Begehrte Fachkräfte

Türkische Ärzte zieht es nach Deutschland

07:27 Minuten
Zwei Ärztinnen und ein Arzt gehen in einem Krankenhausflur.
Suche nach Sicherheit und gutem Leben: Deutschland ist nicht zufällig die erste Wahl vieler türkischer Mediziner, die ihre Heimat verlassen wollen oder müssen. © imago images / PantherMedia / Arne Trautmann
Von Luise Sammann · 28.02.2022
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Der Türkei laufen die Ärzte davon. Allein im Jahr 2021 verließen laut türkischer Ärztekammer mehr als 1500 Mediziner das Land. Die meisten von ihnen träumen von einer beruflichen und privaten Zukunft in Deutschland. Ein Weg, der viel Geduld erfordert.
Ferhat Kara , Urologe aus Istanbul, sitzt in einem türkischen Café in Berlin. Draußen an der Scheibe läuft seit Stunden der Regen hinunter, müde Menschen hetzen mit gesenkten Köpfen durch die Abenddämmerung.
Ob er sich nach fünf Jahren in Deutschland inzwischen hier zu Hause fühlt? Der türkische Arzt nimmt einen Schluck aus seinem Teeglas, zuckt mit den Schultern.

Weggehen – eine sehr schwere Entscheidung

„Das Land, in dem man mehr als 40 Jahre gelebt hat, verlassen zu müssen, ist eine sehr, sehr schwere Entscheidung. Aber leider war für mich klar: Wenn ich dort bleibe, werde ich meinen Beruf nicht mehr richtig ausüben können, vielleicht sogar im Gefängnis landen“, erzählt er.
„Das hätte nicht nur mich, sondern meine ganze Familie getroffen. Da entscheidet man sich gezwungener Maßen für ein Leben in Freiheit. Auch wenn es bedeutet, in meinem Alter noch eine völlig neue Sprache und Kultur lernen zu müssen, seine gesamte Umgebung zu verlassen.“
Ferhat Kara geht auf die 50 zu. In der Türkei arbeitete er jahrzehntelang als Facharzt in angesehen Privat- und Unikliniken. Trotzdem entschied er sich, kurz nach dem Putschversuch im Sommer 2016 zu gehen – und nicht nur er.
Statistiken der türkischen Ärztekammer zeigen: Allein in den ersten elf Monaten des vergangenen Jahres verließen etwa 1500 Mediziner die Türkei. Viele von ihnen flohen wie Ferhat Kara vor dem politischen Druck, den die Erdogan-Regierung seit dem Putschversuch 2016 auf Oppositionelle – und seit Beginn der Corona-Pandemie ganz gezielt auf kritische Ärzte und Ärztinnen ausübt.

Harte Arbeitsbedingungen in türkischen Kliniken

Sie seien schuld an der Pandemie, warf Erdogan ihnen vor. Wer seine Corona-Politik oder die offiziellen Infektionszahlen infrage stellte, musste mit harten Konsequenzen rechnen. Auch körperliche Angriffe durch unzufriedene Patienten gehörten für viele türkische Mediziner inzwischen zum Alltag, berichtet Ferhat Kara. Die Arbeitsbedingungen in türkischen Krankenhäusern seien in Deutschland schlicht unvorstellbar.

Das ist absolut unvergleichbar. Ohne zu übertreiben, kann ich sagen, dass man in einer türkischen Klinik während einer Nachtschicht manchmal mehrere Hundert Patienten betreut. Oft 24 Stunden am Stück oder auch deutlich länger. Natürlich gibt es Unterschiede von Krankenhaus zu Krankenhaus. Aber die durchschnittliche Belastung ist definitiv viel höher.

Ferhat Kara

Der Urologe Ferhat Kara hat all das hinter sich gelassen. Die 40-Stunden-Woche in seinem neuen Job in einer Berliner Klinik komme ihm manchmal vor wie ein Spaziergang, sagt er lachend.
Deutschland ist nicht zufällig die erste Wahl vieler türkischer Mediziner, die ihre Heimat verlassen wollen oder müssen, sagt Kenan Katmer. Er hat in den vergangenen Jahren viele türkische Kollegen beim Umzug nach Deutschland beraten.

Suche nach Sicherheit und gutem Leben

„Diejenigen, die schon lange hier sind, die können sagen: Das ist schlechter geworden. Oder: viele Dienste, Ärztemangel, zu viel Bürokratie ist, wir müssen so viel Dokumentation, täglich 20 Arztbriefe machen“, erzählt er. „Aber diejenigen, die von außerhalb Deutschlands kommen, für die sind die Bedingungen sehr gut hier, im Vergleich zu anderen Ländern.“
Vielen türkischen Ärzten gehe es aber nicht nur um bessere Berufsperspektiven, sagt Katmer, der selbst in Bochum als Hausarzt praktiziert. Es gehe um ein besseres Leben.

Die kommen auch für ihre Familie. Die möchten, dass ihre Kinder eine bessere, sichere Zukunft haben. Die Bildung ist gut hier, für die Kinder. Der Straßenverkehr ist gut geregelt, da kann man sicher gehen. Wenn man Probleme hat, wenn man arbeitslos ist, unterstützt einen hier der Staat. Das sind alles Sicherungen. Man zahlt hier auch viel Steuern, aber man bekommt auch ganz viel wieder zurück.

Kenan Katmer

Selbst renommierten Ober- und Chefärzten sei diese Sicherheit inzwischen mehr wert als ihr in der Türkei oft deutlich höheres Einkommen, so Katmer. Wie zum Beweis öffnet er den Internetbrowser auf dem Computer vor sich. „Ich kann mal gucken, wie viele das jetzt sind. ‚Almanyada dokturluk‘ heißt das. Also die teilen auch so Deutschkurse, Bücher und PDF-Dateien zwischen sich“, erzählt er.
In welchem Bundesland geht die Anerkennung am schnellsten, welches Deutschniveau braucht man, wie vorbereiten auf die Fachsprachprüfung? 13.000 Mitglieder hat die Telegram-Gruppe mit dem Titel „Arztsein in Deutschland“, die Katmer vor einigen Jahren eingerichtet hat, heute.

Langer Weg bis zur Berufserlaubnis

Mediziner aller Fachrichtungen tauschen sich hier darüber aus, welche Voraussetzungen man erfüllen muss, um in Deutschland zu arbeiten. Denn der Weg an eine deutsche Klinik ist weit – und dauert mitunter selbst für erfahrene Fachärzte Jahre, weiß Peter Bobbert, Präsident der Berliner Ärztekammer.

Zwischen hier ankommen und wirklich die Berufserlaubnis zu bekommen, das dauert sehr, sehr lange – viel zu lange. Und aus meiner Sicht können wir uns das gar nicht leisten, diese ärztlichen Kolleginnen und Kollegen so lange warten zu lassen, weil wir sie brauchen.

Peter Bobbert

Denn zusätzlich zum viel zitierten Ärztemangel in Deutschland gelten gerade türkische Mediziner als bestens qualifiziert, so Peter Bobbert. „Die fachliche Qualifikation ist hervorragend bei den Kolleginnen aus der Türkei und das ist ja auch in den letzten Jahren immer wieder die Erfahrung gewesen, dass die Ausbildung im Bereich der Humanmedizin in der Türkei eine sehr, sehr gute ist.“
Dennoch musste auch Urologe Ferhat Kara volle drei Jahre warten, bis er endlich in Berlin arbeiten durfte. Eine düstere, von Zweifeln und Hoffnungslosigkeit geprägte Zeit, wie er zugibt. Heute allerdings ist er froh, dass er durchgehalten hat – und rät jedem Kollegen, der ihn aus der Türkei kontaktiert, es ihm gleich zu tun.
„Natürlich habe ich sehr harte Zeiten hinter mir. Die langen Wartezeiten, die Sprache, die unterschiedliche Lebensweise und Gesellschaft. Aber nach einer Zeit beginnt man anders auf alles zu gucken und so würde ich heute jedem türkischen Mediziner, der die Möglichkeit hat, leider, leider empfehlen, unser Land zu verlassen“, sagt er.
„Ich bin mir sicher: Es wird ihnen dort besser gehen. Die soziale, wirtschaftliche und politische Situation in der Türkei wird sich in den nächsten Jahren nicht verbessern. Leider.“
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