweltmeisterschaften gewonnen. Die Expertise befähigt ihn dazu, den mitgebrachten Jaguarkopf näher zu inspizieren: dort, wo normalerweise der Hals des Tieres beginnen würde, ist das Präparat mit einem Holzbrett verschlossen wie mit einer festen Klappe.
Mit einem schmalen Metallstift kratzt Diebitz zwischen Abschlussbrett und Fell weißes Pulver hervor. „Dieses Kopfgebilde ist hohl aus Gips mit Leinwand. Die Haut wurde drübergezogen“, stellt er fest. Die Haut wurde am Jagdort vom Fleisch des toten Tieres gelöst. Auch die Knochen ließ man zurück. Nur den Schädel nahm man zumeist mit nach Europa, um noch etwas Gebiss des „bösen Raubtieres“ präsentieren zu können. Meinem Präparat aber fehlt der Schädel. Ein aus Gips geformter Jaguarkopf, überzogen mit Haut und Haaren des einst erlegten Tieres.

Was ist ein kolonialer Kontext?

Der Kopf sieht nur noch aus wie der Kopf eines Jaguars, ist aber nur nachgebildet. Vom Jaguar selbst stammt das Fell. Für mich ein koloniales Erbstück – und dieser Geschichte will ich auf den Grund gehen. Im Berliner Museum für Naturkunde.
Mit über 30 Millionen Sammlungsobjekten ist es das bei weitem größte seiner Art in Deutschland. Es ist nicht nur Ausstellungsort, sondern vor allem wissenschaftliche Forschungseinrichtung. Hier arbeitet die portugiesische Kolonialhistorikerin Catarina Madruga im Projekt „Koloniale Provenienzen der Natur“. Provenienz- oder Herkunftsforschung ist ihr Metier.
Zuerst müsse definiert werden, was ein kolonialer Kontext ist, sagt sie. „Das ist viel mehr als nur die Frage, ob es eine formelle koloniale Herrschaft gegeben hat. Vielmehr geht es darum, ob es überhaupt Ungleichheiten gab. In meiner Forschung geht es beispielsweise um das Sammeln naturwissenschaftlicher Proben. Was geschah hinter dieser Praxis des Sammelns? Welche Arten von Ungleichheiten sind aufgetreten? Was für Arten der Klassifizierung von Menschen hat man vorgenommen und welche politische Identität hatten sie? Und so können wir sehr gut das Spektrum des kolonialen Kontexts erweitern, wenn wir genug Informationen haben.“
Nicht nur Sammlungsstücke, die direkt aus den Kolonien zu uns gelangten, sind also von Bedeutung, auch viele andere Objekte tragen einen kolonialen Stempel. Mein Urgroßonkel, der als Tscheche in das formell unabhängige Paraguay der 1930er-Jahre kam, war dort als europäischer Weißer nicht nur ökonomisch, sondern auch kulturell in der von Rassismus geprägten Machthierarchie automatisch weit oben.

Europäische Namen für Flora und Fauna

Große Teile der „zivilisierten Welt“, wie sich die meisten Gesellschaften Europas begriffen, wirkten beim Sammeln toter und lebendiger Tiere mit, für Zoos, Museen oder eben auch für den privaten Gebrauch. Das Sammeln nutzte aber nicht nur der Schau, sondern auch der westlichen „Vermessung der Welt“. Das lässt sich an der wissenschaftlichen Namensgebung für verschiedene Spezies ablesen. Auch beim wissenschaftlichen Namen für den Jaguar: Panthera Onca.
Der Jaguarkopf mit anderen Präparaten in der Werkstatt von René Diebitz im Naturkundemuseum Leipzig.
Jaguarkopf und andere Präparate: Die wissenschaftlichen Bezeichnungen der Tiere verweisen auch auf eine eurozentrierte Sicht.© Jonas Lüth
Panthera kommt aus dem Lateinischen und beschreibt alle „Eigentlichen Großkatzen“. Funktioniert also wie ein Familienname. Den tragen zum Beispiel auch Löwen oder Tiger. Das portugiesische Onca ist ein Zusatz, der nur den Jaguar beschreibt. „Eigentlich hat jede Spezies zwei Namen – wie Homo Sapiens. Der erste Name ist die Gattung, der zweite ist die Spezies“, erläutert Catarina Madruga. „Das ist die Übersetzung der Natur in die europäischen Wissenschaften. Oft radiert dieses System die Herkunftsgeschichte und lokale Bedeutungen aus. Es bringt eine neue, fundamental europäische Lesart der Natur hervor, auch, weil die Namen üblicherweise aus dem Lateinischen oder Altgriechischen kommen.“
Beim Jaguar jedoch hat ein ursprünglich indigen-amerikanisches Wort seinen Weg in die Alltagssprache gefunden. Es komme wahrscheinlich vom Wort Yaguara aus den indigenen Sprachen Tupi und Guaranì, sagt Madruga. „Das heißt so viel wie: wildes Tier, das seine Beute im Sprung überwältigt. Also ist Jaguar näher am lokalen Wissen und Panthera ist das lateinische Wort dafür. Wenn die Menschen weltweit nur das Wort Panthera Onca lernen, verändert das alles.“
Von Japan bis Paraguay lernen Studierende der Biologie die europäischen Namen für die lokale Flora und Fauna, nicht lokale Begriffe, erzählt mir Catarina Madruga. Man müsse aufpassen, dass man die Auffassung von Natur, wie die europäische Wissenschaft sie versteht, nicht verallgemeinere. Es sei nicht die Art, sondern eine Art, die Natur zu lesen.
Das gilt auch für die Grenze zwischen Mensch und Natur, die in Europa künstlich gezogen wird. Was aber mache ich nun mit dem Jaguarkopf? In sein Herkunftsland zurückgeben? „Leider gehören Restitutionsforderungen nicht zu meinem Aufgabenbereich“, sagt Madruga.   „Das heißt aber nicht, dass zoologische, botanische, mineralische und paläontologische Objekte nicht Teil derselben Reflektion sein sollten. Also Teil des Überdenkens von Sammlungspraktiken. Wir versuchen da zoologische Sammlungen miteinzubeziehen, weil die Sammlungsexpeditionen nicht nur entweder Insekten und Pflanzen oder religiöse Objekte gesammelt haben. Das war Teil desselben Extraktionsprozesses. Wobei nicht nur kulturelle Artefakte, sondern gleichzeitig auch Proben und Beweisstücke der Natur in die europäischen Sammlungszentren gebracht wurden. Natürlich spielen da Naturkundemuseen eine riesige Rolle, bei dieser kulturellen und wissenschaftlichen Aneignung.“

Als Reporter durch Paraguay

Bisher weiß ich recht wenig über meinen Urgroßonkel Vladimír Šustr, der den Jaguarkopf aus Südamerika nach Europa gebracht hat. In meiner Familie heißt es, er habe nach dem Zweiten Weltkrieg Bücher geschrieben. Ich tippe seinen Namen bei Google ein und werde überrascht: Er hat sogar eine eigene tschechische Wikipedia-Seite. Hier steht:

Vladimír Šustr (Geboren 1913, Gestorben 1987) war tschechischer Schriftsteller, Autor von Abenteuerromanen für Jugendliche und Erwachsene. Von 1937 bis 1938 soll er zwei Jahre als Reporter durch Paraguay gereist sein. 15 Romane habe er zwischen dem Ende des Zweiten Weltkriegs und seinem Tod 1987 veröffentlicht. Viele davon spielen in Paraguay.

Zwei davon bestelle ich übers Internet: „Rote und Weiße“ und „Die Abenteuer des kleinen Indianers“. „Rote“ oder eben „Indianer“, Worte, die ich als Kind für ganz normal hielt. Aber Miriam Oesterreich, Kunstgeschichtsprofessorin und Expertin für lateinamerikanischen Indigenismus an der Berliner Universität der Künste, erklärt: „Indianer ist die eingedeutschte Version, wie Kolumbus und die frühen Kolonisatoren die Indigenen Amerikas bezeichnet haben, weil sie ja eigentlich auf der Suche nach Indien waren. Das ist aber natürlich eine Fremdbezeichnung. Deshalb ist es natürlich eine Form größerer Wertschätzung, die Eigenbezeichnungen der Menschen zu benutzen – oder, wenn man über die Menschen, die vor der Kolonisierung schon in Amerika lebten, vielleicht Indigene zu sagen. Indigen kommt aus dem Lateinischen und bedeutet ‚dort ursprünglich ansässig‘.“

Beliebte Abenteuerromane

Vladimír Šustr lebte und schrieb zu einer Zeit, in der Diskriminierung durch Sprache kaum hinterfragt wurde. Auf seinen Erfahrungen im Südamerika der 1930er-Jahre scheint er große Teile seiner Schriftstellerkarriere aufgebaut zu haben
„Die Bilanz unserer ungewöhnlichen Robinsonade und sechsmonatiger Entbehrungen war bemerkenswert: Felle von Jaguaren, Pumas, Wölfen, Schakalen und Affen, Schlangenhäute, Indianerausrüstung, unsere abgemagerten Körper, ausgemergelte Hunde und einige beschriebene Blätter eines bunten Tagebuchs.“
Dies lässt Vladimír Šustr im Jahr 1939 einen Protagonisten in seinem Zeitungsroman erzählen. Ob dieser als sein Alter Ego fungiert, kann ich nicht beurteilen. Leider ist ein Tagebuch bisher nicht aufzufinden. Ein toter Jaguar, ein paar fiktive Zeitungsgeschichten und Erzählungen von Menschen, die meinen Urgroßonkel gekannt haben: Das ist mir von ihm geblieben. Um mehr zu erfahren, muss ich den Weg des Jaguarkopfs zurückverfolgen. Der Kopf und ich fahren nach zwölf Jahren gemeinsam wieder zurück nach Prag.
Ich treffe Magdalena Písařovicová in einer Prager Buchhandlung. Sie ist die Nichte von Vladimír Šustrs dritter Ehefrau und hat mit ihm bis zu seinem Tod unter einem Dach gelebt. Písařovicová ist wohl die letzte lebende Person, die ihn besser kannte. „Er erzählte mir, dass er zum Abitur diese Schifffahrt nach Südamerika bekam und dass er dort eine Zeit lang mit Indianern gelebt hat. Er beschrieb das immer als total romantisch“, erzählt sie. „Er hat immer mit großer Bewunderung von ihnen gesprochen, von wunderschönen, würdevolle Menschen. Er erzählte auch, dass er mit ihnen auf die Jagd gegangen ist. Also vielleicht hat er den Jaguar selbst erlegt, aber zu hundert Prozent kann ich das nicht sagen.“

Ein tschechischer Karl May?

In einem Hinterhofcafé in der Prager Altstadt treffe ich Markéta Křížová. Sie ist Professorin für Geschichte und Anthropologie an der Prager Karlsuniversität. Tschechische Reisende und die Beziehung Tschechiens zu Südamerika sind ihr Fachgebiet. Sie hat eine Überraschung für mich.
“Das wusste ich gar nicht. Ich habe ihre Anfrage gar nicht mit dem ‚Abenteuer des kleinen Indianers‘ verbunden, was natürlich ein Buch ist, das ich kenne. Ich habe mich schon immer gefragt, wer eigentlich dieser Autor war“, sagt sie zur Begrüßung. „Dobrodružství malého Indiána“ – „Die Abenteuer des kleinen Indianers“. Das Buch mit dem altbackenen Titel ist wohl der bekannteste südamerikanische Roman meines Urgroßonkels. “Das habe ich natürlich gelesen, als ich klein war“, sagt Křížová. „Das wurde in riesigen Stückzahlen herausgegeben. Diese Abenteuer-Reihe des Albatros Verlags war einfach unheimlich populär. Es sind darin auch Bücher von Karl May, Jack London, aber auch von tschechischen Autoren erschienen. Wenn Sie hier mal schauen: Das sind 30.000 Drucke. Das ist schon die vierte Auflage. Wenn sie in meiner Generation hiernach fragen, dann werden sich viele erinnern.“
Das Buch erreichte in tschechischer Sprache eine Auflage von mindestens 105.000. Ziemlich viel für ein so kleines Land. Unter dem Namen „Und die Indianer ziehen zum Rio Negro“ erschien es 1960 auch in der DDR. Selbst ins Französische, Ungarische und Polnische wurde es übersetzt. Mein Urgroßonkel, eine Art tschechischer Karl May? Das wäre wohl etwas vermessen. Aber, dass ganze Generationen seine Bücher gelesen haben sollen, erstaunt mich schon! Und gibt seiner Biografie eine für mich ungeahnte Wendung.

Tschechische Debatte über Kolonien

In einem Klappentext wird über Vladimír Šustr sogar behauptet, dass er „im Jahr 1937 an dem Aufstand in Paraguay teilnahm und in den Urwäldern des Gran Chaco den Indianern bei ihrem verzweifelten Kampf um ihre Existenz half“. Gemeinsam mit Markéta Křížová gehe ich einige Stellen im Roman „Rote und Weiße“ durch, die mir aufgefallen sind. Der Held der Geschichte ist der indigene Junge Tiwia:
„Sag mir, warum wollen sie alles für sich haben? Warum sind sie so böse? Warum stehlen sie?“, fragte Tiwia. „Sie glauben, dass ihnen das mit dem Recht der Entdecker gehört“, sagte dann der Weiße. „Sie schmachten nach Reichtum und Ruhm. Sind stolz und egoistisch. Sie lieben tote Dinge, mitnichten den Menschen.“
„Das ist antikolonial. Aber hier in dem ‚kleinen Indianer‘ ist der positive Weiße doch sogar Tscheche“, sagt Křizová. Die – in Anführungszeichen – „guten Tschechen“ haben nie eine Kolonie gehabt. Das tschechische Volk war zu Hochzeiten des Kolonialismus selbst eine den deutschsprachigen Österreichern untergeordnete Ethnie. Bis zu seiner Befreiung am Ende des Ersten Weltkriegs und der Gründung der Ersten Tschechoslowakischen Republik.
„Im Jahr 1918 nach dem Ende des Ersten Weltkriegs gab es große Debatten in der tschechischen Presse, ob die Tschechen nicht eine der deutschen Kolonien bekommen sollten Einige meinten, dass uns das in die Reihen der mächtigen europäischen Nationen heben würde, andere wiederum, dass das viel zu teuer wäre. Niemand hat in den Debatten an die ursprünglichen Einwohner dieser potenziellen Kolonien gedacht. Wenn, dann nur so, dass wir Tschechen besser im Kolonisieren wären, weil wir zivilisierter sind“, so Křizová.

Plötzlich ist Šustr ein slawischer Mensch zweiter Klasse

Bemerkenswert finde ich die Wendung in Vladimír Šustrs Leben bezüglich seiner Identität. Aus seinen fiktiven Zeitungsartikeln habe ich erfahren, dass Tschechen in Lateinamerika als „Gringos“, also als Weiße, galten. Kein Unterschied zu anderen europäischen Völkern. “Und dann sind sie hierhergekommen und waren mit den deutschen Rassentheorien konfrontiert.“
Nach Šustrs Rückkehr nach Europa Ende 1938 überfällt Nazi-Deutschland die Tschechoslowakei, und aus dem “zivilisierten“ Gringo in Lateinamerika wird ein slawischer Mensch zweiter Klasse, den es im Namen der Nazi-Ideologie gilt, zu vertreiben oder zu vernichten, um Lebensraum für die deutsche Herrenrasse zu schaffen. „Aber eigentlich haben 99 Prozent der Tschechoslowaken in dieser Zeit die Rassentheorien akzeptiert“, sagt Křizová. „Das einzige Problem war, dass sie sich im Rahmen der sogenannten ‚Weißen Rasse‘ gleich fühlten, oder sogar den Deutschen und anderen übergeordnet. Aber an sich hatten sie keine Probleme auf Schwarze Menschen oder Indigene herabzuschauen.”

Der Jaguarkopf und die Machtstrukturen des Kolonialismus

Auch diese Haltung hat etwas mit dem Jaguarkopf zu tun, dem Erbstück, dessen Hintergründe ich zu verstehen versuche. Und ich erinnere mich an die Worte von Catarina Madruga im Berliner Naturkundemuseum: „Es ist ein ganzes Bündel an bedeutungsvollen Begegnungen, die sich in so einem Objekt treffen. Die müssen wir extrahieren und ans Tageslicht befördern.”
Auch sie findet die Frage nach der Identität meines Urgroßonkels wichtig: „die spezifischen Biografie von Jemandem, der sein Heim verlässt, um sich selbst neu zu definieren. Die Suche nach der eigenen Identität und auch das Gefühl der Befreiung von Zwängen, die im Heimatland bestehen.“
Auch dies sei durch die Kolonisierung, die wir so verurteilen, erst möglich gemacht worden. „Es ist symbolisch eine Ermächtigung durch das Reisen.“ Die Entdecker hätten den Weg „frei gemacht“, und „sie wollen dann eben die Welt sehen“, sagt Markéta Krizová in Prag.
Vladimír Šustr hätte das wohl ungern gehört. Begriff er sich doch als entschieden antikolonialen Autor. Bei der Betrachtung seiner Person geht es aber nicht um eine Verurteilung. Die Frage nach „gut“ und „schlecht“ wäre in seinem Falle die falsche, höre ich immer wieder. Aber: seine Biografie ist Teil der europäischen Kolonialgeschichte und Teil unseres Erbes, das sich in Form des Jaguarkopfes in meinen Händen befindet.
„Es ist der Beweis dafür, dass sie da waren. Wenn wir also keine Kolonien haben können, dann wenigstens diese Artefakte“, sagt Markéta Krizova aufgrund ihrer Forschungen zu tschechischen Reisenden. Ob auch für Vladimír Šustr gilt, dass er den Jaguarkopf als Geisel für nicht vorhandene Kolonien mitnahm? Oder spielte etwas anderes eine Rolle?
Dass die Neugier, also die Gier nach Neuem, die Lust auf Abenteuer, das Erleben des Unbekannten, Exotischen, einen Reisenden treibt, kann ich gut nachvollziehen. Exotisierung, also die Konstruktion eines Anderen, dem Eigenen radikal Entgegengesetzen. Sie ist in einer enger zusammenrückenden Welt inzwischen aus guten Gründen in Verruf geraten.
Aber damals, als ich den Kopf fand, war meine instinktive Reaktion: „Irgendwie cool, der Jaguarkopf. Den nehme ich mit.“ Exotisch. Reizvoll. Vielleicht hat auch mein Urgroßonkel Vladimír Šustr mit damals 25 Jahren gedacht: „Irgendwie spannend, den nehme ich mit!“ Die Machtstrukturen, die der Kolonialismus hervorgebracht hatte, machten es möglich.
Einen Tag nach unserem ersten Treffen im Café bin ich zu Magdalena Písarovicová nach Hause eingeladen. Sie lebt mit ihrem Sohn Filip und ihrer 99-jährigen Mutter im unteren Geschoss einer alten Stadtvilla im Viertel Vinohrady. Im zweiten Geschoss, das heute unzugänglich ist, lebte mein Urgroßonkel Vladimír bis zu seinem Tod 1987. Eine Etage tiefer, im riesigen Wohnzimmer, das auch als Küche fungiert, stapeln sich Bücher. Die Wände sind voller Gemälde und Fotos. Überall außergewöhnliche Objekte.
Auf dem großen Holztisch in der Mitte des Raumes wartet eine Kiste auf mich. Sie ist voller Manuskripte des Schriftstellers Vladimír Šustr. Über den Daumen gepeilte Lesezeit: Circa 200 Stunden. Der Jaguarkopf beobachtet uns von der Mitte des Tisches aus bei der Durchsicht des dünnen Papiers. Auch hier ist ein Tagebuch leider nicht dabei. Aber wir entschließen uns, wann immer es möglich sein wird, gemeinsam weiter zu forschen.
Stehe ich meinem Onkel näher, als ich dachte? Dieser Gedanke beschäftigt mich. Seine Lust auf Abenteuer ist mir nicht fremd. So wird der kritische Blick meiner Gesprächspartnerinnen auf westliche Reisende auch ein Blick auf mich selbst und meine Position in der Welt.
Zwei Wochen nach meiner Rückkehr aus Prag finde ich eine Email von Professorin Markéta Krizová in meinem Postfach. Sie fragt, ob sie ihren Studierenden das Werk und die Biografie Vladimír Šustrs als Diplomarbeitsthema anbieten kann. Gut möglich, dass er das Bild von den Ureinwohnern Amerikas in der Tschechoslowakei entscheidend mitgeprägt hat.

In den Wäldern Paraguays

„Wen kümmert dieser Kopf schon? Wirf ihn einfach weg. Es ist nur ein Kopf. Das ist nicht wichtig. Ich glaube, dass ich heute so eine Antwort auf deine Frage in einer indigenen Gemeinschaft finden würde. Es ist eine ziemlich westliche Frage. Du investierst viel Zeit in ein Ding, dass du in deinen Händen hältst – aber es ist nur ein Teil von einem Tier. Wirf es einfach weg“, sagt Marcos Glauser. Der paraguayische Anthropologe und Aktivist für Rechte Indigener Völker, führt mit dieser Aussage meine gesamte Recherche ad absurdum. Ich frage mich seit fast zwei Jahren, was ich mit einem Jaguarkopf anstellen soll, den ich von einem Urgroßonkel aus Prag geerbt habe. Und nun sagt mir der Paraguayer Marcos Glauser: „Wirf es einfach weg.“
Er fügt aber hinzu, dass er aus einer anderen Perspektive betrachtet auch ganz anders reagieren könnte. „Für indigene Gruppen sind Tiere nicht gleich Tiere. Sie haben eine komplett andere Beziehung zur und Auffassung von Natur.“ In dieser Auffassung gebe es spezifische Regeln was mit den Dingen zu tun ist. Wer bekommt welches spezifische Teil? „Aber heute ist das schwierig herauszubekommen.“ Schließlich jagen Indigene keine Jaguare mehr.

Persönliche Geschichten, gemeinsame Fragen

Im Leipziger Lofft Theater findet im September 2022 ein Performance-Theaterstück statt: „Elfenbein – Annäherung an ein fleischloses Erbe“. Performancekünstlerin Aisha Konaté ist Teil der Theatergruppe, die sich mit einem geerbten Elfenbeinzahn auseinandersetzt. Die Künstlerinnen finden Geschichten in dem Elfenbeinzahn, die auf so viel hinweisen, dass in der Vergangenheit schiefgelaufen ist.
Stein des Anstoßes ist bei ihnen eine Jagdreise des Großvaters von Isabelle Reimann. Der Elfenbeinzahn komme aus Uganda. „Da wurden auch zwei Zähne mitgebracht. Er wollte diese beiden Elfenbeine zusammenzuführen und oben dann so eine Weltkugel rein. Das hat für mich irgendwie schon so ein imperialistisches Bild.“ Großmachtfantasien, meint Isabelle, die ihren Großvater noch selbst erlebt hat.
Isabelle Reimann forscht seit Jahren zu menschlichen Überresten aus kolonialen Kontexten, die beispielsweise durch Grabplünderungen in Deutsche Sammlungen gelangt sind. Und setzt sich für ihre Rückführung ein.
Auf der Bühne wird klar: Es geht hier konkret um eine persönliche Geschichte, um ein persönliches Erbstück. Aber im Grunde betrifft es uns alle hier im Theatersaal, wir sind alle Erbinnen und Erben dieser Geschichte. Und wenn nicht, trage ich das Erbe trotzdem in mir. Für Isabelle Reimann heißt das: „Was macht es mit mir, wie gehe ich mit Kolonialismus um?“
Das Theaterstück in Leipzig öffnet Türen für Erkenntnisprozesse, ohne abschließende Antworten zu geben. Einfache Lösungen, wie wir mit der Erbschaft umgehen, gibt es nicht. Mit meiner Recherche zu den Hintergründen des Jaguarkopfs habe ich mich auf einen Weg begeben, dessen Ende ich nicht kenne. Aber damit stehe ich nicht allein.

Koloniale Provenienzen der Natur

„Das ist eine Reise. Wir haben gerade erst angefangen mit der Reise und ich glaube, wir können keine abschließenden Antworten geben. Wir hoffen, dass wir jetzt gemeinsam auf die Reise gehen, mit allen, die beteiligt sind“, erklärt Christiane Quaisser, Sammlungsleiterin im Berliner Naturkundemuseum. Nach einem Jahr Recherche bin ich zurück an dem Ort, wo ich zu Beginn erste Einblicke in die Provenienzforschung von Naturgütern bekommen habe.
Von Christiane Quaisser und Ina Heumann, der Leiterin des Projekts „Koloniale Provenienzen der Natur“, werde ich durch das Museum in die Magazine des riesigen gründerzeitlichen Gebäudekomplexes geführt. Hier werden aktuell Jaguarschädel inventarisiert: etwa 40 Stück.
Auch wenn einige Jaguarschädel aus Zoos stammen, die meisten kamen direkt aus ehemaligen westeuropäischen Kolonien. Wie Ina Heumann erklärt, war die Zeit des deutschen Kolonialismus sehr einträglich für die Säugetiersammlung des Museums. „Um 1890 hatte sie 8000 Objekte grob gezählt. Zum Ende des Ersten Weltkriegs hatte sie dann 150.000 Objekte. Vielleicht sind es nur 120.000. Auf jeden Fall war der Zuwachs enorm.“
Ausschnitt der Insektensammlung im Naturkundemuseum Berlin.
Viele Exponate und Sammlungen im Naturkundemuseum in Berlin stammen aus der Kolonialzeit. Hier: die Insekensammlung.© picture alliance / imageBroker / Ingo Schulz
Die genaue Erfassung der Herkunft und die Digitalisierung der Objekte ist eine Mammutaufgabe, der sich das Museum annimmt. Irgendwann einmal sollen alle 30 Millionen Objekte, die hier lagern, über Onlinekataloge der Öffentlichkeit zugänglich sein. „Der zweite Schritt sei dann, die Herkunftsländer einzuladen und miteinander ins Gespräch zu kommen.“
Für das Berliner Naturkundemuseum stehen jetzt vor allem ehemalige deutsche Kolonien in Afrika im Fokus. „Da sind wir jetzt im zweiten Umlauf, mit einem wirklich tollen Kooperationsprogramm, das Museums Lab“, sagt Heumann, „und haben da die Chance, europäische Museen und afrikanische Museen zusammenzubringen und an einen gemeinsamen Diskurs zu gehen, der nicht schon mit Setzungen beginnt. Also die Europäer kommen wieder und sagen, wir wollen das und das machen, sondern sich hinzusetzen, gemeinsam und über Themen zu diskutieren und zu gucken, wie sind dann die Perspektiven darauf? Und dann wird man am Ende des Tages sehen, was passiert jetzt mit den Objekten selber?“

Natur- und Kulturgut

Restitution sei dabei nur eine von vielen denkbaren Möglichkeiten. Die Eigentumsfrage – schwer zu beantworten. Denn Naturobjekte hätten erst einmal keinen Besitzer. „Sie wurden nicht durch den Menschen erschaffen. Das unterscheidet es auch noch mal zu kulturhistorischen Objekten, ethnologischen Objekten.“ Und doch ist das Museum für Naturkunde und somit das Land Berlin im Besitz der allermeisten Naturobjekte, die es sich durch Sammlungs- und Präparationspraktiken angeeignet hat.
Die große Ausstellungshalle mit dem Brachiosaurus im Naturkundemuseum in Berlin.
Der Brachiosaurus Brancai kam aus dem heutigen Tansania, dem ehemaligen Deutsch-Ostafrika, während der Kolonialzeit nach Berlin.© picture alliance / Markus C. Hurek
Ina Heumann erklärt, dass die Trennung zwischen Natur und Kultur oft nicht so eindeutig ist, wie es scheint. Es handele sich um eine politische Trennung, die auch nach bestimmten Bedürfnissen durchgesetzt werde.
Seit 2011 befindet sich im Berliner Verzeichnis für national wertvolles Kulturgut auch das Aushängeschild des Naturkundemuseums: Der Brachiosaurus Brancai, ein riesiges Dinosaurierskelett, das aus dem heutigen Tansania, dem ehemaligen Deutsch-Ostafrika, während der Kolonialzeit nach Berlin kam. Durch die Aufnahme in dieses Kulturgutschutzregister wurde die Ausfuhr der Saurierüberreste juristisch deutlich erschwert, fast unmöglich gemacht. „Damit gibt auch das Museum eine bestimmte Macht und auch eine bestimmte Verantwortung ab, weil es dann klar ist, diese Objekte können nicht mehr einfach auf Reisen gehen und verliehen werden. Auch alle politischen Anfragen, die sich auf dieses Objekt richten, müssen auf einer höheren Ebene entschieden werden. Von daher ist diese ganze Frage Kultur/Natur eine zutiefst politische Frage.“ Die DDR wies einst eine tansanische Forderung nach Rückführung der Saurierknochen aus Ost-Berlin ab. Die tansanische Regierung hat diese Forderung trotz vieler dortiger Debatten bislang nicht erneuert.

Trophäenjagd und ihre Folgen

Ich will mit dem Land ins Gespräch kommen, aus dem der Jaguarkopf meines Urgroßonkels stammt. Das kann ich erst mal nur über das Internet.
„Den Kopf verbrennen wäre ein sehr einfacher Weg ihn loszuwerden, aber auch eine dumme Idee! Dieses arme Tier, das vor vielen Jahren getötet wurde, kann seinen Artgenossen helfen zu sagen: ‚Hier sind wir, wir sind Teil der Natur! Solche Dinge sind uns viele, viele Jahre wiederfahren“, sagt Andrea Weiler Gustafson. Er ist Biologin an der Universität in Asuncion, der Hauptstadt Paraguays, und Mitbegründerin der Initiative „Somos Todos Yaguaraté“, auf Deutsch: Wir alle sind Jaguar! Trophäenjagd sei sehr weit verbreitet gewesen und die Jäger hätten einen hohen Status gehabt. In den 1960er- und 1970er-Jahren legte man den erschossenen Jaguar auf sein Autodach und fuhr in die Hauptstraßen der Stadt, um ihn zu präsentieren. „Heute ist so etwas untragbar. Die Welt hat sich also sehr verändert“, sagt Andrea Weiler Gustafson. „Die Person, die diesen Kopf mitgenommen hat, war kein Krimineller. Das war normal zu der Zeit. Das ist auch der Grund, warum der Jaguar heute vom Aussterben bedroht ist.“
Mit der Hilfe von bekannten Kunstschaffenden aus Paraguay hat Andreas Initiative 18 lebensgroße bemalte Jaguarskulpturen aus Gips gefertigt und vor dem Nationalkongress für eine Verschärfung des Jaguarschutzgesetzes protestiert. Das wurde sogar Live im Fernsehen übertragen. Die größte Gefahr für den Jaguar seien Konflikte mit Viehzüchtern, auf deren Produkten große Teile der Wirtschaft des Landes aufbauen.
Andrea Weiler Gustafson, die Biologin an der Universität in Asuncion, kennt sich aus. Ihr Großvater kam aus Schweden nach Paraguay, um Viehzucht zu betreiben. Sie selbst wuchs auf einer Farm auf. „Als ich 16 war habe ich mit der Waffe in der Hand versucht, meinem Vater beim Töten von Pumas zu helfen, weil sie seine Schafe fraßen. Ich war Teil des Systems“, erzählt sie. „Mein Vater ist Viehzüchter, meine Brüder sind es auch. Ich bin Naturschutzbiologin, das schwarze Schaf der Familie. Der Vorteil daran ist: Ich weiß, wie sie produzieren, was sie denken, was sie brauchen und wenn sie mich anlügen!“

Die landwirtschaftliche Erschließung Paraguays

“Schon sehen wir die verstreuten Kuh-, Bullen und Kälberherden, auch ganz winzige Kälbchen sind darunter, die wohl erst gestern geboren wurden. Riesige Herden, immer mehrere hundert Stück. Hier eine, dort – um einige Kilometer weiter die zweite – und dann hinter dem Río Manduvirá die anderen.“ Das schreibt mein Urgroßonkel Vladimír Sustr in seinem 1939 erschienenen Zeitungsroman „Ich wäre gerne Rancher“. Er beschreibt große, von Gauchos bewirtschaftete Viehzuchtbetriebe am Rio Manduvirá, einem Fluss, der sich im Osten des Landes befindet. „
Paraguay liegt in einer Tiefebene zwischen Brasilien, Bolivien und Argentinien. Die ökonomische Erschließung des Landes begann mit den Rinderfarmen, die mein Urgroßonkel in seinem Roman beschreibt. Dazu kommt die heute auf dem Weltmarkt so lukrative Sojaproduktion. Ungefähr seit der Zeit, in der mein Urgroßonkel das Land bereiste, begann die Erschließung des größeren Teils des Landes hinter dem Rio Paraguay: dem Gran Chaco, einem Trockenwald und Dornbuschsavannengebiet. Dem zweitgrößten zusammenhängenden Waldgebiet Lateinamerikas. Auf einer Fläche zweieinhalb Mal so groß wie Deutschland breitet sich der Chaco weit über die Grenzen des Landes aus.
Baumstümpfe: Rodung des Urwaldes für Maisfelder in Paraguay.
Die Rodung schreitet in Paraguay weiter voran: Hier sollen bald Maisfelder entstehen.© picture alliance / imageBroker / Heiner Heine
Volker von Bremen kennt die Geschichte des Landes gut. Er ist Anthropologe, hat lange in Paraguay gelebt und setzt sich beruflich seit über 40 Jahren für die Rechte Indigener Völker im Chaco ein. In den 1920er Jahren war Paraguay schon seit über 100 Jahren formell unabhängig von Spanien, also keine Kolonie mehr im eigentlichen Sinne. Wie der paraguayische Menschenrechtsaktivist Marcos Glauser erklärt, haben sich die kolonialen Strukturen aber gehalten. „Normalerweise begreifen wir die Kolonisierung und Enteignung indigener Menschen als etwas sehr weit Entferntes, vielleicht 500 Jahre“, sagt er. „Aber die indigenen Völker in diesen Regionen haben das erst vor ein paar Jahrzehnten erlebt und manche von ihnen erleben das gerade jetzt.“

Zerstörung der Natur

Soweit ich die Reise meines Urgroßonkels rekonstruieren kann, hat er lange Zeit im damals noch von der Kolonisierung unberührten Chaco verbracht und dort wohl auch den Jaguar geschossen, gekauft oder geschenkt bekommen. In diesem Gebiet, das noch in den 1930ern kaum von Landwirtschaft durchdrungen war, lichtet sich der Trockenwald immer mehr.
Eine der höchsten Entwaldungsraten der Welt führte dazu, dass allein zwischen 1985 und 2018 über 20 Prozent des Waldes in Farmland und Weiden umgewandelt wurden. Der Druck auf die Flora und Fauna der Region, aber auch auf Indigene Communities, ist enorm. „In den Wäldern im Norden Paraguays und Süden Boliviens lebt eine spezifische Ayoreo-Gruppe in sogenannter ‚freiwilliger Isolation‘. Es ist eine der letzten Gruppen außerhalb Amazoniens, die noch in dieser ‚freiwilligen Isolation‘ lebt. Und obwohl die paraguayische Regierung sie offiziell anerkennt, gibt es keinen Schutz für sie. Wenn ein privater Landbesitzer einen Viehzuchtplan für den Wald entwickelt, kriegt er einfach eine inoffizielle Erlaubnis, den Wald zu roden. Es gibt von paraguayischer Seite also überhaupt keinen Schutz.“
Vielleicht hätte dies auch meinen Urgroßonkel erschüttert. Fakt ist aber: mit dem Jaguarkopf hat er ein Symbol für die Kolonisierung von Mensch und Natur mit nach Europa gebracht – und mich ganz konkret zu einem Erben der Kolonialgeschichte gemacht. „Eine Sache, warum wir Geschichte schreiben und Geschichte nachgehen, ist ja wirklich, dass wir das als Moment empfinden, um uns zu reflektieren und um uns auf eine andere Art und Weise mit der Welt wiederum zu verbinden“, sagt dazu Ina Heumann. „Genau das ist das Faszinierende ja auch an Objekten, dass sie genau dieses Potenzial haben, sozusagen Beziehungen zu stiften und an der Stelle dann auch zu diplomatischen Objekten zu werden.“

Kampf um das Land

Porai Picanerai ist Vorsitzender der Organisation OPIT, die für die Rechte der Ayoreo in Paraguay eintritt. Gleichzeitig ist Porai Anführer der Totobiegosode, die sich zu den Ayoreo zählen. „Wir wollen die Wälder erhalten, sowohl für uns als auch für die Tiere. Wegen der großen Abholzung werden unsere Enkelkinder diese Tiere in Zukunft nicht mehr kennen. Wir bitten die Menschen, die uns wohl gesonnen sind, unser Territorium weiterhin zu verteidigen, sei es gegenüber anderen Ländern oder gegenüber unserer Regierung“, sagt er.
Menschen halten gelbe Schilder hoch.
Amesty-International-Aktivisten protestieren in Paraguay gegen die Abholzung auf dem Land der Ayoreos.© picture alliance / dpa / Santi Carneri
Die britische Organisation EarthSight hat in einer Investigativ-Recherche herausgefunden, dass das Leder der Rinder, die auf den abgeholzten Flächen grasen, auf Sitze von europäischen Automarken gespannt wird, darunter BMW und Jaguar Land Rover. Laut EarthSight wurde im Jahr 2019 alle zwei Minuten die Fläche eines Fußballfeldes im Chaco abgeholzt. Auch für das Klima eine Katastrophe: Der Chaco ist einer der wichtigste natürlichen CO2-Speicher Lateinamerikas. Annähernd die Hälfte der ursprünglichen Bewaldung ist den Rodungen bereits zum Opfer gefallen.
Porai und seine Gemeinschaft wurden 1986 gegen ihren Willen von evangelikalen Missionaren kontaktiert. Erst wehrten sie sich und kämpften. Dann überzeugte man sie und nahm sie mit auf die Missionsstation. Inzwischen haben sie sich wieder von der Station lösen können und siedeln in von ihnen unabhängigen Dörfern. Verwandte von Porai leben immer noch isoliert im Wald. Er hat sie seit seinen Kontakten zu den Missionaren nicht mehr gesehen, kämpft aber weiter für ihren Lebensraum. „Unsere Verwandten werden verfolgt wie bisher. Unser gesamtes angestammtes Gebiet wurde und wird von den Kolonisatoren eingenommen und wir wissen nicht, wo wir bleiben sollen“, sagt Porai. „Die Weißen schämen sich nicht, uns aus den Wäldern zu werfen, die Weißen respektieren uns nicht.“
Auf der Landkarte fallen in der Umgebung des Dorfes Chaidi, in dem Porai lebt, vertraut klingende Namen auf: Blumenort, Kleefeld, Neu-Mölln oder Karlsruhe heißen sie. „Die Mennoniten haben unser Land gestohlen und uns arm gemacht, indem sie uns bestohlen haben“, sagt Porai. „Sie haben uns das ganze Land weggenommen, wir wollen keine weitere Abholzung.“ Die deutschstämmigen Mennoniten sind dabei eine treibende Kraft, wie Anthropologe Volker von Bremen erzählt. „In der nationalen Perspektive sind sie eigentlich das ökonomische und, man kann auch bald sagen, politische Zentrum des paraguayischen Chaco geworden mit einer großen Wirtschaftskraft. Sie sind vor allen Dingen inzwischen Milchbauern.“
Die Mennoniten sind aber bei weitem nicht die einzige Gruppe, die den Chaco für ihre landwirtschaftlichen Interessen nutzt, erklärt Marcos Glauser. Dazu kommen Tausende von ausländischen Landbesitzern, die hier roden. „Aber damit möchte ich nicht sagen, dass lokale paraguayische Familien nicht verantwortlich für die Situation sind. Es gibt auch Verbindungen zu sehr reichen lokalen Familien, die nicht zwingend die typischen, weißen, kolonialen Vertreter sind.“

Angst vor weiterer Abholzung

Porai und die Ayoreo Totobiegosodé haben nach ihrem Austreten aus der Isolation den Kampf für ihre Landrechte aufgenommen. Anfang der 1990er-Jahre erreichten sie mit Hilfe der Interamerikanischen Menschenrechtskommission, dass ihnen vom paraguayischen Staat offiziell Land zugesprochen wurde. Durchgesetzt werden diese Landrechte kaum. „Es ist sehr gut, dass die Leute aus anderen Ländern uns zuhören und uns helfen. Die Regierung unseres eigenen Landes tut nichts für uns“, sagt Porai. „Darum wenden wir uns an andere Länder, damit sie uns weiterhin unterstützen. Unsere Verwandten leben immer noch in den Wäldern, und deshalb wollen wir keine weitere Abholzung.“
Die Ayoreo-Totobiegosode werden unter anderem vom Schweizer „Verein für indigene Gemeinschaften in Paraguay“ unterstützt, der auch eine Stiftung betreibt. Die Ayoreo müssen das verbleibende Gebiet, das Ihnen rechtlich zusteht, selbst vor illegaler Rodung schützen. Der Verein aus der Schweiz finanziert Ihnen beispielsweise Jeeps und anderes Gerät, um Holzfäller ausfindig zu machen und, wenn nötig, zu vertreiben. Anthropologe Volker von Bremen erzählt, dass das Vordringen in die Gebiete der Ayoreo auch eine Verbindung zur Jagd auf Jaguare hat. Erst kamen die Flinten und Fallen, dann die Motorsägen.

Herausforderung Dekolonisierung

Im Naturkundemuseum Berlin präsentieren mir Ina Heumann und Christiane Quaisser ein Jaguarfell, das aus dem bolivianischen Teil des Gran Chaco stammt. Das gut erhaltene Fell lässt meine Hände fühlen, warum die Jaguare für ihren Pelz gejagt wurden. Dann hole ich den Jaguarkopf aus seiner Kiste, um ihn mit dem Fell sowie mit Christiane Quaisser und Ina Heumann bekannt zu machen. Was würden sie an meiner Stelle mit dem Kopf machen? „Ich würde den aufheben als Teil meiner persönlichen Geschichte, und dann würde ich ihn vielleicht irgendwann begraben oder so“, sagt Quaisser.
Porai, der Ayoreo-Anführer aus dem paraguayischen Chaco, erzählt mir: „Wir haben die Jaguarknochen nicht aufbewahrt, sondern nur die Haut entfernt, aus der die Krone eines Dacasute, eines Anführers, gemacht wurde. Wenn einer unserer Väter einen Jaguar tötete, nannte man ihn einen solchen Dacasute.“
Was ist nun mein Fazit? Andrea Weiler Gustafson meint, ich solle nicht so „deutsch“ denken: „Behalte den Jaguarkopf. Mach deine Reportage. Danach wird dir der Jaguarkopf schon sagen: Ich habe meine Mission erfüllt, ich kann in Frieden ruhen. Oder es kommt etwas anderes dabei raus. Du musst mit der Entscheidung nicht beeilen. Mach dir keine Sorgen. Du fängst doch gerade erst an. Versuch nicht, schon das Ende schreiben zu wollen.“
Ich habe den Jaguarkopf ein Jahr lang zu jedem Interview mitgenommen, nach Prag, nach Berlin, Leipzig und an andere Orte, die ich hier nicht erwähnt habe. Sogar beim Elfenbeinstück im Leipziger Lofft Theater saß er neben mir auf der Bank und hörte mit. Alle, mit denen ich sprach, haben mir gezeigt, dass eine Restitution, eine Rückführung, nicht in jedem Falle die passende Antwort ist. Vor allem, wenn niemand daran Interesse hat.
Ich habe bei meinen Recherchen gelernt, was für eine Herausforderung Dekolonisierung darstellt. Erst mal muss man wohl lernen, was Kolonisierung bedeutet hat und bis heute bedeutet. Da sind wir fast alle noch am Anfang. Wir beginnen erst allmählich zu begreifen, wie das koloniale Weltsystem der sogenannten Wertschöpfung den gesamten Planeten durchdrungen hat. Mit Folgen, die uns erst ganz langsam bewusstwerden.
Und der Jaguarkopf? „Es ist gut, dass du dich um ihn kümmerst. Es ist wichtig für dich, weil du ihn aus dem Chaco mitgenommen hast. Für uns ist das nicht wichtig!“, sagt mir Porai aus dem Gran Chaco. Der Jaguarkopf hat wieder seinen Platz auf dem Regal. Er beobachtet mich.

SprecherInnen: Lisa Hrdina, Sabine Falkenberg, Max Urlacher, Mirko Böttcher und der Autor
Ton: Alexander Brennecke
Regie: Cordula Dickmeiß
Redaktion: Winfried Sträter

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