Glauben

Das ganze Leben Jesus opfern

Eine aufgeschlagene Bibel liegt auf einem Pult.
"Ich fühlte mich wirklich wie eine Maschine, die nur zu diesem einen Zweck da war: ihr Leben Jesus und der Gemeinde zu opfern", erinnert sich Bernd an seine Kindheit in einer evangelikalen Freikirche. © picture alliance / Chromorange / Karl Heinz Spremberg
Evangelikale Freikirchen haben in den USA eine ungeheure Machtbasis. Aber auch hierzulande werden streng bibeltreue Gruppierungen präsenter. Bernd Vogt wächst in einem solchen Umfeld auf. Dies ist seine Geschichte.
"Ehrlich gesagt stehe ich noch heute staunend vor dem Mut, den ich damals als knapp 16-Jähriger aufbrachte", erinnert sich Bernd Vogt. "Wir waren mal wieder auf Freizeit, diesmal in Bremen, als dieser psychische Druck, den die Prediger ausübten, einfach unerträglich wurde. Und ich spürte genau, wenn ich jetzt nicht die Reißleine ziehe, wenn ich jetzt nicht einfach abhaue, dann sterbe ich. Ich hatte Ängste, ich hatte Depressionen. Ich hielt es einfach nicht mehr aus." Bernd packte klammheimlich seine Tasche, setzte sich in den Zug und fuhr nach Hause. "Ich fühlte mich zum ersten Mal richtig frei in meinem Leben. Ich hätte es wirklich hinausschreien können: frei, frei, frei."

Der Traum von Freiheit wird zum Albtraum

Doch das Glücksgefühl hält nicht lange. Der Traum von Freiheit wird für Bernd Vogt zum Albtraum, denn seine freikirchliche Gemeinde behandelt ihn fortan wie einen Aussätzigen. Gewissensbisse und Schuldgefühle quälen ihn. Sein Körper reagiert mit Krankheiten auf das seelische Leid. "Die ganze Tragik war, dass ich mich nur rein körperlich gelöst hatte und nach wie vor davon überzeugt war, dass meine Eltern auf dem rechten Weg waren und ich das schwarze Schaf war", sagt er heute. "Ich hing nach wie vor am Gängelband der Prediger. Und es sollte sich noch bitter rächen, dass ich überhaupt nicht fähig war, die erlittenen Traumata und die ganze Indoktrination aufzuarbeiten." Die Kindheit lässt sich nicht einfach so abstreifen: Das wird Bernd Vogt klar, je öfter er sein Leben Revue passieren lässt.
Bernd wächst im Umfeld einer kleinen evangelikalen Freikirche auf. Seine Eltern sind bekennende Mitglieder – bis zu ihrem Tod. Auch sein Bruder ist bis heute Gemeindemitglied. Evangelikal: Unter dieser Bezeichnung werden zum Teil unterschiedliche Glaubensüberzeugungen zusammengefasst. Viele Mitglieder solcher Gemeinden bezeichnen sich selbst lieber als "bibeltreu". Wissenschaftler wie Robert H. Woods definieren Evangelikale als Personen, "die allein an Jesus Christus glauben, um ihre persönliche Erlösung zu erlangen, die Bibel als das Wort Gottes betrachten und ihren Glauben mit anderen teilen möchten."

Das Grausen vor der ewigen Verdammnis

Der Begriff umfasst also eine ganze Bandbreite rechtskonservativer, bibeltreuer Bewegungen und Freikirchen. Der christliche Fundamentalismus ist vor allem in den USA verbreitet. Evangelikale sicherten Donald Trump Millionen Wählerstimmen und trugen damit zu seinem Wahlsieg bei. Aber auch hierzulande werden sie immer präsenter – nach Schätzungen haben die Gemeinden in Deutschland an die 1,5 Millionen Mitglieder.
Bernd Vogt beschreibt seine Kindheit in einer dieser evangelikalen Freikirchen mit den Worten "Aufzucht" und "Dressur". Für einen strenggläubigen Christen gebe es nichts Wichtigeres, "als seine Zeit, seine Energie, sein Geld, sein ganzes Leben für Jesus zu opfern", sagt er. Deswegen dreht sich in Bernds Kindheit alles nur um die Gemeinde. In dieser Welt sind die Gemeindemitglieder "die Guten, die Erretteten", in der Welt da draußen herrscht der Teufel und die "Weltmenschen", die noch bekehrt werden müssen.

Bis in den letzten Winkel des Körpers

"Man hatte mich bis in den letzten Winkel meines Körpers vollgepumpt mit dem Grausen vor der ewigen Verdammnis", erinnert sich Bernd. "Das hält einfach kein Kind aus. Ich fühlte mich wie eine Maschine, die nur zu diesem einen Zweck da war: ihr Leben Jesus und der Gemeinde zu opfern, ihnen Dank und Lobpreis darzubringen und die Weltmenschen zu missionieren."
An dem Lebenswandel der Gemeindemitglieder sollen die Ungläubigen erkennen, wie bedeutend es ist, Jesus nachzufolgen. Doch während Bernds Freunde im Fußballverein spielen, heimlich rauchen, Alkohol trinken, flirten, auf Partys gehen, steht Bernd nur daneben und drückt sich in Schulhofecken herum. "Natürlich wollte keiner so ein beschissenes, weltfremdes Leben führen wie ich."
Noch beschämender: Bernd muss seine Freunde "missionieren". Die überschütten ihn dafür regelmäßig mit Hohn und Spott. "Aber sie konnten ja auch nicht ahnen, dass ich mir wirklich nichts sehnlicher wünschte, als einfach nur sein zu dürfen wie sie."

Chistliches Entertainment ist der Renner

Heute vermarkten sich evangelikale Freikirchen viel geschickter – und werben bewusst gerade unter jungen Menschen für sich. "Die holen dich genau da ab, emotional, wo du dich gerade mit deinen Problemen befindest", sagt Vogt. Außerdem verstünden sie es perfekt, erzkonservative Inhalte in einer Mischung aus Party und Disco zu verpacken. "Wer als Außenstehender in diese Versammlung reingerät, der hat eher das Gefühl, auf Konzerten zu sein, als dass er einen Gottesdienst besucht. Es wird getanzt, es wird gehüpft, es gibt ekstatische Gesänge."
Auch andere Formen christlichen Entertainments sind ein Renner, beispielsweise die US-amerikanische Serie "The Chosen" über das Leben von Jesus, konzipiert von einem evangelikalen Filmemacher. Inzwischen werden die Staffeln in zahlreichen Ländern ausgestrahlt.
Biblische Botschaften mit ein bisschen Zeitgeist aufzupeppen ist auch die Idee von "Hallow", der wohl erfolgreichsten Gebets-App der Welt. Finanziert wurde sie vor allem von Trumps Vizepräsident J.D. Vance und dem libertären, neokonservativen PayPal-Gründer Peter Thiel. US-Schauspieler werben für die App. Millionen Menschen weltweit haben sie inzwischen heruntergeladen und lauschen Bibelversen und Meditationsmusik, aber auch den Ansprachen christlich-fundamentalistischer Influencer. Kritiker warnen vor religiöser Manipulation.

Im religiösen Gefühlschaos

Bernd merkt schon als Kind: So kann er nicht weiterleben. Auf einer Jugendfreizeit vertraut er sich dem Leiter an: Er habe die "Heilsgewissheit" nicht. Der Betreuer setzt sich mit Bernd in ein Auto, fängt an zu beten. "Plötzlich spürte ich seine Hand auf meinem Kopf und er drehte die Hand immer hin und her, dass ich wirklich das Gefühl hatte, er wollte eine Zitrone auspressen, und schrie mich an: 'Satan, raus aus diesem Menschen! Du hast kein Anrecht an diesem Menschen.' Und ich fühlte mich einfach nur entsetzlich und musste ihm schildern, dass ich mich nun glücklich fühlte, dass ich nun ein Gotteskind bin. Dabei fühlte ich mich schlechter als jemals zuvor."
Jahre nach seinem Ausstieg – damals als 16-Jähriger – vollzieht Bernd Vogt noch einmal eine Kehrtwende. Er ist am Ende seiner Kräfte und kehrt zurück. Für die evangelikale Gemeinde und seine Eltern ist es der Beweis der Gnade Gottes, dass ihre Gebete erhört wurden.
Doch bald bricht das religiöse Gefühlschaos wieder auf. Bernd Vogt zieht sich erneut zurück, diesmal für immer, lässt sich nun therapeutisch begleiten, schreibt ein Buch über seine traumatischen Erinnerungen und schafft es auf diese Weise endlich, seine Vergangenheit zu bewältigen. "Für mich ist es einfach schlimmster seelischer Missbrauch, wenn Kindern unter dem Deckmantel der Religionsfreiheit ihrer Eltern das Recht auf ein selbstbestimmtes Leben verwehrt wird", sagt er heute.

Audiobeitrag: Margot Litten, Onlinetext: Margot Litten, Leila Knüppel
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