Europas neue Metropolregion im Norden

Von Christoph Kersting · 30.06.2011
Nur 100 Fährminuten trennen Tallinn und Helsinki. Mit dem EU-Beitritt Estlands 2004 wurde eine Fahrt ins Nachbarland Finnland zur schnellen Spritztour. Für Zukunftsforscher ein Beispiel dafür, wie neue Metropolregionen Europas künftig prägen werden.
Neun Uhr morgens auf der Expressfähre von Tallinn nach Helsinki. Die See ist ruhig, der Himmel klar über dem Finnischen Meerbusen. Das Boot hat vor einer halben Stunde im Hafen von Tallinn die Leinen losgemacht und wird pünktlich gegen halb elf die finnische Hauptstadt erreichen. Zwei der begehrten Fensterplätze haben Jaak Raid und Andrus Uudmae ergattert. Doch für den Blick über die Ostsee haben die beiden jungen Geschäftsleute heute keinen Sinn, sie sitzen mit Schlips und Kragen hinter ihren Laptops und bereiten sich auf einen Arbeitstermin in Helsinki vor.

Jaak Raid: "Wir sind Aktionäre eines finnischen Unternehmens und haben dort heute Gespräche in einer Bank. Wir sind oft in Helsinki, auch wenn wir verreisen wollen. Da hast Du einfach viel mehr internationale Flugverbindungen als in Tallinn. Für uns ist das normal. Klar, man liest in den Zeitungen von einem Tunnel, einer Brücke, dass wir zu einer großen Stadt zusammen wachsen und so weiter."

Andrus Uudmae: "Es sind ja vor allem finnische Tagestouristen, die zu uns nach Tallinn kommen, und wir profitieren da schon enorm von. Auf der anderen Seite arbeiten viele Esten in Finnland, vor allem im Raum Helsinki."

Tatsächlich ist die Fähre auch an diesem Tag voll von Menschen, die das Wochenende bei ihren Familien in Estland verbracht haben. Jetzt fahren sie zur Arbeit von einer Hauptstadt in die andere: viele Bauarbeiter, Handwerker und Busfahrer sind heute dabei - typisch für einen Montagmorgen. Jeden Monat sind es bis zu 400.000 Menschen, die die 80 Kilometer zwischen Estland und Finnland, Tallinn und Helsinki, hin- und herfahren. Besonders im Sommer, wenn die Tagestouristen dazu kommen, sind die bis zu 40 Fähren pro Tag oft ausgebucht.

Viele Finnen und Esten sprechen darum etwas scherzhaft von "Talsinki", wenn sie der Hauptstadtregion im Nordosten Europas einen Namen geben wollen. Dass der Begriff eine Erfindung des estnischen Schriftstellers Jaan Kaplinski aus den 90er Jahren ist, wissen nur wenige. Für Kaplinski war es eine Vision, für die Menschen heute ist die Idee von "Talsinki" fast schon Normalität: 2004 wurde die ehemalige Sowjetrepublik Estland EU-Mitglied, seit dem estnischen Beitritt zum Schengen-Raum vor vier Jahren gibt es keine Grenzkontrollen mehr, und neuerdings haben Esten und Finnen sogar eine gemeinsame Währung: Estland hat seine Krone zum Jahreswechsel gegen den Euro eingetauscht.

Dienstbesprechung auf der Rehastation des Herttoniemi-Hospitals im Osten Helsinkis. Annika Funu-Cracker berichtet ihren Kollegen von einer Patientin, die Probleme macht: Die alte Dame will ihre Medikamente nicht nehmen. Während die Expressfähre auf dem Weg Richtung Helsinki ist, hat Annika am Zielort schon die Hälfte ihrer Frühschicht hinter sich. Die 39-jährige Estin hat ihre Ausbildung zur Krankenschwester vor 20 Jahren in Tallinn gemacht. Seit 2007 nun arbeitet sie in Helsinki, die ersten Jahre in der ambulanten Pflege, seit einigen Monaten im Herttoniemi-Hospital. Rund 2500 Euro verdient sie dort: gut drei Mal soviel wie Kollegen in Estland, erzählt die Krankenschwester:

"Finnland ist gut für mich, ich mag es und plane, hier zu bleiben. Auch weil Esten und Finnen sich ja sehr ähnlich sind, sie haben eine ähnliche Geschichte und Sprache, sind vom Charakter her eher ruhig und introvertiert. Natürlich gibt es auch Unterschiede, die Arbeitskultur in Finnland ist zum Beispiel moderner: Hier habe ich viel Verantwortung, in Estland ist noch alles sehr viel hierarchischer. Meine Familie lebt nach wie vor in Estland, in Tallinn. Ich habe einen Sohn, der jetzt 17 ist, aber er mag Finnland nicht sonderlich, vielleicht ändert sich das und er studiert eines Tages hier. Inzwischen habe ich hier auch geheiratet, einen Mann aus Ghana."

Fast auf jeder Station des Krankenhauses gebe es eine Kollegin oder einen Kollegen aus Estland, berichtet Annika. Esten nehmen nicht nur häufig aus privaten oder beruflichen Gründen die Fähre in Richtung Finnland, viele werden auch dauerhaft sesshaft im nahen Nachbarland, so wie die Krankenschwester Annika Funu-Cracker - ein Trend, den auch die Zahlen der finnischen Registrierungsbehörde bestätigen. Denn neuerdings haben estnische Staatsbürger die russischen Immigranten als größte Ausländergruppe in Finnland abgelöst: Knapp 30.000 Esten leben und arbeiten inzwischen vor allem im Großraum Helsinki.

Finnland ist größer, reicher und für viele das Vorzeigemodell des europäischen Wohlfahrtsstaates – Grund genug für so manchen Esten sein Glück auf dem finnischen Arbeitsmarkt zu suchen. Doch Estland sei auch jünger, dynamischer und die Menschen seien dadurch mobiler als ihre finnischen Nachbarn, sagt der estnische Politologe Rainer Kattel. Der 36-Jährige sitzt in einer der schicken Bars am Rand der Altstadt und nippt an seinem Milchkaffee. Er selbst ist ein typischer Vertreter dieses im Wortsinn jungen Estland: Schon mit 28 Jahren wurde Kattel Professor an der Technischen Universität Tallinn – und tatsächlich trifft man bis heute in den Chefetagen estnischer Unternehmen oder in Ministerien nur wenige, die über 45 sind.

Rainer Kattel: "Talsinki, das ist einfach eine sehr starke Idee, vor allem unter ökonomischen Gesichtspunkten, aber auch für meinen wissenschaftlichen Arbeitsbereich: Ich stelle mir da eine gemeinsame Universität in Helsinki und Tallinn vor. Schon heute sind die Beziehungen ja sehr eng. Ein Drittel unseres Exports gehen nach Finnland und Schweden, und es ist heute leichter von Tallinn nach Helsinki zu kommen als in die zweitgrößte Stadt Estlands, Tartu. Mit der Fähre über die Ostsee, das ist für uns doch wie Busfahren. Ich selbst wohne nicht weit vom Tallinner Hafen, ich wohne also quasi in 'Talsinki'"

So ähnlich empfinden das auch Menschen wie Leo Lindell, der den umgekehrten Weg eingeschlagen hat. Der 27-jährige Finne steht wie jeden Morgen kurz hinter der Rezeption eines großen Vier-Sterne-Hotels der estnischen Hauptstadt. Mit den Hotelangestellten geht er am Rechner die Belegungslisten durch, notiert sich, wann genau an diesem Tag zwei große Reisegruppen aus Finnland und Italien eintreffen. Sein eigentlicher Arbeitsplatz liegt im Verwaltungstrakt des Gebäudes: Leo Lindell arbeitet im Management des Spa-Hotels am Rand der schmucken Altstadt von Tallinn.

"Für meine Branche ist Finnland einfach nicht so spannend: Die Hotelindustrie in Tallinn ist da sehr viel dynamischer. Ich glaube einfach, dass wir in vielen Lebensbereichen sehr viel gemeinsam haben, dieses Innovative zum Beispiel. Nokia in Finnland, und Skype kommt ja aus Estland. Esten und Finnen sind ausgeprägte Familienmenschen, gehen gerne in die Sauna."

Auch der Politologe Rainer Kattel betont die Gemeinsamkeiten beider Völker in puncto Lebensgefühl und Mentalität. Die Esten hätten sich schon immer eher als Skandinavier empfunden. Zwar seien die Beziehungen zu den anderen baltischen Ländern, Lettland und Litauen, auch sehr gut, aber eben nicht so eng wie zu Finnland. Schon zu Sowjetzeiten galt Tallinn nicht nur geografisch als die westlichste Stadt hinter dem Eisernen Vorhang: Denn zumindest im Norden Estlands schauten die Menschen finnisches Fernsehen. So lernten die Esten nicht nur die Sprache der Nachbarn, sondern auch eine etwas andere Sichtweise auf die Welt. Auch in schwierigen Zeiten griff man sich unter die Arme: Finnische Freiwilligenbataillone unterstützten Estland 1918 im Freiheitskampf gegen die Rote Armee und estnische Einheiten kamen den Finnen 1939 im Winterkrieg mit Russland zur Hilfe. Doch laut Rainer Kattel gibt es auch Unterschiede zwischen Estland und Finnland:

"Ich denke, was die Finnen auszeichnet, ist ihre Fähigkeit zum Konsens, sei es im politischen oder gesellschaftlichen Bereich. Da hat das Land in den vergangenen 100 Jahren eine beeindruckende Entwicklung gemacht. Wir Esten sind da ganz anders. Wir sind nicht sonderlich konsensfähig, weil wir schon den Konflikten aus dem Weg gehen. Wir sehen uns auch historisch immer sehr schnell in der Opferrolle. Und schließlich fehlt uns auch diese typisch finnische Selbstironie, die sich ja herrlich in den Kaurismäki-Filmen zeigt. Wir wollen dafür immer gut aussehen, vor allem gegenüber dem Westen, das ist fast schon paranoid."

Die Konsensfähigkeit der Finnen zeigt sich etwa im Umgang mit ihren Minderheiten. Nur fünf Prozent der rund fünf Millionen Einwohner Finnlands sind Schweden, dennoch ist das Land zweisprachig: Schwedisch und Finnisch sind offizielle Amtssprachen. Ganz anders in Estland: Dort sind ein Drittel der 1,3 Millionen Staatsbürger russischstämmig. Nur die Hälfte dieser Menschen hat allerdings die estnische Staatsbürgerschaft, weil sie schlecht oder gar nicht Estnisch sprechen. Der Rest hat entweder einen russischen Pass oder ist staatenlos.

Von einer echten Metropolregion will Rainer Kattel deshalb noch nicht sprechen, dafür fehlt seiner Meinung nach auch die verkehrstechnische Anbindung an Europa. Das soll sich vor allem ändern durch die "Rail Baltica", eine neue Eisenbahnlinie von Warschau über Litauen und Lettland nach Tallinn.

Spätestens 2016 soll die neue Verkehrsachse in Betrieb gehen, heißt es in einem Werbefilm der EU. Das letzte Teilstück und quasi die Krönung der "Rail Baltica" wäre eine direkte Verbindung unter der Ostsee zwischen Tallinn und Helsinki – kein Hirngespinst, sagt Roope Mokka. Der Soziologe und Zukunftsforscher ist Gründer des Demos-Institus in Helsinki, einer Denkfabrik, die Zukunftsmodelle urbaner Räume untersucht und entwirft:

"Ein solcher Eisenbahntunnel ist durchaus realistisch, ich würde sogar sagen, er ist entscheidend dafür, wie sich die ganze Region global behaupten wird. Denn wenn wir über eine solche Verbindung sprechen, zumindest aus finnischer Sicht, ist es mehr noch ein Tunnel nach Europa als nur nach Tallinn. Es geht doch für uns um die Frage, ob wir so etwas wie ein Vorort von St. Petersburg mit seinen fünf Millionen Menschen sein wollen, oder ob wir als Talsinki-Region ein Bindeglied zwischen Ost und West sind und damit in einer ganz anderen Liga spielen."

Ein wahrhaft ambitioniertes Projekt: Mit rund 90 Kilometer Länge wäre der Eisenbahntunnel der mit Abstand längste seiner Art weltweit - fast zweimal so lang wie der Eurotunnel beispielsweise, der auf 50 Kilometer Länge unter dem Ärmelkanal verläuft. Laut einem estnischen Regierungspapier aus dem Jahr 2008 würden sich die Kosten für das Mammutprojekt auf drei Milliarden Euro belaufen.

In frühestens zehn Jahren könnte es laut Roope Mokka so weit sein, dass der Tunnel gebaut wird. Entscheidend sei dabei vor allem die Frage, wie schnell die Energiepreise aus dem Ruder liefen und so Auto und Flugzeug als Transportmittel gegenüber der Bahn unerschwinglich machten. Keine wirkliche Gefahr für visionäre und länderübergreifende Projekte geht dabei nach Meinung des Soziologen von den jüngsten politischen Verwerfungen in seiner Heimat aus: Bei den finnischen Parlamentswahlen im April hatte die rechtspopulistische Partei der "Wahren Finnen" immerhin 19 Prozent der Stimmen geholt:

"Natürlich ist das erstmal erschreckend. Wir sehen uns selbst ja für gewöhnlich gerne als ein sehr moderates, gebildetes Land. Und in dieses Bild passen solche Leute einfach nicht rein: Die sind ja gegen alles, was eben nicht finnisch ist. Natürlich wirft das das Land zurück. Auf der anderen Seite haben gewählte Politiker bei uns nicht sonderlich viel Macht. Wir sehen das ja jetzt schon, dass auch die "Wahren Finnen" wichtige Entscheidungen auf EU-Ebene nicht verhindern können, wenn es um Griechenland oder Portugal geht. Ich glaube, dass diese Leute bei der nächsten Wahl schon keine Rolle mehr spielen."

Auch die meisten Esten lasse das Gerede der "Wahren Finnen" eher kalt, erzählt Valdar Liive auf der Abendfähre zurück in Richtung Tallinn. Liive leitet die Außenstelle des estnischen Wirtschaftsministeriums in Helsinki und pendelt wöchentlich vom einen Teil "Talsinkis" in den anderen, wie er sagt:

"Finnland und Estland treiben seit 700 Jahre Handel, das sind auch 700 Jahre gegenseitiges Vertrauen! Wir haben gemeinsame Werte: Was ist gut, was schlecht? Was macht die Qualität eines Produkts aus? Um aber global konkurrenzfähig zu sein, müssen kleine Länder wie wir zusammenarbeiten. Und das tun wir ja auch schon, im Tourismus vor allem. Auf der Expo in Shanghai haben wir uns schon gemeinsam mit den finnischen Kollegen an einem gemeinsamen Stand präsentiert. Denn wenn Sie etwa von Indien aus auf die Region schauen, dann liegt zwischen uns nicht mehr als ein breiter Fluss. Auch ein Tunnel ist da eine gute Werbung für unsere Region, ich mag die Idee sehr, und technisch ist das machbar. Vor 15 Jahren hieß es noch: ein Tunnel? Totaler Nonsens! Heute sagen dieselben Leute: ja, das ist möglich, und vielleicht in zehn Jahren Realität."
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