Arbeitskräftemangel

Gebt Geflüchteten größere Chancen

04:10 Minuten
"Mitarbeiter gesucht!" steht auf einem Schild am Transporter eines Handwerksbetriebs für Heizung und Sanitär.
"Mitarbeiter gesucht": Was tun gegen den Fachkräftemangel? © picture alliance / dpa / Wolfram Steinberg
Ein Einwurf von Susanne Gaschke · 15.12.2021
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Haben Sie mal probiert, einen Handwerker zu bekommen? Kennen Sie auch Restaurants, die nur noch am Wochenende geöffnet sind, weil Fachkräfte fehlen? Höchste Zeit zu handeln, meint die Publizistin Susanne Gaschke – und wüsste auch, wie.
Deutschland habe kein Erkenntnis-, sondern ein Umsetzungsproblem, sagte der damalige Bundespräsident Roman Herzog vor einem Vierteljahrhundert in seiner berühmten Ruck-Rede. Diese Analyse gilt bis heute – die Regierungen, egal ob im Bund, in den Ländern oder auf kommunaler Ebene haben keine Konsequenzen aus Herzogs Analyse gezogen. Der Exekutive fehlt eine Schnittstelle für empirische Daten und für Ideen.
So kommt es, dass Fachverbände, Hochschulforschung und Thinktanks zwar viel über den Zustand des Bildungswesens, der Verkehrsinfrastruktur oder der Gesundheitsfürsorge wissen. Die verantwortlichen Gewählten machen aus diesem Wissen aber keine Politik.

In allen denkbaren Berufen fehlt Nachwuchs

Der demografische Wandel ist ein Mega-Beispiel für die systematische Weigerung, sich einem Problem zu stellen, das seit Jahrzehnten bekannt ist: In diesen Jahren, jetzt, heute, in unserer Gegenwart, gehen die geburtenstärksten Jahrgänge der Bundesrepublik, die sogenannten Babyboomer, in Rente.
Sie sind erstaunlich gesund und werden erfreulicherweise ziemlich alt. Als Generation haben sie aber insgesamt zu wenige Kinder in die Welt gesetzt, um den Bestand der deutschen Bevölkerung ohne Zuwanderung zu erhalten.
Daraus ergeben sich drei Folgen: Erstens wird die Erwirtschaftung der Renten durch die ökonomisch aktive Generation schwieriger. Zweitens wird die Pflege zu einer noch größeren Aufgabe, die dringend mehr Beschäftigte braucht. Und drittens entsteht durch die Pensionierungswelle ein massiver Fachkräftemangel.
Den spüren wir jetzt schon mit voller Wucht: Kaum ein Schaufenster ohne Schild, mit dem „Aushilfen“ oder „Mitarbeiter“ gesucht werden; kein Handwerksbetrieb, der Aufträge ohne Wartezeit annimmt. Es fehlen Lehrer, Hausärzte, Krankenhausärzte, Steuerfachangestellte, Ingenieure, Physiotherapeuten – alle nur denkbaren Professionen.

Zehn Prozent pro Jahrgang ohne Schulabschluss

Am Aufbau unserer demografischen Pyramide lässt sich nachträglich nichts mehr ändern. Umso nötiger ist eine Politik, die dem Fachkräftemangel etwas entgegensetzt. Zwei Strategien bieten sich an.
Die erste heißt Bildungsmobilisierung: Bisher verlassen zehn Prozent eines Jahrgangs ohne jeden Abschluss die Schule. Unser Schulsystem muss deshalb so ertüchtigt werden, dass selbst lernschwache und sozial benachteiligte Kinder die Ausbildungsfähigkeit erreichen.

Mit der neuen Ampel-Koalition gibt es nun die Chance für einen aktivierenden Ansatz.

Susanne Gaschke

Flankierend wäre es wichtig, die bildungspolitisch einseitige Fixierung auf eine immer höhere Studienanfängerquote aufzugeben, die viele junge Leute in ihr Unglück treibt. In Handwerksberufen würden sie dringend gebraucht und könnten Erfolg haben.

Flüchtlinge besser in Arbeitsmarkt integrieren

Die zweite Strategie heißt: Ergänzung durch Einwanderung. Deutschland muss sich gezielt um Einwanderer bemühen, die bei uns beruflich ihr Glück machen wollen. Gleichzeitig aber müssen wir uns mit den jungen Leuten, den überwiegend jungen Männern befassen, die als Flüchtlinge bereits hier bei uns sind.
Angela Merkel hatte ja mit „Wir schaffen das“ einen Satz geprägt, der noch weit berühmter wurde als Herzogs Ruck-Rede und sein Diktum vom Umsetzungsproblem: Leider war das bei Merkel nur die unbestimmte Aufforderung an irgendwen, irgendwie mit der Integration der Flüchtlinge klarzukommen.
Mit der neuen Ampel-Koalition gibt es nun die Chance für einen aktivierenden Ansatz: Wir müssen die Flüchtlinge aus den Aufnahmeeinrichtungen herausholen, in denen sie überwiegend verwahrt werden. Wir brauchen von jetzt an eine große Sprachlernoffensive: Nur wer Deutsch kann, hat eine Chance auf dem Arbeitsmarkt. Aber wer es kann, und wer eine Ausbildung schafft – das geht nur mit sicherem Aufenthaltsstatus –, der hätte in diesem älter werdenden Land jede Chance der Welt.
Das wäre auch eine klare Botschaft an jeden Flüchtling: Wer sich integriert und einen Beruf ergreift, kann bleiben – egal woher er kommt.

Susanne Gaschke schreibt für „Welt“, „Welt am Sonntag“ und „NZZ“. Von 1997 bis 2012 war sie Reporterin und Leitartiklerin bei der Hamburger Wochenzeitung „Die Zeit“. Ende Dezember 2012 übernahm die Sozialdemokratin das Oberbürgermeisteramt in Kiel. Ende Oktober 2013 erklärte sie ihren Rücktritt. 2020 trat sie aus der SPD aus. Sie ist Autorin zahlreicher Sachbücher. Zuletzt erschien von ihr eine Biografie des Grünen Co-Vorsitzenden Robert Habeck. Susanne Gaschke lebt mit ihrem Ehemann in Berlin.

Eine Frau mit halblangen blonden Haaren sitzt in einem TV-Studio.
© picture alliance/dpa/SvenSimon
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