Falsche Identifikation mit den Reichen

Rezensiert von Ernst Rommeney · 11.07.2010
Die "taz"-Redakteurin Ulrike Herrmann hält der von Abstiegsängsten geplagten Mittelschicht den Spiegel vor: Sie unterstütze eine unsoldarische Steuerpolitik, da sie sich zu Unrecht als Teil der Elite fühle.
Die Mittelschicht, davon ist Ulrike Herrmann überzeugt, wird die Folgen von Bankenkrise und Rezession bezahlen. Aber daran sei die Mitte der Gesellschaft selbst schuld, weil sie eine Steuer- und Sozialpolitik unterstütze, die ihren eigenen Interessen schade und nur den reichen Menschen nutze. Die Wirtschaftsjournalistin will politische Irrtümer vor Augen führen. So kämpfe die Mittelschicht um sozialen Aufstieg und identifiziere sich daher mit der Oberschicht. Sie fürchte den sozialen Abstieg und verachte daher die Unterschicht. Und beides sei falsch.

Ulrike Herrmann: "Diese sehr starke Verachtung und Abgrenzung gegenüber der Unterschicht führt dazu, dass die Mittelschicht dann fälschlicherweise immer glaubt, sie sei eigentlich schon fast Elite oder Teil der Elite. Und das führt dann wiederum dazu, dass die Mittelschicht zum Beispiel Steuersenkungen durchwinkt, die eigentlich nur der Elite nutzen."

Denn sie hänge der Illusion an, in einer nivellierten Mittelstandsgesellschaft zu leben. Sie verdränge schlicht, dass einem reichen Fünftel der Bevölkerung fast alle Produktionsmittel gehören. Und sie störe sich nicht einmal an den Lücken der Statistik:

Zitat: Während jeder Hartz-IV-Empfänger seine gesamten Konten offenlegen muss, sind die Daten über die großen Besitztümer und Top-Einkommen eher nebulös. Der Reichtum in Deutschland verschwindet im statistischen Dunkelfeld.

Ulrike Herrmann: "Frage ist natürlich, wie setzen sich die Eliten durch. Und ihr wesentlicher Mechanismus ist, der Mittelschicht zu signalisieren, dass sie eigentlich Teil der Elite sei."

Ja, das ist geschickt, aber ich würde nicht so weit gehen wie Ulrike Herrmann und die wohlhabende Oberschicht auch selbst als Elite bezeichnen. Sie mag sich so fühlen, erfüllt aber mit Geld und Macht allein diesen Anspruch nicht. Mönche von alters her, aber ebenso Künstler, Forscher oder Politiker – nicht jeden, aber einige - zähle ich durchaus zur Elite, obschon sie selten reich oder gar adelig sind. Und so teilt die Mittelschicht zwar mit der Oberschicht Kultur, Bildung und auch Karrierechancen, nicht aber – und darauf will die Autorin ja hinaus - den finanziellen Erfolg.

Zitat: Stattdessen ist das Paradox zu besichtigen, dass die Arbeitnehmer immer qualifizierter sind und real trotzdem weniger verdienen, während die Firmengewinne explodieren.

Die Mittelschicht steigt eben nicht sozial auf, schon gar nicht, wenn Einkommen stagnieren und Arbeitslosigkeit droht. Und daraus zieht sie einen falschen Schluss, kritisiert die Autorin.

Ulrike Herrmann: "Die Mittelschicht hat eben das Gefühl, dass der Staat nur noch dazu da sei, die faule Unterschicht zu alimentieren, und sieht gar nicht, dass eigentlich die Mittelschicht sehr stark genau von diesem Staat doch profitiert, beispielsweise wenn es um das Schulwesen geht. Und dann ist die Mittelschicht eben bereit, zum Beispiel in Privatschulen auszuweichen, obwohl das eigentlich sehr viel teurer ist für sie, als wenn sie das über Steuern finanzieren würde."

Sie setze sich ab – aus Kindergärten, Schulen und Stadtteilen, wo die eigenen Kinder auf die Unterschicht treffen könnten, jene, welche man schon an ihren Vornamen erkennt.

Zitat: Für eine Master-Arbeit an der Universität Oldenburg wurden jüngst 500 Grundschullehrer übers Internet befragt, wie sie bestimmte Namen einschätzen. Eine Lehrerin antwortete gar: Kevin ist kein Name, sondern eine Diagnose.

Es wäre klüger, so Ulrike Herrmann, wenn sich die Mittelschicht mit den bildungsfernen Familien solidarisieren und eine bessere kommunale Infrastruktur einfordern würde. Statt vom Reichtum, vom Status der Oberschicht zu träumen, sollte sie die Gefahr erkennen, dass ihr Wohlstand durch das soziale Ungleichgewicht gefährdet werde, also durch die wachsende Hypothek aus mangelhafter Bildung, Arbeitslosigkeit und Armut der Unterschicht.

Ulrike Herrmann: "Die Mittelschicht wird in diesem Konkurrenzkampf gegen die Eliten und gegen alle anderen verlieren."

Also plädiert sie für "Umverteilung". Es gäbe sie ja bereits, nur ihre Zahlungsströme müssten umgekehrt werden, anstatt von unten nach oben, eben von oben nach unten fließen. Und das würde bedeuten: höhere Steuern und Abgaben für die Reichen. Denn die deutsche Demokratie ruhe auf dem Gründungsmythos, dass sie sich auch ökonomisch für alle auszahle.

Ulrike Herrmann: "Wenn die Mittelschicht nicht bereit ist, einen neuen Blick auf die Steuern zu werfen, wird sie die Schicht sein, die für die Kosten der Finanzkrise aufkommt. Also die Mittelschicht muss unbedingt dafür sein, aus meiner Sicht, den Spitzensteuersatz wieder zu erhöhen - deutlich über 50 Prozent, damit sie nicht allein bleibt, damit die Finanzkrise zu finanzieren."

Ist das nun fatalistisch oder verwegen, gutsituierten, liberal und bis konservativ denkenden Bürgern zu empfehlen, sich für eine neue staatliche Umverteilung von Reich zu Arm einzusetzen, für höhere Steuern also? Denn anzunehmen, sie wären bereit, einer solchen politischen Umkehr zustimmen, würde ja bedeuten, die ganze sorgfältige, interessante und lesenswerte Analyse der Ulrike Herrmann wäre am Ende falsch. Da lacht die Autorin … und lässt den Leser ratlos zurück.

Denn auch ich muss gestehen, höhere Steuern auf Einkommen, Erbschaften und Vermögen würden mir nicht gefallen, weil ich fürchte, sie bewirkten das Gegenteil, nämlich den allgemeinen Verdruss über die Gesellschaft anzuheizen, anstatt den Gemeinsinn zu fördern. Darin hat ja Ulrike Herrmann Recht: Nicht um die Reichen, sondern um die Armen muss sich die Mittelschicht sorgen, weil soziale Ungleichheit auf lange Sicht den Wohlstand aller bedroht.

Ulrike Herrmann: "Hurra, wir dürfen zahlen. Der Selbstbetrug der Mittelschicht"
Westend-Verlag, Frankfurt am Main 2010
223 Seiten, 17,50 Euro
Cover: "Ulrike Herrmann: Hurra, wir dürfen zahlen"
Cover: "Ulrike Herrmann: Hurra, wir dürfen zahlen"© Westend Verlag