Explodierende Moderne

Rezensiert von von Martin Ahrends · 28.05.2012
Die Hesse-Biografie von Gunnar Decker kommt dem Dichter sehr nahe. Sie beschreibt Hesse von innen, aus seinen Antrieben und Hemmungen, seinen Affinitäten und Aversionen als Gottsucher in Zeiten allgemeiner Verunsicherung.
Vor 50 Jahren ist Hermann Hesse gestorben und bis heute wird er in an- und abschwellenden Zyklen rezipiert, wird belächelt in Zeiten der Restauration und verschlungen in Zeiten des Umbruchs. Ein Nobelpreisträger für Literatur und großer deutscher Schriftsteller, der diese Berufsbezeichnung immer als eine kühne Behauptung empfand.

Was ist das auch für ein Beruf, den man weder erlernen noch irgendeine Beauftragung dafür erwarten kann, den er sich selbst gegen alle möglichen Widerstände, Anfeindungen und Verhöhnungen eigensinnig aus dem Boden stampfen musste.

In Zeiten der großen Brüche europäischer Zivilisation mit dem ersten und zweiten Weltkrieg, in der explodierenden Moderne, was für ein Wagnis: Ohne etwas, das da noch selbstverständlich wäre, lebenslang auf der Suche zu sein nach dem richtigen Leben und dabei neben sich zu stehen, sich auch im Alltag zu beobachten und zu protokollieren bis ins Innerste - und dabei nicht verrückt zu werden. Dass er davon schreiben konnte, war seine Rettung.

Seine strenggläubigen Eltern ließen ihn schon als 15-Jährigen in eine geschlossene Anstalt verbringen, und auch später hat er sich gelegentlich in psychiatrische Behandlung begeben. Aber er ist nicht verrückt geworden. Stattdessen ist es ihm gelungen, aus der permanenten Lebenskrisis Stil sichere Prosa und Lyrik zu schöpfen.

Sein Stil war ihm Sicherheit, der hatte ja im 19. Jahrhundert festen Anker geschlagen und musste nicht auch noch schwanken. Sich gar auflösen wie all jene im pietistischen Elternhaus angebotenen Gewissheiten sich ihm aufgelöst hatten. Alle Gewissheiten einer Religion, einer Nationalität, einer Lebensform.

So immer auf dünnem Eis hat er nach Gültigem gesucht und hat es immer wieder in sich selbst, in seiner inneren und der umgebenden Natur gefunden. Die lebenstaugliche Weltanschauung als eigentliche Heimat ist für Hesse immer ein Lebensthema geblieben.

Die Biografie von Gunnar Decker kommt diesem Mann sehr nahe, weil sie ihn von innen her beschreibt, aus seinen Antrieben und Hemmungen, seinen Affinitäten und Aversionen als Gottsucher in Zeiten allgemeiner Verunsicherung.

Die Kapitel widmen sich denn auch eher seiner inneren Entwicklung als der äußeren biografischen Chronologie. Hesses erster Prosaband "Eine Stunde hinter Mitternacht" von 1899 ist für seine frommen Eltern ein Buch ekelhaftester Sünde, für Rainer Maria Rilke, einen Gleichgesinnten, ist es Ausdruck einer Art von Frömmigkeit, die Decker schon am Beginn dieser Biografie als eines der wichtigsten Motive in Hesses Leben und Werk deutet: einer romantischen Kunstreligion, die die Erlösungskraft der Kunst anstelle des Kirchenglaubens setzt. Der Debütant stehe, so Rilke, "am Rande der Kunst".

"Eine wahrhaft prophetische Bezeichnung für Hesses Ort des Schreibens, den er von nun an lebenslang verteidigen wird: am Rande der Kunst." (S. 149)

Durch solche Vor- und Rückverweise entsteht beim Leser ein Gesamtbild, das sich im Durchgang durch die Lebensgeschichte Hesses auffächert und anreichert, aber in jedem Teil präsent ist.

"Der Wanderer und sein Schatten" ist diese Biografie untertitelt: Decker findet den Typus des Wanderers schon in Hesses Ausbruch aus der Klosterschule Maulbronn, als er mit den Büchern für die nächste Schulstunde unterm Arm von einem Spaziergang einfach nicht mehr zurückkehrt.

"Genau das - von einer plötzlichen Eingebung geführt zu werden, zeigt den Wanderer. Dies Offensein für den spontanen Entschluss wird ihn später als Lebensthema der Wandlung immer wieder beschäftigen." (S. 73)

Mit seinem ganzen Leben hält Hesse diesem Beruf die Treue, der ihn nach großen Erfolgen immer wieder scheitern lässt. Auch im Privaten bewegt er sich am Rand der Kunst: Ein Zuständiger für das Allgemeine, wie Sartre diese Daseinsart beschrieb, einer, der aufs Ganze zielt und sich ihm stufenweise nähert, eine romantische Berufsauffassung und eine sehr moderne, nämlich ganzheitliche, wie wir heute sagen würden.

"Hesse ist, als er über 'Romantik und Neuromantik' nachdenkt, gerade dreiundzwanzig Jahre alt: Hier betritt er einen Weg, an dessen Ende das 'Glasperlenspiel' stehen wird." (S. 596)

Decker verweist am Ende seiner Biografie auf deren Anfang zurück. Die Dialektik von Teil und Ganzem ist ein Prinzip dieser Lebensbeschreibung, weshalb der Autor auch in scheinbaren Nebensachen nicht von Marginalem reden will.

Gunnar Decker, dessen Biografien von Gottfried Benn und Franz Fühmann zwei Beispiele von politischer Verstrickung deutscher Autoren beleuchteten, zeigt bei Hermann Hesse gewissermaßen ein Gegenmodell: den Autor, der in anderen Sphären Anker geworfen hat, schon im Elternhaus, später im Buddhismus, dann im alternativen Lebensentwurf des Bundes der "Gezeichneten", der Aussteiger vom Monte Verita.

"Hesse will - im Unterschied zur Schweiz - für sich gar keine Neutralität: ihm geht es darum, unparteiisch zu sein, also über den Parteien zu stehen. Diese Form der Unparteilichkeit, die sich über das bloß Politischer erhebt, ist für Hesse die Sphäre größtmöglicher geistiger Radikalität. (S. 604) So steht Hesse eigensinnig im Niemandsland der Weltpolitik: auf der Seite des Einzelnen, über den die Mechanik der großen Politik, die alle Symptome von Verfall zeigt, immer nur hinweggeht." (S. 605)

Sein letzter großer Roman, "Das Glasperlenspiel", kann, als er nach zehnjähriger Arbeit 1942 fertig ist, nicht in Deutschland erscheinen, 1943 erhält er dort ein generelles Publikationsverbot.

"Für Hesse fällt damit sein Hauptwerk, das er sehr bewusst für die Leser in Nazideutschland geschrieben hat, ins Leere. "(S. 606)

Es sei ein merkwürdiges Buch geworden, schreibt Decker, denn Hesse, der den Begriff der "inneren Emigration" nach 1945 harsch ablehnt, überdauere selbst die schlimme Zeit der Nazi-Diktatur im Exil seines 'Glasperlenspiels'. In einer geistigen Gegenwelt, in die er sich da hinein geschrieben habe. (S. 592)

Hesse unternehme im "Glasperlenspiel" nicht weniger als eine Befreiung des "deutschen Geistes" von seiner nationalsozialistischen Pervertierung. (S. 602) Das Romantische in Hesses Werk erweist sich in dieser Sicht nicht als Weltflucht, sondern im Gegenteil als ein Zuständigsein, wie es sich nur aus einem politischen Abseits heraus wahrnehmen lässt.


Gunnar Decker: Hermann Hesse. Der Wanderer und sein Schatten. Biographie
Hanser, München 2012

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