Kolumbien

Cyberpatrouillen wecken Ängste vor politischer Zensur

08:03 Minuten
Ein Polizist in voller Schutzausrüstung und mit Schlagstock rennt auf einen Demonstranten zu. Im Hintergrund laufen viele Demonstranten weg.
Anfang des Jahres gab es in Kolumbien Massendemonstrationen wegen einer geplanten Steuerreform. Die Polizei ging dagegen gewaltsam vor, es gab mehrere Hundert Verletzte und Todesfälle. © imago images/Agencia EFE
Von Martina Weber · 04.12.2021
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Kolumbien steckt in der Krise. Um gegen Falschmeldungen im Internet vorzugehen, sollen Cyberpatrouillen das Web durchsuchen – ohne Rechtsgrundlage und auf Basis einer Lüge. Experten fürchten die Einschränkung von Grundrechten durch die Regierung.
Vor fünf Jahren unterzeichneten die kolumbianische Regierung und die FARC-Guerilla ein Friedensabkommen, das Ruhe in das südamerikanische Land bringen sollte. Trotzdem gibt es seitdem nur kleine Fortschritte. Anfang des Jahres gab es Massendemonstrationen gegen eine Steuerreform. Die Polizei ging gegen diese gewaltsam vor, es kam sogar zu Todesfällen.
Bilder und Videoaufnahmen der Vorfälle erregen viel Aufmerksamkeit in den sozialen Medien. Doch in der politisch polarisierten Stimmung verbreiteten sich auch viele Inhalte, die Tatsachen falsch darstellen. Fotos mit verletzten Menschen oder Überfällen werden aus dem Kontext gerissen und von den verschiedenen Seiten für sich genutzt. Doch es ist nicht zu leugnen, dass Polizei und Militär für mehrere Tote und Hunderte Verletzte während der Proteste im April und Mai dieses Jahres verantwortlich sind. Im Fokus der Kritik ist deswegen oft das Verteidigungsministerium, das in Kolumbien Militär und Polizei verwaltet.
Mitten in dieser chaotischen Stimmung im Netz und während der realen Gewalt auf den Straßen, meldete sich am 6. Mai 2021 das Verteidigungsministerium auf Youtube zu Wort. Umrahmt mit dramatischer Musik erscheinen Stempel in roter Farbe mit dem Wort „Falsch“ auf Twitter-Nachrichten, auf Profilen in sozialen Netzwerken und auf Bildern offizieller Unterlagen. Die Streitkräfte würden sich mit Falschmeldungen und digitalem Terrorismus konfrontiert sehen, behauptet eine Stimme aus dem Off.
In anderen Videos sind Kolumbiens Verteidigungsminister Diego Molano sowie ranghohe Kommandeure aller Streitkräfte zu sehen. Sie kommentieren Nachrichten, die nicht korrekt seien. Alles für den Schutz der Bürgerinnen und Bürger, wie sie behaupten.

Ein Fake-Hack als vorgeschobene Begründung

Um diesen auch im Netz zu gewährleisten, sollen sogenannte Cyberpatrouillen eingesetzt werden. Kurze Zeit bevor diese Cyberarmee angekündigt wurde, erweckte die Webseite der kolumbianischen Streitkräfte selbst den Eindruck, als sei sie von einem Hackerangriff betroffen. Weiß auf schwarz stand dort: „Versuch einer Blockade“. Daraufhin nahm die Regierung mit ihrer Kampagne #ColombiaEsMiVerdad – Kolumbien ist meine Wahrheit – die Rolle als Fakten-Checker ein. Die Stiftung für Pressefreiheit in Kolumbien (FLIP) wurde misstrauisch, wie Politologin und FLIP-Beraterin María Paula Martínez erzählt:
“Im Prinzip ist das nicht die Aufgabe der Polizei. Und sie hat auch keine rechtlichen Rahmenbedingungen, die sie zur Überwachung sozialer Netzwerke befähigt oder über Desinformation aufklärt. Also haben wir sie gebeten, ihre Fake-News-Strategie offenzulegen. Welche Art von Inhalten entfernt ihr? Aufgrund welcher Kriterien geschieht dies? Macht es ein Algorithmus, macht es ein Mensch?" Es seien dieselben Fragen, die sie auch Facebook stellten, wenn auf dessen Plattform Falschinformationen im Umlauf sind. "Doch die Polizei teilte uns nur mit, dass sie die Nachrichten einfach identifizieren, und über 21.000 Stunden damit verbracht haben, Falschinformationen zu überwachen und Profile zu scannen – genauere Erklärungen gaben sie dazu nicht ab.”
Tatsächlich beruht die Kampagne “La verdad en un mar de mentiras“ – "Die Wahrheit in einem Meer voller Lügen“ – selbst auf einer Lüge. Denn: Der Hackerangriff auf das Verteidigungsministerium war inszeniert. Das geht nicht nur aus offiziellen Unterlagen des Ministeriums an die Stiftung hervor, sondern ist auch auf der Webseite des Verteidigungsministeriums selbst nachzulesen. Es wird als pädagogische Maßnahme bezeichnet, mit der die Bevölkerung über Fake News aufgeklärt werden sollte. Doch der Grat zwischen dem Kampf gegen Fake News und Gewalt und politischer Zensur, sei schmal, sagt Martínez:
“Es hat viele friedliche Demonstrationen gegeben und die wurden eingedämmt. Doch es gibt auch Fälle, bei denen es zu schwerer Gewalt kam, sogar tödliche." Die Kampagne ziele darauf ab: Das Image der Polizei zu verbessern und damit die Narrative zu ändern. Damit bewirkten sie Verwirrung und Angst auf den Straßen – und das übertrage sich auch auf die Netzwerke. "Sie geben dir das Gefühl: Wenn du in deinem Bett liegst und auf Twitter bist, werde ich dich auch dort überprüfen. Aber Menschen, die mit dem Vorgehen der Sicherheitskräfte oder der Regierung nicht einverstanden sind, müssen sich äußern dürfen, und nicht als Lügner bezeichnet und gebrandmarkt werden.”

Erinnerung an das Kolumbien der 80er

Laut FLIP wurden seit dem Nationalstreik im April fünf Journalisten in Kolumbien durch die Cyberpatrouille bedroht. Während in Nicaragua und Venezuela Fake News und ihre Verbreitung als Straftat gelten, ist in Kolumbien bisher nicht klar, ob tatsächlich durch die Cyberarmee identifizierte Falschmeldungen zu einem Gerichtsverfahren führen können. Zumal es strafrechtlich nicht so einfach wäre, Veröffentlichungen in sozialen Netzwerken als Verbrechen zu belegen.
Dieses undurchsichtige Vorgehen der Cyberpatrouillen weckt große Ängste bei Journalistinnen und Journalisten. Denn eine Internetüberwachung durch jene, die über das Monopol von Waffen verfügen, läuft Gefahr, Stimmen sowohl auf der Straße als auch im Netz zu kriminalisieren. In Kolumbien weckt das dunkle Erinnerungen, etwa bei Carolina Botero, Leiterin der kolumbianischen NGO Karisma:
“Politisch betrachtet ist es eine Angst vor der Regierung. Dass sie erneut etwas veranlassen, was wir früher als eine ‘Erklärung des Belagerungszustandes’ bezeichnet haben." Das Ergebnis: Die Menschen hätten Angst davor, mundtot gemacht zu werden, und vor Zensur in den sozialen Medien. "Es ist die Angst vor einem möglichen Ausnahmezustand – und das erinnert uns in Kolumbien an die Zeit der 80er-Jahre. Eine Zeit, in der der Drogenkrieg in Kolumbien eskalierte und das Militär massiv zivile Freiheiten einschränkte. Das ist eine sehr starke historische Erinnerung."

Keine Garantie für eine demokratische Gesellschaft

Karisma arbeitet an der Schnittstelle von Technologie und Menschenrechten. Mit ihrem Team versucht Botero, Menschen digitale Mündigkeit beizubringen – in einem Land, in dem immer noch rund 45 Prozent der Bevölkerung keinen Zugang zum Internet hat. Mit der Kampagne habe das Verteidigungsministerium die Glaubwürdigkeit als Sicherheitsbehörde verspielt, meint Botero. Statt die Bürgerinnen und Bürger zu schützen, habe es die Waffen gegen sie gerichtet.
“Wenn es Dutzende von Toten gibt, wenn es Hunderte von Verletzten gibt, sexuelle Gewalt, Menschen die ihre Augenlicht durch Gummi- und Glasgeschosse verloren haben, dann ist es für die Regierung sehr schwierig, das zu widerlegen." Es gebe in Kolumbien ein Gewaltproblem, doch dieses Vorgehen der Sicherheitskräfte sei in einer Demokratie nicht zu rechtfertigen, betont Carolina Botero. "Das, was bei den Protesten geschah, ist für mich ein Zeichen dafür, dass es hier in noch keine Garantien für eine demokratische Gesellschaft gibt.”

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