Familien in Berlin-Hellersdorf

Der Stresspegel im Lockdown

10:24 Minuten
Ein Mädchen springt am 14.07.2018 in einem Garten in Düsseldorf (Nordrhein-Westfalen) auf einem Trampolin.
Selbst am Trampolin geht die Pandemie nicht vorbei: Nur Geschwister dürfen zusammen darauf springen. © picture alliance / dpa / Karo Krämer
Von Anja Nehls · 18.11.2020
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Etwas Warmes essen, Hausaufgaben machen, Freunde treffen: Täglich kamen rund 350 Kinder in die "Arche" in Berlin. Seit Corona ist nun alles anders. Die Pandemie trifft die Jungen und Mädchen aus meist einkommensschwachen Familien besonders hart.
Eigentlich ist das große Trampolin im Garten der Hellersdorfer Arche für die Kinder ein Highlight. Aber jetzt muss Pastor Bernd Siggelkow eingreifen, wenn Luka zusammen mit seinem Freund Saltos üben will.
"Wir kennen uns schon drei Jahre."
"Ja, ihr kennt euch. Aber es darf immer nur eine Familie zusammen aufs Trampolin."
"Dürfen wir beide?"
"Nur, wenn ihr Geschwister seid. Ja, ich weiß, beste Freunde. Aber er darf nur mit Gazal zusammen, das ist seine Schwester. Geht leider nicht anders, wisst ihr doch!"
"Vor ein paar Tagen durften wir."
"Ja, aber seit Montag gibt es eine neue Regelung."
"Seit Montag?"
"Ja."
"Deswegen hasse ich Montag."
Seit Anfang November ist wieder alles anders in der Arche. Bernd Siggelkow geht durch die ungewöhnlich leeren Räume der ehemaligen Schule. Nur noch zehn Kinder dürfen sich in einem Raum aufhalten. Nela ist elf Jahre alt und findet das ganz schön langweilig:
"Weil man nicht mehr so viele zum Spielen hat. Weil die Freunde nicht da sind. Jetzt können wir ja nicht mehr so viele Spiele machen, weil Corona. Und es dürfen nicht mehr so viele Kinder kommen. Wegen Corona."

Die Wohnung ist eng, doch die Kinder dürfen nicht raus

Das Handy von Pastor Bernd Siggelkow klingelt oft in den letzten Wochen. Meist sind es keine guten Nachrichten: "Das war jetzt gerade eine Mama, die hat mich angerufen. Da ist die fünfte Klasse in Quarantäne und jetzt hat das Gesundheitsamt ihnen mitgeteilt, dass die Kinder nicht in die Schule dürfen, 25 Tage sind sie in Quarantäne." Warum gleich 25 Tage und nicht 14, weiß niemand.
Normalerweise sind hier täglich 350 Kinder aus einkommensschwachen Familien, um nach der Schule ein warmes Essen zu bekommen, Hausaufgaben zu machen und einen Ansprechpartner für ihre Sorgen zu haben, der ihnen in den Familien oft fehlt. Jetzt dürfen sie nur noch zweimal in der Woche kommen – oder gar nicht, weil die Eltern Angst haben:
"Die lassen sie häufig gar nicht mehr raus. Sie sagen: Nach der Schule sofort nach Hause, wegen Corona! Für die Kinder ist es unglaublich schwierig, damit umzugehen, weil das heißt: Sie dürfen in der Regel auch nicht raus. Das war ja während des Lockdowns schon das Problem, unsere Familien wohnen ja auf engstem Raum mit vielen Personen, da sind Probleme programmiert."

Ein paar Straßen weiter, mitten im Hellersdorfer Plattenbauviertel. In einer Maisonette-Wohnung im 6. und 7. Stock wohnt Familie Haase. Sieben Kinder aus verschiedenen Beziehungen, mitunter deren Freunde oder Verwandte – und ein Vater. Die Mutter hat die Familie während der ersten Coronawelle verlassen.
Weil die Situation zuhause unerträglich wurde? Rene Haase zuckt mit den Schultern. Der Stresspegel zuhause ist hoch. Denni, Conner, Jane und Aaron sind zwischen sieben und zwölf und dürfen die Arche auch nicht mehr jeden Tag besuchen:
Pastor Bernd Siggelow und Sozialarbeiterin Sina Wollmann sind sehr klein vor einer Plattenbauarchitektur zu sehen. Sie tragen Tüten und laufen auf einen Platz zu.
Immer ein bisschen Angst, wenn das Telefon klingelt: Pastor Bernd Siggelow und Sozialarbeiterin Sina Wollmann vom christlichen Kinder- und Jugendwerk “Die Arche” in Berlin-Hellersdorf.© AP
"Das ist sehr bedauerlich. Dienstags können sie immer hingehen, da werden sie beschäftigt. Nimmt mir viel Arbeit ab, dass sie in der Woche, wenn sie da waren, die Hausaufgaben dort machen konnten. Da sind Menschen, die steigen da schneller und besser durch als ich."
Jetzt muss es eben anders gehen.

Vier Kinder schlafen in einem Raum

In einem der Kinderzimmer stehen zwei Doppelstockbetten an einer Wand. In einem der unteren schmust die 16-jährige Leann mit ihrem Freund. Im Raum nebenan lümmeln Jane und Aaron auf einer Couch vor dem Fernseher. In der Ecke gegenüber sitzt Conner an einem kleinen Tisch, wo sein Matheheft zwischen den Papierstapeln gerade noch Platz hat. Kein Kind hat einen eigenen Raum:
"Denni ist noch in der Schule, der ist ja in der Ganztagsschule. Ich mache Hausaufgaben."
"Normalerweise machen Sie Hausaufgaben unten am Küchentisch. Das ist heute eine Ausnahme, weil ich gerade Besuch habe."
Conner grinst, er hat mit dem Fernseher kein Problem: "Man schreibt. Und dabei guckt man. Ich kann gucken. Aber ich soll es nicht. Meine Schwester sagt immer: Nee, mach Hausaufgaben. 77 minus 10 ist gleich 72. In Deutsch bin ich ein bisschen besser als in Mathe."
Ab und an muss die Schwester helfen. Leann ist in der elften Klasse und versucht, aus der Situation das Beste zu machen – auch wenn die kleinen Geschwister nun so oft zuhause sind und Aufgaben online erledigt werden müssen:
"Es ist wegen den Corona-Zeiten, dass es jetzt ein bisschen schwieriger wird, aber wenn die Kinder in der Arche sind, kann ich ja in Ruhe lernen. Wir teilen uns alle einen PC."
Weil ein eigner PC für jeden eben nicht selbstverständlich ist.

"Ich heule dann ins Kissen"

Der Vater steigt über Berge von Spielzeug und Klamotten auf dem Boden, räumt im Vorbeigehen zwei dreckige Teller in die Spüle, zeigt auf die Staubschicht auf dem Aquarium, legt einen Riesenstapel gewaschene Bettwäsche auf einen kleinen Tisch in einem der Kinderzimmer und versucht, den Lärmpegel in der Wohnung niedrig zu halten.
Nicht jeder Vater ist so belastbar wie Rene Haase. Auch der schreit manchmal. Aber nur abends, wenn er beim Putzen des Kindergartens wirklich ganz allein ist:
"Ich bin dann einfach so, dass ich abwarte, bis die Kinder im Bett sind und heule dann ins Kissen und sage: Ich habe die Schnauze voll, ich schaffe das nicht. Habe aber liebe Verwandte, die mich dann auffangen, wie auch Bernd hier, die dann sagen: Du musst weiter funktionieren, das geht nicht anders."
Mit Bernd ist Bernd Siggelkow gemeint, der für die Familie längst mehr ist als der Leiter einer Freizeiteinrichtung für die Kinder. Bernd Siggelkow ist ein bisschen stolz auf diese Familie. Andere Familien kommen schlechter klar. Schwimmbäder und Freizeiteinrichtungen haben geschlossen, für Vereine fehlt das Geld und für andere Aktivitäten fehlen den Eltern die Ideen oder die Zeit.
Wenn das Telefon klingelt, hat Bernd Siggelkow deshalb immer auch ein bisschen Angst:
"Seit Corona klingelt das Telefon schon öfter. Oder es gibt mitten in der Nacht eine Nachricht. Und ich bin sowieso jemand, der dann sofort aufwacht, wenn das Telefon klingelt. Ich sage mal so: Wenn mich jemand anruft, dann gibt es noch keine Gewalt in der Familie, dann ist man vielleicht kurz vor der Eskalation, dann sucht man noch nach Hilfe. Wenn eine Mutter mich anruft und sagt: 'Ich weiß nicht mehr weiter, ich komme mit meinem Kind nicht klar, kannst du mir mal einen Tipp geben', dann weiß ich, wenn ich jetzt nicht helfen könnte, würde es knallen."

Kinder, die ihren Namen nicht schreiben können

Wieder zurück in der Arche. Hier versuchen die Mitarbeiter das aufzufangen, was Eltern und Schulen nicht leisten können, oder was durch Corona zurzeit nicht leistbar ist. Die Mitarbeiter geben sich alle Mühe, aber die Lücken, die durch Corona entstanden sind, seien kaum noch aufzuholen, sagt Nachhilfelehrerein Daniela Krämer:
"Kinder, die jetzt in der zweiten Klasse sind, denen ist ja sehr viel von der ersten Klasse verloren gegangen. Und wir haben Kinder dabei, die sind zweite Klasse, die können noch nicht mal ihren Namen schreiben, geschweige denn lesen. Die hätten eigentlich nochmal vorne anfangen müssen. Und bei den anderen merkt man dann auch, dass sie sehr viel vergessen hatten."
Zum Beispiel die deutsche Sprache, ergänzt Siggelkow:
"Gerade Kinder, die erst kurz in Deutschland sind, oder kleine Kinder, die zu uns kommen, im Alter zwischen vier und sechs. Zuhause wird natürlich nur in der Landessprache gesprochen, das Fernsehprogramm läuft auch in der Landessprache."
Und vor dem Fernseher verbringen nun die Kinder den größten Teil ihrer Zeit. Bernd Siggelkow ist ein bisschen verzweifelt, versucht aber immer wieder, kreative Lösungen zu finden. Keine große Weihnachtsfeier, aber mehrere kleine. Eine Theateraufführung, aber ohne Eltern. Kindergeburtstage in der Arche, zwar nur mit zehn Personen, aber wenigstens mit den besten Freunden. Seit Kurzem sollen Jugendliche ab zwölf auch in der Arche Masken tragen:
"Wir sind mittlerweile so kreativ, dass wir Möglichkeiten finden, nur Sachen zu machen, wo man die Maske abnehmen kann, die sitzen ja teilweise schon in der Schule mit Maske. Es ist ja auch dauerhaft nicht gesund, nur immer in sein eigenes Tuch zu husten, zu atmen. Das heißt, wir versuchen viel im Freien zu machen, aber auch Tischtennis im Haus, da braucht man auch keine Maske tragen, das versuchen wir schon. Da müssen wir sehr erfinderisch sein."

Traurig und abgehängt

Dennoch – es ist stiller in der Arche als früher. Die Ausgelassenheit und zeitweise Unbeschwertheit, die für Kinder aus armen Familien so wichtig ist: vorbei.
Gerade hier, wo die Infektionszahlen im Berliner Vergleich am niedrigsten sind, hat Corona jetzt schon den größten Schaden angerichtet, meint Bernd Siggelkow:
"Die Kinder merken das natürlich, sie sind traurig. Weil sie abgehängt sind, und sie wissen auch, dass sie abgehängt sind. Die Schule fängt die vielen Probleme nicht auf, die Eltern fangen es nicht auf. Sie verstehen die Situation nicht, sie wissen, was Corona ist, sie haben Ängste, klar, aber sie verstehen nicht und denken: Warum darf ich denn jetzt nicht raus? Ich habe doch kein Corona, ich möchte zu meinen Freunden, ich möchte mich austoben, ich möchte was erleben. Ein Mädchen sagte vor Kurzem zu mir, sie möchte doch auch ihr Leben genießen. Und im Grunde hat sie recht. Im Moment ist nicht viel mit Genießen. Wir als Normaldenkende haben ja schon Probleme mit der Situation, umso mehr haben Menschen damit Probleme, die sowieso nie einen Ausweg sehen."
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