Exitstrategien für Nazis

Wie gut sind Aussteigerprogramme?

32:09 Minuten
Ein Mann mit hochgezogener Kapuze ist von hinten beim Rauchen zu sehen.
Heute gibt es auf Länderebene elf staatliche und 13 zivilgesellschaftliche Ausstiegsprogramme – und "Exit". © Picture Alliance / dpa / Monika Skolimowska
Von Rosemarie Bölts · 29.03.2021
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Es gibt mehr Aussteigerprogramme für Nazis, als man zunächst denken würde. Ihr Erfolg wird unterschiedlich bewertet. Eine kritikwürdige Position nehmen dabei mitunter der Verfassungsschutz der jeweiligen Länder und die Politik ein.
"Ich will’s einfach bald aus meinem Kopf haben. Ich will da mal irgendwann Ruhe haben, und das möglichst bald!"
Olli war ein Neonazi. Hardcore. Mit 16 in die Szene gerutscht. Ein "Selbstläufer", so nennt er das: der Rechtsrock. Die Kameradschaft, "wie bei der Feuerwehr, nur viel verschworener". Die Genugtuung, dass der Opa bei der SS kein "Mörder" war, sondern ein "Held". Folgerichtig trat Olli in die NPD ein. Doch die entpuppte sich bald als hoffnungsloser, stark verkrusteter Altmännerverein:
"Wir Jungen wollten ja was verändern. Und dann die vielen V-Leute in der NPD, da waren ja mehr V-Leute als überzeugte Nationalsozialisten, da wollten wir nicht mitmachen."
Also zog Olli selber eine schlagkräftige "Freie" Kampftruppe auf. Dabei war er alles andere als ein dumpfer Skinhead-Typ in Springerstiefeln. Vielmehr ein kreativer Kopf, intelligent, charismatisch, eloquent. Führungsfigur. Auch wenn man ihm den Vollblut-Nazi nicht ansah, war er ideologisch hochgerüstet und kämpfte buchstäblich an vorderster Front gegen die Linken, die USA, Israel. Irgendwie auch gegen seine linken Eltern. Am liebsten aber schlug sich seine Truppe mit den linksextremen Autonomen der "Antifa" halb tot.


"Wir haben uns verglichen mit der Zeit vor ‘33, als sich die SA mit dem Rotfrontkämpferbund blutige Straßenkämpfe lieferte, um den Feind zu besiegen und den Staat zu verändern. Hatte ja schon einmal geklappt, warum sollte es nicht noch mal klappen…"
… beschreibt Olli das Stimmungsbild unter den europaweit vernetzten Rechtsextremisten und erklärten Neonazis. Elf Jahre lang war er aktiv, davon drei im Knast abgesessen: Körperverletzung, Volksverhetzung, Verwendung von Nazisymbolen wie Hakenkreuz, Runen, Uniformteilen. Den rechten Arm gestreckt und gebrüllt. Was strafrechtlich so anfällt, wenn man einschlägig auffällt:
"Die Gruppe war aktiv, dann kam man in die Zeitung, dann die Bestätigung aus anderen Städten. Man wurde eingeladen: ´Willst du einen Vortrag halten?` So habe ich politische Karriere gemacht, ja. Hatte kein Geld, aber Ruhm und Bestätigung gebracht. Ich wurde hofiert. Man kannte mich bundesweit!"
Dann flog der NSU, der "Nationalsozialistische Untergrund", auf. Und Olli bekam, ausgelöst durch den Mammutprozess gegen die Terrorgruppe um Beate Zschäpe, erste Zweifel an der bis dahin unverbrüchlichen Ideologie:
"Der NSU hatte ja nachweislich mit der Szene, in der ich war, Kontakt. Und dann seine Verstrickung mit dem Staatsschutz. Und dann – es wäre für mich damals völlig okay gewesen, wenn ein Linker bei einer Schlägerei gestorben wäre. Dem hätte ich damals keine Träne nachgeweint. Aber dass man irgendwelche Blumenhändler erschießt, Menschen, die nichts getan haben, nur wegen ihrer Abstammung oder ihres Aussehens – das war für mich absurd, unvorstellbar."

Mit dem Abstieg kam der Ausstieg

An Ausstieg aus der Szene dachte er aber erst, nachdem ihm die Scheiben eingeschmissen, er ein Messer im Bein, die Nase gebrochen und eine fast tödliche Schlägerei überlebt hatte. Nachdem es auch noch beruflich bergab ging, weil er durch seinen medialen Bekanntheitsgrad nicht mehr den Kunden vermittelbar war und ihm deshalb wiederholt gekündigt wurde. Da war dann, so Olli, "irgendwann auch Ende mit dem Kram":
"Ich hatte keine Lust mehr und hab das – ideologiekonform – begründet. Hab den Kameraden gesagt, dass ich das nicht mehr mittragen kann, wenn der und der Gelder veruntreut oder ähnlichen Mist gebaut hat. Einer von uns! Das widerspräche doch unserem Kameradschaftsgeist und allen Regeln, die wir für uns aufgestellt haben. Damit wollte ich nichts mehr zu tun haben. Ihr könnt mich noch besuchen kommen, aber ich komme nicht mehr zu euch."
Es klappte. Denn Olli hatte mit Bedacht den stillen und nicht den abrupten Ausstieg gewählt. Er wusste schließlich, was ihm blühen konnte, wenn er sich offiziell von seinen Kameraden verabschiedet hätte. Nazis sind bekanntermaßen nicht zimperlich mit Abtrünnigen. Von öffentlichem Druck und körperlichen Übergriffen bis zu Morddrohungen reichen die "Sanktionen", mit denen Aussteiger rechnen müssen, erläutert Stefan Tepper vom "Landesdemokratiezentrum" in Niedersachsen:
"Man muss bedenken, dass rechtsextreme Szenezugehörigkeit in großen Teilen verknüpft ist mit Straffälligkeit. Wir haben es in der rechtsextremen Szene mit einem sehr, sehr hohen Gewaltpotenzial zu tun. Und das heißt, sobald sich jemand aus der rechten Szene wegbewegt, nimmt er Täterwissen oder Mittäterwissen mit. Das entzieht sich der Kontrolle durch die rechtsextreme Szene, und so was wird in der Regel sanktioniert. Und dazu kommt, dass eine Abwendung als Akt des Verrats betrachtet wird. Und Verrat ist per se sanktionsfähig."

Weg von der Naziszene, weg von der Heimatstadt

Sein Abschied aus der Naziszene fiel Olli umso leichter, als andere Dinge für ihn immer mehr Gewicht bekamen und sein ganzes, bisheriges Leben drehten. Das, was die Motivation zum Aussteigen aus der Naziblase schafft. Olli war Vater geworden. Und er hatte begonnen, weit weg von seiner alten Parallelwelt und weit weg von seiner Heimatstadt, sich ehrenamtlich für eine, wie er nicht müde wird zu betonen, "gute Sache" mit Menschen zu engagieren, die so gar nichts mit der Naziszene zu tun hatten, die nichts von seiner Nazi-Vergangenheit wussten und auch nichts wissen sollten.
Zwar ließen ihn die alten Kameraden nach seiner "Ideologie-konformen" Erklärung tatsächlich in Ruhe. Aber der alte "Todfeind", die Antifa, hatte, wie üblich, alles über die rechte Szene und damit auch über Ollis namentliche Nazikarriere dokumentiert. Diese im Internet verewigte Stigmatisierung erzeugt bei Olli noch heute, sechs Jahre nach seinem Ausstieg…
"… Angst. Es ist einfach nur Angst. Angst vor der Ächtung. Mein gutes Leben wieder zu verlieren. Es gibt immer wieder Auslöser, dass es massiv im Kopf rumschwirrt. Wenn ich in meinem Job oder in meinem Ehrenamt, wo ich viel Kontakt mit der Öffentlichkeit habe, oder auch im privaten Kreis – wenn ich mich da mit meinem Namen vorstelle und jemand googelt das oder erinnert sich – vielleicht ist da einer bei, dem das nicht passt. Und der bricht dann den Kontakt ab. Ist schon einige Male vorgekommen, dass ich auch direkt angesprochen wurde: Bist du nicht der Nazi? Das war dann der Punkt, wo ich merkte, den Ausstieg habe ich zwar allein geschafft, aber jetzt brauche ich Hilfe, jemanden, der weiß, wie man damit umgeht. Und das war dann die AussteigerhilfeRechts."

Zahlreiche Ausstiegsprogramme für die, die auch wollen

Das Programm mit dem sperrigen Namen "AussteigerhilfeRechts" – "Rechts" demonstrativ kursiv geschrieben – existiert seit 2001. Es gehört, angesiedelt beim Landesjustizministerium, zum Ambulanten Justizsozialdienst des Landes Niedersachsen und damit zu den staatlichen Ausstiegsprogrammen. Ebenso wie die Ausstiegsprogramme von Bundesverfassungsschutz und einzelnen Länderverfassungsschutzämtern sowie Landeskriminalämtern, die zeitgleich der damalige Bundesinnenminister Otto Schily initiiert hatte. Heute gibt es auf Länderebene elf staatliche und 13 zivilgesellschaftliche Ausstiegsprogramme – und "Exit":
"Das war die Kernidee: Derjenige, der keine Ideologie mehr für sich als Mission zelebriert, ist prädestiniert, ein friedvoller Bürger zu werden."
Bernd Wagner, damals noch Kriminaloberrat, heute promovierter Diplom-Kriminalist, ist der Motor von "Exit". Er hatte sich schon in der DDR mit den Rechtsextremisten dort beschäftigt und war nach der Wiedervereinigung der erste, der sich um ausstiegswillige Neonazis gekümmert und in den 90-Jahren ein Konzept entwickelt hat:
"Alle Aussteigerprogramme zusammengenommen, alle haben die Eigenschaft, dem Extremisten zu verdeutlichen, dass es auch Menschen gibt, die von ihrer Mission nicht überzeugt sind. Auch führende Kader nicht überzeugt sind, also die Festigkeit des Systems angekratzt ist. Und dann hat es noch den entscheidenden Symbolwert: Da gibt es eine Tür, da kann ich wieder raus."

Der Ansatz von "Exit"

Im Jahr 2000 gründete Bernd Wagner in Berlin offiziell, zusammen mit dem prominenten Erst-Aussteiger Ingo Hasselbach, "Exit". Durch seine geschickte Öffentlichkeitsarbeit mit Aussteigerbiografien und prominenten Befürwortern hat "Exit" den mit Abstand größten Bekanntheitsgrad und mit bis heute rund 800 "Fällen" auch den mit Abstand größten Erfolg. Was unterscheidet den privaten Verein, abgesehen vom einschlägigen und einfach zu merkenden Namen, sonst noch von anderen Aussteigerorganisationen? Bernd Wagner:
"Die haben einen anderen Ansatz. Die arbeiten alle auf der Länderebene. Das machen wir nicht. Wir arbeiten bundesweit und international. Allenfalls das Bundesamt für Verfassungsschutz kann weitergreifen im Rahmen der europäischen Zusammenarbeit mit anderen Nachrichtendiensten und Polizeidienststellen. Das können die Bundesländer so einfach nicht machen. Die können auch keine ‚Kettenfluchten‘ organisieren von bedrohten Klienten. Die Ämter haben auch nicht die Möglichkeit der lockeren Zusammenarbeit auf der operativen Ebene. Insofern kann sich jetzt aufgrund dieses Umstandes jeder, der in der Szene ist, entscheiden, zu welcher Struktur er hingehen möchte."

Wenn’s denn so einfach wäre. Es gibt nicht in jedem Bundesland zivilgesellschaftliche Angebote, und es gibt nicht in jedem Bundesland staatliche. Eine übergeordnete Koordinierungsstelle, an die man sich wenden könnte, gibt es aber auch nicht, weder auf Länder- noch auf Bundesebene, was wiederum an der föderalen Finanzierungsstruktur liegt. Und dann taucht auch noch jede einzelne Anlaufstelle, jeder Verein, jede Initiative mit eigener, oft eigenwilliger Namensschöpfung auf, zum Beispiel: "JUMP", "Drudel 11", "reset", "NinA NRW", "Kick-Off", "Fire", "BIGE", "IKARus", "FEX", "EXTRA".
Wie findet man in diesem Wirrwarr den passenden Ansprechpartner? Reiner Zufall. Entweder analog über Flyer, Plakataktionen, Presseartikel. Oder über das Internet, soziale Netzwerke wie Facebook. Man kann sich seit letztem Jahr auch auf der Website von "Aktion Neustart", dem Aussteigerprogramm des niedersächsischen Verfassungsschutzes, von dessen Werbevideo mit dem Versprechen locken lassen: "Wir helfen beim Ausstieg aus dem Rechtsextremismus."
Porträt von Bernd Wagner vor einer Bücherwand.
Bernd Wagner gründete im Jahr 2000 die bundesweit bekannteste Aussteigerorganisation Exit.© Picture Alliance / AP Photo / Michael Sohn

Wie erreicht man potenzielle Aussteiger?

80 Prozent der Fälle in den Programmen kommen durch die Vermittlung von Multiplikatoren
zustande, die in ihrem Berufsleben mit Rechtsextremisten konfrontiert werden. Bewährungshelfer, Trainer in Sportvereinen, Lehrer, Mitarbeiter in der Jugendhilfe, in der Erziehungs- oder Suchtberatung, in der Ausbildung, zum Beispiel. Und verzweifelte Eltern. Nur 20 Prozent sind "Selbstmelder" aus eigenem Antrieb, wie Olli. Ob der neue Werbeclip von "Aktion Neustart", der in Bild und Ton eher eine typische "Double-bind"- Botschaft sendet, wirklich zum Ausstieg animiert? Nazi-Gewalt und Glatzen-Aufmärsche, Masse und Macht im ästhetisch dämonisierenden Slow-Motion-Spot?
"Proaktiv" auf Extremisten zugehen, das ist das Alleinstellungsmerkmal des Verfassungsschutzes. Übersetzt heißt das, dass er selber, vorzugsweise in der Haft, mögliche "Wackelkandidaten" aufsucht, von denen er denkt, dass sie auf der Kippe stehen könnten. Da wird auch schon mal gefragt, ob man nicht kooperieren wolle, also sein Wissen aus der "Szene" preisgeben. Aber Geld gegen den Verbleib als Spitzel in der "Szene", aus der man doch raus wollte? Bernd Wagner, der von solchen "Anwerbungsversuchen" weiß, bebt vor Zorn:
"Bleibt bei uns, ihr kriegt von uns Kohle! Tausender, im Monat, und so. Ja, ja. Ja, Aussteiger macht man grundsätzlich nicht zu V-Leuten! Das ist ethisch und rechtliche Scheiße! Hat mit einem demokratischen Verfassungsstaat nichts zu tun! Das ist billige Stasi-Masche! Der wird dann damit reingezwungen, und dann wird ihm suggeriert, wenn er da nicht mitmacht, dann wird ihm der Ausstieg verwehrt! Also, so geht es nicht! Das ist Nötigung!"

V-Leute und Verfassungsschutz

2015 – in dem Jahr trat im monströsen NSU-Prozess die Verwicklung von V-Leuten des Staatsschutzes zutage – erließ der Deutsche Bundestag das "Gesetz zur Verfassungsschutzreform", in dem explizit "die Anwerbung von Teilnehmern von Aussteigerprogrammen als V-Leute ausgeschlossen" wird. Es gibt solche und solche. Solche wie der niedersächsische Verfassungsschutz bemühen sich um Transparenz, wozu auch mal die Geheimzone verlassen wird, um sich öffentlich, wie vor Corona geschehen, auf einer Veranstaltung der Evangelischen Akademie Loccum zur Diskussion zu stellen.
Thema: der wachsende, gewaltsame Rechtsextremismus. Wolfgang Freter, im niedersächsischen Verfassungsschutz Referatsleiter für Rechtsextremismus und Prävention und damit auch für "Aktion Neustart" zuständig, bekräftigt: Aussteiger dürfen keine Quellen sein. Das ist seit 2016 auch in Niedersachsen Gesetz. Und nicht nur das, sondern darüber hinaus gilt:
"Keine Erkenntnisse, die aus dem Leben dieser Personen stammen, werden bei uns einer Speicherung zugeführt. Wir haben auch ausdrücklich darauf verzichtet, von diesen Personen zu verlangen, dass sie uns alles preisgeben von ihrer bisherigen Aktivität in der Szene, weil’s einen Verräterkomplex dann doch gibt. Das haben wir alles berücksichtigt, weil alles andere würde ein solches Engagement für die Aussteigerhilfe unehrlich machen."

Kein Ausstieg ohne Vertrauen

Tatsächlich gibt es ja auch Personen, die sich selber beim Verfassungsschutz melden, weil sie gerade dort den größtmöglichen, staatlichen Schutz für ihre persönliche Sicherheit beim Ausstieg erwarten:
"Das ist ja auch einer der Gründe, warum der Verfassungsschutz an der Stelle eine besondere Rolle übernehmen kann. Er kann auch Gefährdungen einschätzen, ob eine solche Person in der Szene selber gefährdet wird durch den Ausstieg. Sie werden aber dann ausdrücklich nicht einbezogen in irgendeine Werbungsmaßnahme. Das ist absolut tabu! Allerdings, ob sie sich noch in der Szene bewegen, die Kenntnis haben wir dann natürlich im Haus vorliegen, und darüber erfolgt dann schon der Austausch."

Wichtigste Voraussetzung für die Aufnahme in ein Aussteigerprogramm: keine Kontakte mehr zur alten "Szene". Keine einschlägigen Straftaten mehr. Daran misst sich die Ernsthaftigkeit des Ausstiegswillens. Im Gegenzug gilt: strikte Vertraulichkeit. Im besten Fall: auf Augenhöhe. Das Schwierigste: die Ideologie hinterfragen, die rechtsextreme Einstellung bearbeiten. Biografiearbeit nennt man das. Und das bedeutet: Reden, reden, reden. Ollis Betreuer, der sich lieber Begleiter nennt:
"Der Hauptteil meiner Arbeit passiert über Beziehungsarbeit. Und Beziehungsarbeit im Zusammenhang mit Sozialarbeit, die meine Arbeit ausmacht, erfordert, dass ich durchaus verschiedene Rollen einnehmen kann: die des Vaters, des Anleiters, des Bewährungshelfers, und so weiter. Aber ich bin nicht der Vater. Ich bin auch nicht der Therapeut. Ich mache Sozialarbeit. Ich mache soziale Arbeit. Punkt."

Aussteigen kann auch Resozialisierung sein

Es gibt keinen Vertrag, den man mit dem Träger eines Aussteigerprogramms schließt, sondern einen Hilfeplan, den der Begleiter gemeinsam mit dem Aussteiger, der Aussteigerin erstellt. Und immer wieder wird er oder sie gefragt: Was willst du erreichen? Wo stehst du? Denn es geht nicht nur darum, sich aus der Naziideologie zu befreien und die Szene zu verlassen. Es geht auch darum, in der Gesellschaft anzukommen. Und dabei kann es dann doch passieren, dass der Begleiter Betreuer wird.
Dann nämlich, wenn die Klienten außer dem Willen, aus der Naziszene auszusteigen, nur wenig "Ressourcen" mitbringen und "das volle Programm" notwendig ist. Dann wird Hilfe angeboten, um zum Beispiel einen Schulabschluss oder eine Berufsausbildung nachzuholen, die Alkohol- oder Drogensucht zu bekämpfen, Tätowierungen zu entfernen, Schulden abzubauen, Sozialkompetenz zu trainieren, mit dem Arbeitgeber zu sprechen.
"Einmal Nazi, immer Nazi, ist nicht. Und wenn man dann hört: Ich würde keinen Ex-Nazi einstellen. Ja, warum nicht? Weil’s irgendwie geschäftsschädigend sein kann. Aber wenn er ausgestiegen ist, was soll daran geschäftsschädigend sein?"

Der lange Schatten der Vergangenheit

Olli will endlich in der Öffentlichkeit zu seiner Vergangenheit stehen. Sein Begleiter von der AussteigerhilfeRechts aber besteht darauf, dass Olli seine Vergangenheit nicht öffentlich macht. Aus Sicherheitsgründen. Und so heißt "Olli" nicht Olli, hat keinen Nachnamen und keinen Wohnort und kommt noch nicht einmal mit seiner eigenen Stimme vor. Auch sein Ausstiegsbegleiter bleibt anonym und wird deshalb in dieser Sendung nur zitiert. Aus Sicherheitsgründen.
Fabian Wichmann, Ausstiegsbegleiter und Öffentlichkeitsreferent bei "Exit", meint hingegen, dass Öffentlichkeit für den, der schon in der Szene eine Größe war, auch ein "Schutzrahmen" sei. Dennoch bestünde immer das Risiko, durch Kameraden bedroht zu werden:
"Man verrät die Gruppe, aus der man aussteigt, und man verrät eine Ideologie, die im Zusammenhang mit der Gruppe besteht. Das hängt auch davon ab, mit welcher Rolle die Person aussteigt, wie lang die dort in der Gruppe involviert war, welche Funktionen sie da hatte, wie viel Wissen hat die Person um kriminelle Geschehnisse innerhalb dieser Gruppe. Dieses Gefährderwissen kann einerseits eine Sicherheit sein im Ausstiegsprozess, weil man sagt, na ja, wenn, dann packt der vielleicht aus. Oder andererseits, bevor der auspackt, müssen wir natürlich ihm entsprechend eine Ansage machen."
Deshalb wird mit jedem Aussteiger ein Sicherheitsmanagement erarbeitet, und das bedeutet in der Regel: Auskunftssperre beim Einwohnermeldeamt, Löschen der Einträge im Internet, Umzug in eine neue Wohnung oder in ein anderes Bundesland – und im Extremfall: Identitätswechsel. Tatsächlich gilt die Rache an den "Verrätern" oder der Warnschuss vor dem "Verrat" nicht nur für die Aussteiger, sondern auch für deren Familien und die Ausstiegsbegleiter.
Zerschlagene Scheiben in der Wohnung, eine tote Ratte im Briefkasten, aktuelle Adressenangaben mit entsprechenden Hetztiraden im Internet, Paketbomben, Drohanrufe beim Ausstiegsbegleiter und zerstochene Autoreifen, gelockerte Schrauben an den Reifen des Autos, in dem die Mutter und der behinderte Bruder saßen – alles schon passiert bei den Protagonisten in dieser Sendung.

Aufklärungsarbeit in Schulen

"Mein Name ist Felix Benneckenstein, ich bin 34 Jahre jung, arbeite bei Exit, war mal Nazi. Solche Sachen kommen dann wieder wie aus der Pistole geschossen."
Wenn Felix Benneckenstein vor 120 Schülern von den Gefahren erzählt, sich über Rechtsrock und andere subkulturelle Verlockungen ins rechtsextreme Milieu schleusen zu lassen, bekommt er in manchen Städten wie Anklam in Mecklenburg-Vorpommern Polizeischutz. Als Nazi war er selber als "Liedermacher Flex" berühmt. Dabei lernte er auch seine "völkisch" erzogene Frau kennen, die schon mit drei Monaten von ihren strammen Nazi-Eltern zum "Bund Heimattreuer Deutscher Jugend" mitgenommen wurde. Als Heidi schwanger ist, steigen sie gemeinsam aus und gründen drei Jahre später auf eigene Faust die "Aussteigerhilfe Bayern", kurz darauf schließen sie sich "Exit" an. Vorträge zu halten, in Schulen zu gehen, das sei sein Umgang mit Schuld- und Schamgefühlen, berichtet Felix. Die Quittung:
"Bei mir waren’s die Gewaltaufrufe im Internet. Den Artikel gibt es heute noch, der mit den Worten endet: Solltet ihr ihn sehen, zeigt ihm, was wir mit Verrätern machen. Alle Infos über ihn schickt an uns."
Felix‘ Nazi-Karriere begann als "Problemjugendlicher": viel Alkohol, falsche Peergroup, Randale. Gegen die liberalen Eltern rebelliert. Schulabbruch mit 15, Auszug aus dem Elternhaus mit 16. In der Szene "entdeckt" von Rechts-Star-Liedermacher Michael Müller. Mitgliedschaft bei NPD, JN, Kameradschaft Erding, Autonome Nationalisten Dortmund. Acht Monate Knasterfahrung. Zehn Jahre seines Lebens in die Tonne getreten. Beeindruckt das die Schüler?
"Diskussionen gibt es immer. Da gibt es immer extrem viele Fragen. Die allermeisten Lehrkräfte sind danach dann immer überrascht, dass so viele Fragen kommen. Mich überrascht das nicht mehr. Zeitversetzt habe ich bei Facebook die ein oder andere Nachricht bekommen, dass ich da mal an der Schule war und dass ihnen das schon zu denken gegeben hat und sie froh sind, dass sie sich nicht in die Richtung bewegt haben."

Reaktionen wie aus dem Nichts

Seit fünf Jahren ist Felix selber Fallmanager bei "Exit" in Bayern. Seiner Erfahrung nach sei die Hemmschwelle niedriger, sich bei einem zu melden, der selber ausgestiegen ist und weiß, wie dem anderen zumute ist, wovon der spricht, wie Zweifel funktionieren. Gleichzeitig schaut er sich, neun Jahre nach seinem eigenen Ausstieg, immer noch um, auf der Straße, in der U-Bahn, im Café, ob ihm jemand gefährlich werden könnte. Er erlebt aber auch Überraschungen ganz anderer Art, die ihn ungewollt in seine Vergangenheit zurückkatapultieren:
"Manchmal kommt irgendein wildfremder Mensch an, um mir zu sagen, dass er das gut findet, was ich heute mache: ‚Und Respekt für den Ausstieg, wollt ich Ihnen mal sagen!‘ Das tut tatsächlich nicht gut, weil das aus dem Nichts kommt, das ist der normale Alltag und du denkst nicht dran, dass du früher mal ein Neonazi warst, dann kommt jemand an und spricht einen ja auch darauf an."
Im Herbst 2019 gab es wieder mal viel Medienwirbel. Das Bundesfamilienministerium hatte neue Förderrichtlinien erlassen, und "Exit" drohte damit das Aus. Im Rahmen des Bundesprogramms mit dem aufmunternden Titel "Demokratie leben", worunter alles verstanden wird, was zur, wie es heißt, "flächendeckenden Bekämpfung des politischen Extremismus und der Förderung der Demokratie beitragen" soll, wurde auch die Finanzierung der Aussteigerprogramme für Rechts-, und islamistischen Extremismus neu strukturiert. 2,1 Millionen werden nun über die Landes-Demokratiezentren verteilt. Das bundesweit und in privater Trägerschaft operierende "Exit", bis dahin als "Modellprojekt" gefördert, hätte nicht in die neue Finanzierungsstruktur reingepasst. Damit wäre der Verein Pleite gegangen.

Der Kampf um finanzielle Unterstützung

"Exit" mobilisierte also in kurzer Zeit öffentlichkeitswirksam Prominenz aus Politik und Gesellschaft, und auf den letzten Metern ging es doch wieder auf, dass es wieder an den öffentlichen Fördertopf angeschlossen werden konnte. Vom "Fünfjährigen Modellprojekt" wurde es so zum "Begleitprogramm" auf drei Jahre. Das ist an sich schon paradox, wenn man bedenkt, dass ein Ausstieg in der Regel zwei bis fünf Jahre dauert und nicht nur die Sicherheit der Aussteiger und Begleiter im Programm gewährleistet sein muss, sondern auch die Planungssicherheit der Programme. Das ist Politik.
Die Finanzierung von Themen zeugt davon, welches politische Gewicht man ihnen beimisst.
Ausstiegsprogramme für Neonazis haben keine Konjunktur, heißt es hinter vorgehaltener Hand. Das kommt beim Wähler nicht gut an. Und so hält man das Thema politisch klein. An dieser Stelle hätte man gern die verantwortliche Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Franziska Giffey, zur grundsätzlichen, politischen Einordnung und Strategie gefragt. Aber trotz mehrfachen, langfristigen Nachfragens gab es keine Zeit für ein Interview. Das ist auch Politik.
In den neuen Förderrichtlinien wurde eine "überbordende Antragsbürokratie" entwickelt, bemängelt der Obmann der Linken im Haushaltsausschuss des Familienministeriums, Norbert Müller. Die Verbände würden nicht umsonst von "Bürokratie leben" sprechen:
"Ich unterstelle, das ist eine Frage von politischer Kontrolle, auch der engen Zügel, dass man das über Modellprojekte finanziert. Und es gibt eine zweite Auseinandersetzung im Hintergrund. Die Union möchte schon immer ganz gern, dass die Engagementpolitik aus dem Jugend-, Kinder-, Familienbereich, Seniorenbereich, in das Innenministerium kommt. Und das wollen wir nun ausgerechnet nicht."

Die CDU blockiert eine Kontinuität der Finanzierung

Zivilgesellschaftliche Engagementpolitik, betont der Bundestagsabgeordnete Norbert Müller, passe nicht zur Sicherheits- und Ordnungspolitik des Innenministeriums. Man denke nur an die aufgeflogenen Rechtsextremisten in Polizei und Verfassungsschutz. Was zivilgesellschaftliches Engagement vielmehr brauche, sei aber ein stabiler Background. Und das sollte gefördert werden, verlangt Linken-Obmann Norbert Müller. Seit der letzten Wahlperiode kämpften SPD, Grüne und Die Linke um ein "Demokratiefördergesetz". Verhindert wird es bislang von der CDU:
"Wir haben erhebliche Kritik daran, dass die Förderung insgesamt seit vielen Jahren projektbezogen ist über Modellprojekte und dass wir keine Kontinuität haben. Was für Professionalität eine Schwierigkeit ist. Entscheidend ist, dass die Fördersummen im Haushalt bleiben, und bekommen wir es hin, über ein Demokratiefördergesetz, dass die eine lange Perspektive bekommen. Das wird bisher von der Union verhindert."
Ein Blick auf die Statistik.
Die niedersächsische "AussteigerhilfeRechts" hatte seit ihrem Bestehen 2001 232 Anfragen.
Davon wurden 153, darunter zwölf Frauen, in die Betreuung aufgenommen. 76 von den 153 sind erfolgreich abgeschlossen, zwölf sind in ein anderes Bundesland umgezogen und 44 haben die Betreuung abgebrochen, oder es wurde die Betreuung abgebrochen.
"Exit" hat in den 21 Jahren seines Bestehens 804 Ausstiegsprozesse durchgeführt und verzeichnet dabei 16 Rückfälle. Frauen machen generell etwa zehn bis 15 Prozent aus. Bei "Aktion Neustart", dem Programm des Verfassungsschutzes in Niedersachsen, wurden seit 2010 117 Kontakte verzeichnet, ein Drittel davon "proaktiv". In 22 Fällen fand eine Betreuung statt. Zwölf dieser 22 Personen können als Führungspersonen bezeichnet werden. Eine davon ist weiblich. 44 Personen sind bisher erfolgreich ausgestiegen.

Die einfache Rechnung der Aussteigerprogramme

Jeder und jede einzelne sei es wert, eine Chance zu bekommen, sich wieder in die demokratische Zivilgesellschaft zu integrieren, lautet die Begründung für den hohen Aufwand, den die Aussteigerprogramme erfordern. Es ist, neben der humanistischen Verpflichtung, eine einfache Rechnung, meint der Sozialpädagoge:
"Wenn durch das Aussteigerprogramm Straftaten vermieden werden, wenn jemand aus diesem Milieu rausgeholt werden kann, wo Straftaten normal sind, spart das bares Steuergeld. Ein Platz im Gefängnis kostet im Schnitt pro Tag etwa 150 Euro. Da refinanzieren sich diese Programme im Grunde genommen."
Rund 3000 Personen sind in den vergangenen 20 Jahren ausgestiegen. Szeneeinsteiger, Mitläufer, Aktivisten und langjährige Führungspersonen. Bei offiziell über 13.000 gewaltbereiten Rechtsextremisten und mindestens dreimal so vielen, die bisher zumindest nicht durch Straftaten aufgefallen sind, erscheint im Verhältnis dazu die Erfolgsquote von Aussteigerprogrammen marginal. Bernd Wagner, der mit "Exit" auf die meiste Erfahrung verweist, widerspricht und macht noch eine andere Rechnung auf:
"Wenn man das in Summe guckt, ist das schon durchaus eine Kampfkraft, die da abgesaugt wird. Ich stelle mir gerade vor, wenn fast 3000 Personen weiterkämpfen würden, was das bedeuten würde. Wenn die jetzt nicht weg wären aus dem Kampffeld, was dann wäre. Doch, doch, wir haben schon Signalwirkung!"

Regie: Clarisse Cossais
Technik: Thomas Monnerjahn
Sprecherin: Frauke Poolman
Sprecher: Rosario Bona
Sprecher: Robert Levin
Redaktion: Carsten Burtke

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