Fahrraddiebstahl

Die Frage ist nicht, ob das Rad geklaut wird, sondern wann

30:50 Minuten
Fahrraddiebstahl: Ein Bolzenschneider knackt ein Fahradschloss von einem Rad, dass an einer Laterne steht.
München, Magdeburg, Fürth zeigen, dass bei Fahrraddiebstählen eine höhere Aufklärungsquote möglich ist. © imago/Olaf Dering
Von Jenni Roth · 31.03.2020
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300.000 Fahrräder werden pro Jahr gestohlen. Die Täter: Junkies und kleine Gauner, die schnell ein paar Euro brauchen. Aber auch organisierte Banden, die ganze Straßenzüge leerräumen. Die Polizei ist oft machtlos. Dabei könnte sie mehr tun.
Unterwegs in Berlin-Neukölln. Thomas "Thommy" Müller, lässiger Typ in Kapuzenpulli und mit Zopf, inspiziert die Fahrräder, die auf der Straße rund um seinen Fahrradladen stehen. Viele sind nur mit einem Kabelschloss angeschlossen, gar nicht, oder mit Klappschlössern für 100 Euro.
"Ein Abus-Schloss, das kriegen die Diebe, die ein bisschen geübt sind, in circa 20 Sekunden auf", erklärt Müller. "Die spezialisieren sich auf einen Schlosstyp, dann wird zu Hause geübt, geübt, bis die das im Schlaf können, dieses Schloss aufmachen."
Passt zur Statistik: Alle 17 Minuten wird in Berlin ein Fahrrad gestohlen. Ein deutscher Spitzenwert. Deutschlandweit wurden 2019 knapp 300.000 Fahrräder gestohlen. Oder besser: als gestohlen gemeldet. Weil aber nur wenige Betroffene zur Polizei gehen, dürfte die Dunkelziffer um einiges höher liegen.
Seit zehn Jahren arbeitet Thommy hier, oft repariert er die Räder vor seinem Kellerladen. Er kennt die Straße, den Kiez, die Menschen, die hier unterwegs sind: "Man kann die Leute einschätzen, man hat so ein Gefühl, wie die sich bewegen, das ist so eine eigene Geschichte. Die haben einen sehr suchenden Blick nach links und rechts, das weiß man, das beobachtet man."

Einzelteile lassen sich risikoloser verkaufen

Fahrraddiebstahl scheint zumindest in größeren Städten eine Art Naturgesetz zu sein: Die Frage ist hier nicht, ob es geklaut wird, sondern wann, wo und von wem: Von Banden, die zwei drei Dutzend Räder in Lieferwagen über die polnische Grenze bringen. "Kleine" Gauner, Drogenabhängige, die schnell ein paar Euro brauchen für den nächsten Schuss. Oder Gelegenheitstäter, Jugendliche, die ihre Beute bei Ebay-Kleinanzeigen einstellen.
Professionelle Einzeltäter, die die Räder auseinandernehmen und die Einzelteile im Internet verkaufen – und damit ein gutes Geschäft machen. "Die Einzelteile sind anders als der Rahmen nicht mit einer Nummer oder einer Codierung versehen", sagt Roland Huhn, Sicherheitsexperte beim ADFC, dem Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Club. "Da ist das Risiko, entdeckt zu werden, geringer. Das Risiko, erwischt zu werden, ist gering. Die Chance, mit den oft für teures Geld hochgerüsteten Rädern im Netz einen schnellen Euro zu machen, groß."
Wie groß? "Interessante Frage, auch für Wirtschaftswissenschaftler", sagt Huhn. "Denn diese 300.000 oder mit Dunkelziffer 600.000 Fahrräder sind ja wieder in den Wirtschaftskreislauf gelangt. Das sind enorme Werte."
Und gewissermaßen ist der Fahrraddiebstahl auch ein verkehrspolitisches Thema: Womöglich würden mehr Leute auf das Fahrrad umsteigen, wenn es nicht immer wieder verschwinden würde oder sie es nicht in den vierten Stock ihrer Wohnung tragen müssten.

"Ich hatte mal eine schöne kleine Wohnung, da stand auf dem Hinterhof monatelang ein schwarzes Herrenrad mit pinken Felgen. War nicht angeschlossen. Ich hab das beobachtet, das bewegt sich auch nicht. Das gehört niemandem. Irgendwann hab ich es mir geschnappt und dachte mir, wenn es nur so rumsteht, kann ich damit auch fahren. Eines Tages fuhr ich dann in die Pappelallee rein und da sprang ein großer Mann mit ganz langen Beinen vor meinen Vorderreifen und rief: Stopp! Das ist mein Fahrrad – Wirklich? Ja, das ist mir vor Monaten geklaut worden. Dann standen wir da in einer Schachmattsituation, er hatte keinen Beweis, ich hatte keinen Beweis. Dann haben wir beschlossen, das friedlich zu regeln. Er meinte, er braucht es auch nicht wirklich. Dann hab ich gesagt, okay, ich kauf es dir ab, hier 20 Euro. Er hat mir einen Kaufvertrag mit Stift und Zettel geschrieben, den haben wir beide auf der Straße unterschrieben. Ironie des Schicksals war natürlich, dass mir nicht allzu lange Zeit später das Fahrrad auch wieder geklaut wurde." (Jennifer)

Das Fahrrad dieser Berlinerin ist jetzt Teil einer Statistik, die für Deutschlands Strafverfolger wenig rühmlich ist: Die Aufklärungsquote ist so niedrig wie bei kaum einem anderen Delikt. Im Schnitt wird jeder zehnte Diebstahl aufgeklärt, in Städten sind es nur fünf Prozent, Berlin steht mit 3,9 Prozent besonders schlecht da. Wobei auch mittelgroße Unistädte wie Magdeburg oder Münster "vorn" liegen – weil dort überproportional viel Rad gefahren wird.
Aber warum werden überhaupt so viele Räder gestohlen? Warum so wenige wiedergefunden? Wer stiehlt die Fahrräder? Was passiert mit ihnen und wie kriegt man sie zurück?

Fall I: Der schnelle Euro

"Wir haben hier ein Drogenproblem, das ist hier direkt zum U-Bahnhof Schönleinstraße, das ist schlimmer geworden. Das eine zieht das andere ja nach sich. Die Leute, die hier ein Fahrrad stehlen, sind zu 90 Prozent auf Geld organisieren aus, für einen schnellen Schuss. Ich habe mal einen Dieb auf frischer Tat erwischt, vor dem Haus, da hockte so ein kaltschweißiger langer Latsch und hat versucht, mit einer Schere krampfhaft das Schloss von einem Fahrrad aufzubrechen. Den habe ich aus dem Gebüsch gezogen und meinte, was machst du da, der hatte sich schon die Hände aufgeschnitten. Der brauchte unbedingt irgendwas, der hat so verzweifelt versucht, sich ein Fahrrad, also Geld zu organisieren."
Oft sind es Junkies, Drogenabhängige, die schnell Geld brauchen – und deshalb versuchen, ihre Beute so schnell wie möglich weiterverkaufen. An Touristen zum Beispiel, die für vier, fünf Tage ein billiges Rad brauchen – oder an Fahrradhändler.
"Die erzählen mir auch Geschichten: Das ist von meiner Frau, die mag das nicht mehr. Die Geschichten sind alle erfunden, fast schon witzig", so Fahrradhändler Thommy. "Da kommt ein langer Kerl an mit einem Fahrrad von einem Kind, und erzählt mir: 'Irgendwie hab ich mich verkauft, das passt mir nicht.'"
Der Besitzer des Fahrradladens in Berlin vor seiner Tür.
Fahrradhändler Thommy bekommt immer wieder gestohlene Räder angeboten.© Jennifer Roth
Manchmal kauft Thommy auch offensichtlich gestohlene Räder – und ruft dann Stefan Kliesch an. Kliesch, 55, ist Kriminalkommissar bei der Berliner Polizei. Früher war er viel mit den Hundertschaften unterwegs, auch öfter mal am 1. Mai in Kreuzberg.
Heute ist er auch noch manchmal draußen, wenn zum Beispiel mal wieder der Konflikt mit den Linksautonomen in Friedrichshain eskaliert. Aber meistens sitzt er am Schreibtisch, Abteilung Sachfahndung. Sein Job: Hehler schnappen, Ware sicherstellen, Ware zurückbringen, Anzeigen schreiben, vor Gericht aussagen. Sein Revier: die Bezirke Friedrichshain, Kreuzberg und Neukölln, wo auch Thommy seinen Laden hat.
"Thommy ist einer, der kauft die, nur damit die Geschädigten die wiederbekommen", sagt Kliesch. "Er gibt mir die Räder, ich bringe sie dann zurück. Die wissen oft gar nicht, dass die geklaut sind, weil die frisch dahin kommen. Ich sag dann: Der Thommy von der Bürkner, wär nett, wenn Sie mal hingehen und sich bedanken."
Kliesch ist ein sportlicher Typ, er fährt selbst viel Rad, hat gerade erst wieder einen Iron Man absolviert. Vier verschiedene Räder stehen bei ihm zu Hause. Aber er interessiert sich nicht nur für Profiräder für 8000 Euro. Die für 80 Euro sind ihm genauso wichtig.
Für Kliesch ist ein Fahrrad ein Fahrrad und es gehört jemandem, der es braucht. Er ärgert sich mit, wenn so ein Fahrrad gestohlen wird – und auch darüber, dass Berlin, eine der Hauptstädte des Fahrraddiebstahls, nicht einmal eine eigene Dienststelle dafür hat. "Dann gibt es in der Direktion eine Dienststelle, die auch Fahrraddiebstähle bearbeitet, auch Kellereinbrüche, aber es ist ein Massendelikt, das leider größtenteils nur verwaltet wird. Weil es Massen an Diebstählen gibt, gegen die man schwer ankommen kann. "

"Ich fahre auf dem Spreewaldplatz, und vor mir fährt ein Typ auf dem Fahrrad. Mario hatte damals ein auffälliges, altes Diamantfahrrad mit so einem kleinen Ledertäschchen in blau und wunderschön am Sattel. Und der Typ saß auf genau so einem Rad. Ich bin dem hinterher gefahren, und dann standen wir an der Ampel und ich hab zu dem gesagt: Sag mal, wo hast du das Fahrrad her? Der ist sofort von dem Fahrrad runtergesprungen und hat gesagt: Ist das deins? Ich hab es nicht geklaut! Und hat es mir in die Hand gedrückt und ist weggerannt. Dann habe ich Mario angerufen und gesagt: Wo ist denn dein Fahrrad? Und er hat gesagt: Warum? Vor der Tür. Dann ist er runter und hat gesagt: Ja, das steht hier. Und dann war das gar nicht sein Fahrrad, der Typ hatte das offensichtlich geklaut und irgendwie fand ich es auch karmamäßig nicht cool. Also hab ich es stehenlassen und gehofft, dass es jemand findet, der eins braucht." (Lisa)

"Da ist ein schöner Ledersattel", sagt Fahrradhändler Thommy. "Auch ein schönes Rad. Ein alter Cruiser. Lächerlich – hier: Aufbruchspuren. Hier die Abus-Kette, hier hat wer versucht, aufzubrechen, deshalb fehlt die Plastikabdeckung. Die Kette ist gehärtet, ab hier ist Zinkguss. Man kann es ganz einfach wegbrechen. Schaden ungefähr 400 Euro, wenn das weg ist. Die, die schnell Geld brauchen, die nehmen es mit so einem Schloss mit. Das sieht man hier, da gehen die gar nicht an den Zylinder ran, sondern hier ist das Kabel rausgezogen, da braucht man kein spezielles Werkzeug, man nimmt ein Stück Rohr, knebelt das rum und schon hat man das komplette Rad. Die Junkies klauen Sättel, oder solche Räder, die leicht zu klauen sind. Oft von Leuten, die kurz zum Bäcker sind: 'Ich hab mein Fahrrad ja im Blick.' Aber spätestens bei Bezahlen guckt man ins Portemonnaie, und in dem Augenblick, das wissen die, da schlagen die zu."
Oder sich schnappen sich das Rad und fahren einfach los: "Klar, die kennen da nichts", sagt Thommy. "Das ist denen auch egal. Bei der Tat direkt erwischt zu werden, ist das Schlimmste, was ihnen passieren kann."
Aber selbst dann haben sie nicht viel zu befürchten, sagt der Ermittler: "Es werden auch viele Fahrraddiebe auf frischer Tat festgenommen, aber Fahrraddiebstahl wird von der strafrechtlichen Würdigung in etwa eingestuft wie Schwarzfahren. Ich weiß nicht, wie viel Mal einer, der mit Bolzenschneider ein Fahrrad klaut, erwischt werden muss, bis er einen Haftbefehl bekommt. Das ist ein großes Problem, der Fahrraddiebstahl wird bagatellisiert."
Ein Mann trägt ein Fahrrad über der Schulter weg.
Ein Handgriff reicht, und das Fahrrad ist weg, wenn es nirgendwo festgeschlossen war.© imago / Localpic
"Natürlich würden wir vom ADFC immer sagen, die Polizei tut nicht genug", meint Roland Huhn vom ADFC. "Trotzdem sollte man anzeigen, denn das zeigt auch die Dringlichkeit des Problems. Wenn die Polizei nur von der Hälfte der Diebstähle erfährt, ist für sie auch nur halb so dringend. Aber es ist ein Delikt, das für die Polizei schwer aufzuklären ist. Bei anderen Delikten, Wohnungseinbrüchen, da haben Sie Spuren. Man schaut sich an, hat der Täter ein Fenster aufgehebelt, die Tür aufgebrochen, erkennen wir Handschrift eines Täter wieder. Beim Fahrrad: Das Fahrrad ist weg, das Fahrradschloss nehmen die Täter auch mit und werfen es hinterher ins Gebüsch oder in die Spree, Elbe, Weser. Das hinterlässt keine Spuren. Es gibt keinen Ansatzpunkt für Ermittlungen."
In Neukölln und Kreuzberg werden die Rahmen gern in den Landwehrkanal geworfen. Wie viele es sind, sieht man, wenn hier das Baggerschiff entlangfährt – die Ladefläche ist dann voller Fahrradreste. So ein Rahmen – von Muscheln überwuchert – steht auch vor Thommys Laden. "100 Prozent geklaut", sagt er.

Fall II: Professionelle Einzeltäter

Auf der Straße ein Fahrrad zu kaufen, ist nicht schwer, zumindest nicht in größeren Städten. Am Rand von Wochen- oder Flohmärkten. In Berlin zum Beispiel besonders beliebt: der Obi-Flohmarkt im Neuköllner Industriegebiet. In den Straßen, an den Bahnhöfen rund um den Markt könnte man einige Diebe aufspüren, glaubt Stephan Kliesch von der Polizei:
"In dem Umfeld, da stehen die wilden Fahrradhändler. Das ist auch ein breites Klientel, vom Drogenabhängigen bis zum Jugendlichen. Wer steht Sonntag vor einem Flohmarkt und verkauft dort Fahrräder ohne Papiere? Selbst wenn man sich einen handgeschriebenen Vertrag machen lässt – das kann nicht okay sein. "
Die Verkäufer sind oft professionelle Einzeltäter, die auch im Internet aktiv sind. Auch auf Ebay oder Kleinanzeigen gibt es ein paar Punkte, auf die man achten kann: Wenn zum Beispiel private Händler gleich mehrere Räder im Angebot haben. Umgekehrt suchen im Internet auch Tausende nach ihren verschwundenen Rädern. Auf Ebay, auf eigenen Internetseiten wie fahrrad-gestohlen.de oder Facebook-Seiten wie "Stolen Bikes Berlin". Was die Polizei nicht mehr kann, soll nun die Crowd regeln. Oder jeder für sich: Es kann nie schaden, zu gucken, ob es in der näheren Umgebung im Karree abgestellt wurde, ob es irgendwo im offenen Hof steht.

"Mir wurde mein grünes Rennrad aus dem Keller geklaut, ich habe Anzeige erstattet, damit gerechnet, dass ich das grüne Fahrrad nie wieder sehe. Ich war im Fitnessstudio, sah draußen wen auf meinem Fahrrad vorbeifahren. Bin rausgerannt, hat natürlich total geregnet, in kurzen Klamotten. Bin dem Typen hinterhergerannt, gerannt, gerannt, hab ihn aus den Augen verloren, weil er eine Ampelphase vor mir über Grün gefahren ist. Drei Wochen später mit neuem Fahrrad einkaufen gefahren. Hab auf einmal vor mir mein Fahrrad gesehen. Da saß diesmal ein anderer Typ drauf, fünf Meter entfernt. Also kurz geklingelt, hab zu dem Typ gesagt: Hey, kannst du kurz anhalten? Er hat angehalten, ich meinte dann ganz sachlich: Kannst du mal absteigen? Und ich hab gesagt: Du sitzt auf meinem Fahrrad. Er war perplex. Ich hab gefragt, wo hast du das Fahrrad her, hast du einen Kaufvertrag? Er meinte, er hätte es auf einem Flohmarkt gekauft, hatte natürlich keinen Kaufvertrag. Ich meinte, ich müsste die Polizei anrufen. Er meinte, ich kann dir vorschlagen, dass du die Polizei nicht rufst und ich dir das Fahrrad jetzt einfach gebe, hat sein Schloss abgemacht, ja, tut mir leid, und ist gegangen."

Wegen des Personalmangels legen die Beamten oft nur noch Aktenzeichen an und geben einen Standardbrief zur Post: Verfahren eingestellt, Täter kann nicht ermittelt werden. Keine Unterschrift, aus Rationalisierungsgründen. Dabei zeigt die Erfahrung: Bessere Aufklärungserfolge haben Städte, in denen die Diebstahlsdelikte zentral bearbeitet werden und nicht in jedem Stadtteil einzeln, sagt auch Roland Huhn vom ADFC:
"Wenn in jedem Polizeirevier die Delikte einzeln bearbeitet werden, kommt man Tätern, die in der ganzen Stadt tätig sind, nicht auf die Spur. Wenn es zentral zusammengefasst wird, fällt eher auf: Täter A, den hatten wir doch letzte Woche schon, aber in einem anderen Stadtteil, jetzt ist er wieder aufgefallen, in einem anderen Teil der Stadt. Solche Intensivtäter fallen auf und sind für den Großteil der Diebstähle verantwortlich."

Aufklärung: eine Frage der Ressourcen und des Willens

Tatsächlich gibt es Beispiele, die zeigen, dass eine bessere personelle Ausstattung hilft: beim Kategorisieren der Vorgehensweisen, beim Filtern der Schwerpunkte, beim Zusammentragen von Erkenntnissen.
Fürth: Zwei Sachbearbeiter kümmern sich um nichts anderes als Straßenkontrollen, Überprüfen von Rahmennummern, um sie mit ihrer Liste gestohlener Räder abzugleichen. Im Verdachtsfall Angaben über den Kauf in den angegebenen Läden nachprüfen. In drei Jahren halbierte sich die Zahl der gestohlenen Räder. Aufklärungsquote: 25 Prozent.
München: Kontrollen wurden aufgestockt. Bayerns Innenministerium setzt auf mehr Schleierfahndung, also Fahndungen im grenznahen Raum. Aufklärungsquote: 17,1 Prozent.
Magdeburg: Von 2007 bis 2011: Zentrale Bearbeitung der Fälle, nicht nach Revier. Bis zu sieben Beamte kümmern sich nur um Fahrraddiebstähle. Aufklärungsquote: bis zu 42,6 Prozent.
Aber selbst wenn mehr Fälle aufgeklärt werden – gestohlen wird weiter. Rolf Wietzer hat in seinem Fahrradladen Velophil in Berlin-Moabit sogar eine eigene Wand nur für "Berlin-Schlösser", wie er sagt:
"Worauf es ankommt: Dass die an sich sehr stabil sind, und dass sie einen Schlossmechanimus haben, der nicht mit Lockpicking zu knacken ist, also dass mit kleinen Werkzeugen der Schlossmechanismus geknackt wird."
Grundsätzlich sei aber jedes Schloss zu knacken, so Wietzer: "Ich habe einen Kunden, der ist bei den 'Freunden der Schließtechnik' – ein Verein –, die hobbymäßig Schlösser öffnen. Der ist IT-Ingenieur, der hat mein altes Schloss in sechs Sekunden aufgehabt. Der fühlt das. Der setzt das Schloss unter Spannung, geht mit einem kleinen Werkzeug ran, das sieht aus wie beim Zahnarzt, er fühlt genau, wo er das hochdrückt. Sechs Sekunden. Mir ist ganz übel geworden."
Aber auch weniger Professionelle kommen mit einer Akku-Flex letztlich überall durch. Besonders beliebt sind gehobenere Wohngebiete: Dort kundschaften die Diebe die Hinterhöfe aus, nachts fahren sie dann mit ihren Lieferwägen vor, um gleich ganze Straßenzüge "abzuarbeiten". Das geht so schnell – bevor da jemand aufwacht oder sogar die Polizei ruft, sind die Räder längst auf die Ladeflächen gepackt. Oft sind das aber keine Einzeltäter mehr, sondern organisierte Banden.

Fall III: Das organisierte Verbrechen

"Das war am Tempodrom, da waren eine Reihe Räder angeschlossen, die waren nur in sich abgeschlossen, weil da keine Abstellanlagen waren, oder sie waren voll. Ich hab beobachtet, wie ein Lieferwagen vorfuhr und Leute die Räder einluden in einen Wagen."
Oft fahren die Täter dann direkt Richtung Grenze: Aus Berlin nach Polen, aus der Fahrradstadt Münster etwa Richtung Niederlande. Tatsächlich ist Fahrraddiebstahl oft ähnlich gut organisiert wie etwa Wohnungseinbrüche oder Autodiebstähle.
"Die Gruppen, die ich ermitteln konnte, die haben sich zu 99 Prozent auf Fahrräder spezialisiert", sagt Polizist Stephan Kliesch. "Da konnte ich Anbieter in Polen finden, die zeitgleich 40 bis 50 Fahrräder im Preisniveau von über 1000 Euro anbieten, sehr professionell. Es gibt dort Lagerhallen, das ist professionell. Genauso gibt es wie im KFZ-Bereich Gruppen, Banden, die die dann sofort gezielt in Transportern nach Polen bringen beispielsweise oder noch weiter in die Ukraine bis nach Russland. Dort tauchen sie dann in Internetforen auf."

"Ich war neu in Berlin, hab bei Kleinanzeigen ein Fahrrad gefunden, beschrieben als 26er rosa Damenrad. Ich kam dahin, die führten mich in den Hinterhof. Die meinten, es gibt ein Problem: Es ist doch ein 28er, grünes Herrenrad, ist das ok? Klar, umso besser. Hab so 100 Euro gezahlt, nicht viel. Ich bin damit lange gefahren, bin dann mal angehalten worden von der Polizei, weil ich telefoniert hab beim Fahrradfahren. Dann haben die das gleich genutzt, um mein Fahrrad zu checken, haben die Nummer eingegeben, telefonierten, und meinten dann: Das ist komisch, die Nummer ist registriert als gestohlen, aber es ist offensichtlich kein rosanes 26er Damenrad. Du kannst also weiterfahren. Ich bin es dann noch ne ganze Weile gefahren, bis es wirklich gestohlen wurde." (Sören)

Es sind hochprofessionelle Banden, die sich durch die Städte bewegen wie durch einen Selbstbedienungsladen. Und die wissen: Sobald sie über die Grenze sind, haben sie wenig zu befürchten: Gestohlene Fahrzeuge, Banknoten oder Ausweise sind im europäischen Fahndungssystem eingespeist – Fahrräder nicht.
Wären die Fahrräder nicht Fahrräder, sondern Autos, wären sie also mit der Anzeige bei der Polizei automatisch europaweit zur Fahndung ausgeschrieben. Warum aber werden die 1,2 Millionen gespeicherten Fahrraddaten nicht geteilt? Laut BKA soll sich das bald ändern.
Noch stapeln sich auf seinem Schreibtisch aber die Fälle, in denen Kliesch Fahrräder aus Berlin auf polnischen Webseiten wiedergefunden hat. Offiziell hat der Kommissar etwa zehn Stunden pro Woche für Fahrraddiebstähle – eigentlich nicht einmal genug für seine drei Bezirke. Trotzdem sucht er auch nach Rädern auf ausländischen Webseiten. Und wundert sich immer wieder, wie offen die Hehler ihre Ware anbieten und dabei oft gleich noch ihre Kontaktdaten mit angeben. Offensichtlich haben sie nicht viel zu befürchten.
"Fahrräder interessieren keinen. Das musste ich erleben mit zwei großen Banden, mit der Staatsanwaltschaft. Da waren Fahrräder mit weit über 100.000 Euro Schaden. Aber Fahrräder: 'Pah, da mach ich doch kein Ersuchen, dass Polen was ermitteln.' Öfter hab ich schon teure Fahrräder für 6000 bis 7000 Euro in Polen gefunden, die zweifelsfrei hier gestohlen wurden. Da blieb den Personen nichts übrig, als mit einem Dolmetscher, Papieren und Anwalt nach Polen zu fahren, zur Polizei zu gehen, Anzeige zu erstatten. Aber von uns aus, von der Polizei, da passiert nichts. Die Polen verweisen sofort darauf, dass sie nur tätig werden über eine Anfrage der deutschen Justiz, aber die deutsche Justiz, Staatsanwaltschaft, schickt kein Ermittlungsersuchen nach Polen wegen eines Fahrrades."

100 Millionen Euro Versicherungsschaden

Bisher jedenfalls hat Kliesch keine einzige Rückmeldung von einem Staatsanwalt bekommen – egal, wie hoch die Schadenssummen sind. Die Banden lockt das geringe Risiko. Und die Versicherungen zahlen. Wenn zum Beispiel gezielt größere Läden ausgeraubt werden, können das schnell Hunderttausende Euro sein.
"Da hat man diese riesigen Fahrradläden in neueren Industriegebieten, wo nur Metallwände sind. Da kann man mit einem kleinen Bagger durch die Wand fahren, da werden in Ruhe dann ganze Läden leergeräumt. Da holen sie 50 E-Mountainbikes am Wochenende aus dem Laden raus, das sind ganz schöne Schadenssummen."
Im Jahr 2019 lag die Summe der Versicherungsschäden bei Raddiebstählen bei 100 Millionen Euro. Für jedes gestohlene Fahrrad zahlten die Versicherer im Schnitt 630 Euro – 60 Euro mehr als im Vorjahr und überhaupt: so viel wie nie zuvor.
Die Versicherungssummen steigen aber auch, weil die Fahrräder teurer werden. Und je teurer das Fahrrad, desto eher wird es auch versichert. Dazu steigen vor allem viele ältere Menschen auf – hochwertigere – Ebikes um, erklärt Sören Hirsch, Sales Manager beim Fahrradversicherer Enra:
"Allerdings gibt es auch einen Gegentrend, der sportive Bereich, EMTB oder E-Rennräder, wo wir auch eine jüngere Zielgruppe haben, die sich da absichert. Auch der Fachhandel hat die Versicherung als Kundenbeziehungstool oder Umsatztool. Der Fahrradhandel bindet den Kunden noch näher: Ich biete dir nicht nur das Fahrrad, sondern auch den Diebstahlschutz. Da ist Kunde eher veranlagt, bei Problemen immer zum Fahrradhändler zurückzukommen und sich nicht einen neuen auszusuchen."
Hat der Bestohlene Anzeige erstattet, kann er mit den Papieren zu seinem Händler gehen. Der vermittelt sie an die Versicherung, sagt Sören Hirsch.
"Wir versichern bis maximal sieben Jahre, selbst wenn das Fahrrad sechs Jahre und 11 Monate ist, kriegt er die Summe, die er für das ehemalige Fahrrad versichert hatte, zur Verfügung gestellt, um sich ein neues auszusuchen. Das zahlen wir an den Fachhändler. Wir wollen das Geld gern in der Branche behalten und nicht, dass es ein neues Sofa oder Fernseher gibt. Dadurch, dass wir direkt an den Fachhändler auszahlen, wollen wir auch das Thema Betrug so ein bisschen rausnehmen. Wir hatten Fälle, wo Fahrräder im Bekanntenkreis wieder aufgetaucht sind, letztlich ihren alten Eigentümer zurückgefunden haben und der Kunde das Geld eingesteckt hat."

Im Frühjahr werden besonders viele Räder geklaut

Man kann sein Fahrrad aber auch in der Hausratsversicherung mitversichern. Wobei man mit etwas Pech bei mehreren Diebstählen aus der Versicherung fliegt. Und: Es gibt große regionale Unterschiede: Weil etwa in Berlin pro Haushalt im Schnitt fünfmal so viele Räder gestohlen werden, kostet die Versicherung in Berlin für ein 1000-Euro-Rad beispielsweise 200 Euro pro Jahr, in einem bayerischen Dorf dagegen nicht einmal die Hälfte.
Interessant auch: Die meisten Fahrräder werden laut dem Versicherer "Wertgarantie" in den Monaten April, Mai und Juni gestohlen. Und, das zeigt die Kriminalstatistik, besonders gern da, wo viele Räder stehen: an Bahnhöfen, vor Schulen, Schwimmbädern oder Einkaufszentren. Schließlich fällt es hier wegen der vielen Menschen kaum auf, wenn sich jemand ein, zwei Minuten an einem Fahrrad zu schaffen macht.
An Bahnhöfen in der Provinz wiederum sind zwar kaum Menschen – trotzdem sind sie ein beliebtes Ziel für Diebe, sagt Stephan Kliesch:
"Dort an den Bahnhöfen ist alles voll mit Fahrrädern, weil die Leute, die da abstellen, die Pendler, die fahren dann mit der Bahn in die Stadt, da stehen dann 100, 200 Räder, freie Auswahl, da ist kein Mensch tagsüber."
Ein grauer Metallcontainer mit abschließbaren Stellboxen für Fahrräder.
Sichere Abstellboxen für Fahrräder wie hier in Essen könnten die Zahl der Diebstähle verringern.© imago / Gottfried Czepluch
Fahrradparkhäuser gerade an Bahnhöfen wären eine Lösung. Bisher gibt es sie nur in wenigen Städten wie etwa in Münster. Eine andere Möglichkeit sind GPS-Sender, die zum Beispiel am Rücklicht angebracht werden. Der sollte allerdings so unauffällig sein, dass er nicht als erstes vom Dieb unbrauchbar gemacht wird. Das Problem bei diesen Tracking-Sendern: Sie funktionieren nur im Freien, erklärt ADFC-Sicherheitsexperte Huhn:
"Wenn der letzte Standort des Fahrrads vor einem Zehnfamilienhaus ist und das Fahrrad verschwindet im Haus, dann glaube ich nicht, dass ein Amtsrichter der Polizei einen Durchsuchungsbefehl ausstellen würde, bei dem dann zehn Wohnungen durchsucht werden und in neun garantiert Unschuldige belästigt werden."
Bleibt am Ende, sein Fahrrad NICHT auf den Hof zu stellen, rät auch Fahrradhändler Thommy aus Erfahrung.
"Das sag ich auch den Leuten: Parkt es lieber auf der Straße, unter einer beleuchteten Laterne, als auf dem Hof. Weil, wenn es auf dem Hof klappert, denkt sich keiner was dabei: Ach, ist der Nachbar, der kommt nach Hause, schließt sein Fahrrad ab. Aber auf der Straße, wenn's da rappelt, da guckt man schonmal raus."

Die Kurve zeigte 2019 leicht nach unten

Immerhin: In den letzten Jahren zeigt die Kurve der gestohlenen Räder in der Statistik leicht nach unten. Bessere und teurere Schlösser dürften ein Grund sein. Ein anderer: Die gestiegene Zahl der Leihräder: Wer mit so einem Rad durch Stadt fährt, fährt nicht mit eigenen Rad. Touristen sind eben keine so guten Abnehmer mehr, sagt auch Stephan Kliesch:
"Das ist eine Glückseligkeit von den Leihrädern und Escootern, auf die die Touristen gern zurückgreifen, dass sie sich nicht auf der Straße ein Fahrrad für 50 Euro kaufen müssen, von dem sie nicht wissen, ob es den Tag übersteht."

Eine Alternative, um trotzdem zur Arbeit oder zum Supermarkt zu kommen, ist für viele das Fahrrad. Und genau darum dürfen auch Fahrradwerkstätten in allen Bundesländern trotz Corona-Shutdown weiterhin geöffnet haben.

Hören Sie dazu Ramona Westhoffs Beitrag in "Länderreport":
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