Evangelikale in den USA

Religionsfreiheit als Argument gegen die Impfpflicht

08:18 Minuten
Ein Demonstrant mit Bart und Sonnenbrille auf der Covid-Demonstration in Brooklyn.
Für manche evangelikale Christen in den USA ist die Impfung ein Ding des Teufels (hier in Brooklyn). Offiziell lehnen die Evangelikalen Kirchen nur die Impfpflicht ab. © Deutschlandradio / Susanna Petrin
Von Susanna Petrin · 21.11.2021
Audio herunterladen
Der Anteil der Geimpften ist in den USA geringer als in den meisten europäischen Ländern. Der Bund und viele US-Staaten haben deshalb eine Impfflicht für Angestellte im öffentlichen Dienst verhängt. Doch Impfverweigerer haben einen Ausweg gefunden.
Eine Covid-Demonstration in Brooklyn. „Stand with Kyrie“, skandieren Hunderte im Chor. Kyrie Irving ist ein beliebter Basketballspieler – und als Ungeimpfter gesperrt. Doch es geht hier längst nicht nur um ihn. Der Staat New York verlangt von allen öffentlichen Angestellten einen Impfnachweis; ob Lehrer, Krankenschwester oder Polizistin. Immer mehr staatliche sowie private Betriebe landesweit handhaben es ähnlich: ohne Impfung kein Job. Dagegen protestieren dieser Tage einige Tausend Menschen.

Impfverweigerung „im Namen Gottes“

In New York werden diese Demonstrationen von einem Priester angeführt, von Reverend Kevin McCall der „Anointed by God“-Kirchgemeinde. Denn die hiesige Prägung von Impfgegnern bringt Gott ins Spiel.
So argumentierte etwa McCall erst kürzlich auf einer Demo unter dem Beifall der Umstehenden: „Wie können Sie dir deine verfassungsgemäßen Rechte wegnehmen, wenn sie dir nicht zugleich Gott wegnehmen? Wir stehen hier im Namen Gottes.“
Eine Menschenmenge hinter der Absperrung auf der Covid-Demonstration in Brooklyn.
In Brooklyn demonstrieren evangelikale Gläubige für den Basketballer Kyrie Irving, der als Ungeimpfter gesperrt ist.© Deutschlandradio / Susanna Petrin
In den USA wird gegen die Impfflicht weniger mit der persönlichen, als mit der religiösen Freiheit argumentiert.

Gott hat Dir Deinen Köper gegeben, damit du ihn reinhältst. Und wir glauben, dass das Vakzin nicht rein ist. Ich bin nicht gegen die Impfung. Ich unterstütze ein Kirchenmitglied, das sich impfen lässt, genauso wie ein Mitglied, das sich nicht impfen lässt. Es sollte ihre Wahl sein. Ich stehe für religiöse Freiheit ein.“

Reverend Kevin McCall

Ausnahmen für religiöse Impfverweigerer

Jene Kirchenmitglieder, die sich nicht impfen lassen wollen, unterstützt Kevin McCall, indem er ihnen «religious exemptions» aushändigt: religiöse Ausnahmebescheinigungen. Ein neuer Trend vor allem in den evangelikalen Kirchen des Landes.
Wer eine solches Dokument wolle, müsse beweisen, dass eine Impfung mit dem eigenen Glauben unvereinbar sei, sagt McCall: „Es gibt keine Garantie für eine Ausnahmebescheinigung. Man muss dafür eine aufrichtige religiöse Überzeugung nachweisen. Ich mache es davon abhängig, ob jemand zu den Messen kommt, die Bibel versteht, versteht, was das wirklich bedeutet.“
William Devlin, Co-Pastor der «Infinity Bible Church», geht noch einen Schritt weiter. Er stellt die Bescheinigungen online für Menschen jeglicher Glaubensrichtung im ganzen Land aus, sogar für Atheisten. Denn jene glaubten auch – nur eben an den Zufall:
“Im Augenblick haben wir Hunderte von Interessenten, wir bekommen auch Anrufe von weit her, aus Hawaii, aus dem Staat Washington. Wenn alle Stricke reißen, dann setzen wir die Leute mit einem Team von unentgeltlich arbeitenden Anwälten in Kontakt. Sie arbeiten darauf hin, dass diese Menschen sich mit Berufung auf das Bürgerrechtsgesetz von 1964 an ihre Arbeitgeber wenden. Abschnitt Sieben darin besagt, dass der Arbeitgeber angemessene Vorkehrungen treffen muss, für jemanden, der ‚aufrichtige religiöse Überzeugungen‘ hat.“

Evangelikale stellen Bezug zu Abtreibungen her

William Devlin zieht Parallelen zum Hijab, den eine Muslimin während der Arbeit tragen darf. Oder zum Gewehr, das ein Soldat aus religiösen Gründen verweigern kann. Neben dem allgemeinen Gebot der religiösen Freiheit, kommt er auf ein häufig ins Feld geführtes, sehr spezifisches Argument zu sprechen:
„Wir wissen, dass bei der Entwicklung der mRNA-Impfstoffe Gewebeproben von Föten verwendet wurden. Viele Leute sagen: Hey, ich möchte ja nichts zu tun haben mit einem experimentellen Vakzin, das mit Hilfe von Fötus-Zellen abgetriebener Babies entwickelt worden ist. Das ist gegen unsere moralischen Grundsätze.“
Die Forschung hat zuletzt in den 80er-Jahren mit wenigen Fötus-Zelllinien aus freiwilligen Abtreibungen gearbeitet. Manche Evangelikale verzerren diese Tatsache nun derart, dass bildungsferne Christen im Extremfall glauben, ungeborene Babys hätten für diese Impfstoffe sterben müssen.

Missbrauch der Religion für politische Zwecke

Wirklich gestorben wird dagegen an Covid. Rund 740 000 Menschen allein in den USA. Ist es da nicht unverantwortlich, Menschen im Kampf gegen die Impfung zu unterstützen? Das Leben liege in der Hand Gottes, sagt McCall.
Und Devlin erklärt: „Das ist ein Risiko, aber wir nehmen jeden Tag Risiken auf uns: Wenn wir die U-Bahn, das Flugzeug, den Zug oder das Auto nehmen. Morgens aufzustehen ist ein Risiko. Und das andere Problem ist: Wir wissen, dass bei vielen Menschen die Impfung nicht wirkt.”

„Grundsätzlich gibt es keinen substantiellen religiösen Grund, sich nicht impfen zu lassen, weder für Christen noch für andere Weltreligionen. Aber es ist eine politische, kulturelle Angelegenheit geworden. Religiöse Gemeinschaften, vor allem Evangelikale, sind von konservativen Politikern in eine Art religiöse Waffe umgewandelt worden. Die konservative Bewegung hat realisiert, dass sie diese Bevölkerungsgruppe für ihre eigenen politischen Bewegungen oder Verschwörungstheorien, wie Q-Anon, rekrutieren kann.“

Curtis Chang, Theologe

Offiziell argumentiert keine Kirche gegen die Impfung. Im Gegenteil. Der Papst spricht vom Impfen als einem Akt der Nächstenliebe und viele US-Geistliche jeder Konfession tun es ihm gleich.

Der „Schutz des Lebens“ – plötzlich nicht mehr so wichtig?

Der Theologe Curtis Chang, selbst ein ehemaliger Priester, glaubt denn auch, dass Religion als Argument gegen die Impfung politischer Missbrauch sei.
Als geradezu ironisch empfindet er es, dass Evangelikale nun die Parole “Mein Körper, meine Entscheidung” ausgeben:
„Das ist genau dieselbe Rhetorik, welche die Pro-Abtreibungsbewegung jahrelang verwendet hat und für die sie von genau denselben Evangelikalen kritisiert worden ist. Diese sagten dazu: ‚Nein, es ist nicht dein Körper, deine Wahl. Was du mit deinem Körper tust, hat einen Einfluss auf das Leben anderer.‘ Und das trifft offensichtlich auf die Impfung zu. Was du tust, kann Menschen mit einer Immunschwäche schädigen, oder Impfdurchbrüche bei anderen begünstigen.“

Wissenschaft und Religion gehen zusammen

Religion, Rechtskonservatismus und Wissenschaftsskepsis gehen immer öfter Hand in Hand, lautet auch die Analyse von Elaine Howard Ecklund, eine auf Religion spezialisierte Soziologin an der Rice Universität in Texas.
Dabei gebe es viele christliche Wissenschaftler. Diese sollten öfter als Brückenbauer agieren. Den religiösen Impfgegnern müsse man zeigen, dass Wissenschaft und Religion sehr wohl zusammengehen:
„Die Herausforderung für einflussreiche Persönlichkeiten ist es, Wissenschaftsskepsis und Religion getrennt zu halten und zu zeigen, dass es ok ist, religiös konservativ zu sein, aber gleichzeitig pro Wissenschaft und pro Impfung.“
Der Widerspruch zwischen individueller Glaubensfreiheit und staatlichem Schutz der Allgemeinheit beschäftigt nun auch die Gerichte. Gut möglich, dass am Ende der oberste Gerichtshof ein wegweisendes Urteil dazu fällen wird.
Mehr zum Thema