Mittelalter und Moderne
Die estnische Hauptstadt Tallin ist europäische Kulturhauptstadt 2011, neben dem finnischen Turku. Man werde in diesem Jahr neben traditionellen Veranstaltungen wie dem Sängerfest auch junge, moderne Künstler präsentieren, auch aus der russischen Minderheit, sagt Maris Hellrand, eine der Organisatorinnen des Kulturhauptstadtprogramms.
Katrin Heise: Tallinn, Kulturhauptstadt 2011, ist die Hauptstadt einer jungen Nation, die sich erst jetzt so recht findet nach dem Ende der Sowjetunion und der Gründung des Staates Estland 1991. Zum Gründungsmythos des estnischen Staates gehört die Sangestradition, zugleich blickt Tallinn auf eine bedeutende Geschichte als Hansestadt zurück, als die Stadt noch Reval hieß.
Geprägt ist das politische und kulturelle Leben Tallinns aber auch von der Jugendlichkeit der Führungsschicht und einer ganz großen Begeisterung für die Moderne, nicht zuletzt einer Begeisterung fürs Internet. Das ist jetzt mal in aller Kürze etwas über Tallinn gesagt, eine Stadt, die den Touristen sich wiederum vor allem mit einer malerischen Altstadt präsentiert.
Ich begrüße nun Maris Hellrand, sie ist Journalistin und Mitorganisatorin des Kulturhauptstadtprogramms. Schönen guten Tag, Frau Hellrand!
Maris Hellrand: Schönen guten Tag auch aus Tallinn!
Heise: Tallinn hat ja 400.000 Einwohner, liegt an der Ostsee, ist sehr geschichtsträchtig, stand acht Jahrhunderte lang unter wechselnder Fremdherrschaft und kommt jetzt aber sehr, sehr modern daher. Wie verträgt sich das alles miteinander in Tallinn, vor allem auch auf kultureller Basis?
Hellrand: Ja, in Tallinn trifft Mittelalter auf das Moderne. Das sieht man sowohl architektonisch im Stadtbild heute und im Kulturleben ebenfalls. Die Altstadt ist die Szene für viele traditionelle Veranstaltungen, die ganz klar von den Traditionen geprägt sind, und gleichzeitig nebenan sind dann Clubs und Theater und Konzertsäle, die ganz was Modernes und Neues machen.
Heise: Läuft das nebeneinander her oder geht das auch manchmal miteinander?
Hellrand: Das geht auch manchmal miteinander. Also es ist nicht ungewöhnlich, dass man klassische Konzerte begleitet von moderner Technik, mit Videoinstallationen und -projektionen.
Heise: Besonders auffällig ist ja doch die Jugendlichkeit in Estland, man hört immer wieder von der ungeheuren Affinität zum Internet. Gleichzeitig habe ich aber schon erwähnt die Tradition des Liedes, des Singens. Passt das eigentlich tatsächlich zusammen, singen die Jungen und die Alten, oder ist das eigentlich eine getrennte Angelegenheit?
Hellrand: Singen ist für die Jugend genau so wichtig, wenn nicht wichtiger als für die ältere Generation. Also es ist ganz normal, dass alle Gymnasien mehrere Chöre haben. Und diesen Sommer werden wir wieder das Jugendsommerfest haben, wo 30.000 Kinder und Jugendliche zusammen auf der Bühne stehen, und es ist bestimmt nicht so, dass alle, die wollen, hinkommen. Also, alle Chöre üben tüchtig und im Frühjahr werden dann die besten ausgewählt, die da mitsingen dürfen. Also es ist ganz, ganz klar, für die Kinder und die Jugendlichen ist das eine Ehrensache da mitzumachen.
Heise: Dieses Sängerfest, was Sie erwähnt haben, das findet sowieso alle fünf Jahre in Tallinn statt, das wird jetzt dieses Mal vorgezogen sozusagen, um ins Kulturhauptstadtjahr hineinzupassen. Aber auch unabhängig davon, auch außerhalb dieses Kulturhauptstadtjahres heißt es, wenn ich Sie richtig verstehe, steht dieses Singen ganz hoch im Kurs bei Jung und Alt. Sie haben sogar gesagt, bei den jungen Leuten sogar noch höher als bei den Alten. Wie kommt das?
Hellrand: Ja, das ist glaube ich so eine nationale Eigenart der Esten. Wir sind normalerweise sehr skeptisch und ironisch allem gegenüber, auch uns selbst inbegriffen, und diese Sängerfeste sind dann irgendwie die Momente im Leben, wo wir es uns erlauben, unsere Seele zu zeigen. Und wir können aufstehen und weltfremden Leute Hände halten und zusammen singen, Lieder, die wir schon immer gesungen haben. Und das ist so eine einmalige Gelegenheit, auch mal also sich emotional auch zu öffnen, nicht nur diese nordische Geschlossenheit und Selbstironie immer aufzubewahren.
Heise: Wir hier im Deutschlandradio Kultur lernen Tallinn, in diesem Jahr nicht nur estnische Hauptstadt, sondern eben auch europäische Kulturhauptstadt, etwas besser kennen mithilfe von Maris Hellrand. Frau Hellrand, im Kulturhauptstadtjahr gibt es noch einen Schwerpunkt, Meeresküste nämlich. Es wird eine Kulturmeile am Meer geben, ein neues Meeresmuseum. Wird damit auch so ein bisschen die Zeit der Hansestädte oder der bedeutenden Ostseestädte in Erinnerung gerufen, gibt es da eigentlich auch eine Zusammenarbeit?
Hellrand: Auf jeden Fall. Also es ist ja so, dass wirklich die Geschichte nach Tallinn über das Meer gekommen ist, die Reichtümer, die europäische Kultur, aber auch die Eroberer. Und wir wollen eigentlich dieses Stück in der Stadt, für die Bürger der Stadt auch zurückgewinnen. Weil es ist, in den letzten 50, 70 Jahren ist da nichts passiert, man konnte da nicht hin und es gibt jetzt auch keinen Grund dort hinzugehen. Und das wollen wir eben ändern.
Heise: Was heißt das, es gibt keinen Grund dort hinzugehen? Das heißt, eine Promenade am Wasser lang gibt es in Tallinn eigentlich so nicht und dass man da spazieren geht abends?
Hellrand: Nicht im Stadtzentrum. Und das vermissen aber die Leute hier schon sehr und das wird sich jetzt diesen Sommer ändern dadurch, dass das Meeresmuseum eröffnet wird im Juli, das ist direkt am Wasser, ein sehr spektakuläres Gebäude und auch mit einem klassischen Konzert eröffnet, und der Kulturkilometer, also eine Strandpromenade, wird das Meeresmuseum mit den Hafenterminals verbinden und führt auch am Kulturkessel, am Katel, vorbei, wo ebenfalls unsere Veranstaltungen stattfinden werden. Und hoffentlich zeigen wir dadurch auch das volle Potenzial dieser Gegend mit den eigentlich wunderschönen Sonnenuntergängen im Sommer.
Heise: Das heißt, es ist aber auch ein Projekt, was noch im Entstehen ist und auch noch nicht ganz fertig ist, diese Kulturmeile, habe ich Sie da richtig verstanden?
Hellrand: Das ist noch im Entstehen. Im Moment sind da Skilanglaufbahnen drauf, weil einfach so viel Schnee liegt. Aber sobald der Schnee weg ist, wird das fertiggestellt.
Heise: Inzwischen wird in Tallinn oder in ganz Estland neben dem Estnischen vor allem Englisch gesprochen. Bis vor wenigen Jahren war Russisch die erste oder beziehungsweise Zweitsprache, überhaupt ist Tallinns Einwohnerschaft, wenn ich das richtig gelesen habe, bis zu 50 Prozent russischer Herkunft. Wie spiegelt sich das eigentlich im Kulturhauptstadtjahr wider?
Hellrand: Das war natürlich für uns hier auch ein wichtiger Aspekt, den wir immer im Auge behalten. Und von den 250 Projekten, sagen wir mal, sind über 30 jetzt minoritätenbezogen. Das heißt, russische Kulturveranstalter machen mit, aber auch Ukrainer, alle, die hier wohnen. Und es sind einige sehr spannende Projekte dabei, die auch die Verbindung mit Russland widerspiegeln wie zum Beispiel "Stadt der Träume", eine Konzertserie im Park Kadriorg, den ja Peter der Große für seine Frau in Tallinn gebaut hat. Also das ist ein Park und das Schloss. Und diese Geschichten wollen wir da wieder erzählen. Und aber auch ganz moderne junge russische Künstler werden eine Möglichkeit haben, ihre Arbeit vorzustellen.
Heise: Jetzt ist das Zusammenleben zwischen den Russen und den Esten ja nicht immer ganz spannungsfrei, im Gegenteil, 2007 kam es auch zu Ausschreitungen. Wie waren denn die Vorbereitungen auf das Kulturhauptstadtjahr gemeinsam?
Hellrand: Also da gab es eigentlich keine Reibungspunkte, weil sich Leute, die sich für Kultur interessieren und die Kultur schaffen, von Politik eigentlich nicht manipulieren lassen und stehen dieser Koexistenz dieser zwei Kulturen ganz normal gegenüber.
Heise: Werden die verschiedenen Einflüsse, auch überwundene, also zum Beispiel dänischer, deutscher, schwedischer, russischer oder eben sowjetischer Herrschaft, eigentlich als Bereicherung kulturell empfunden, oder ringt man in Estland eher noch um eine kulturelle Identität nach so einer doch relativ kurzen Unabhängigkeit?
Hellrand: Ja, das ist ja irgendwo unsere kulturelle Identität, weil das unsere Geschichte ist. Also wir haben Bernt Notkes "Totentanz" hier in der Kirche, und das sehen wir ganz normal als Teil unserer estnischen Kultur an. Estnische Kultur hat immer einen großen Durst nach europäischer Kultur gehabt und diesen Durst löschen wir immer noch, aber wir sehen das eigentlich jetzt nicht so, dass diese Fremdherrschaften hier nicht dazugehören, sondern das ist ganz klar, dass alle kulturellen Spuren, die hinterlassen wurden, ein Teil unserer Kultur geworden sind.
Heise: Sie haben eben das schöne Bild gebraucht, dass die Esten ihren kulturellen Durst löschen und ihren europäisch-kulturellen Durst löschen. Jetzt sind sie europäische Kulturhauptstadt. Was erhoffen sich die Einwohner Tallinns eigentlich davon?
Hellrand: Also wir erhoffen uns natürlich, dass ganz Europa unsere Kultur sieht, herkommt und uns kennenlernen möchte, und gleichzeitig auch durch verschiedene Kunstresidenzen, dass europäische Künstler und Kulturschaffende auch herkommen und hier arbeiten wollen, damit diese Integration auch im kulturellen Feld weitergeht.
Heise: Und dadurch dann wieder eine Bereicherung stattfindet. Haben Sie einen kulturellen, einen persönlichen kulturellen Höhepunkt, den man auf gar keinen Fall verpassen sollte?
Hellrand: Also für mich, abgesehen von dem Sängerfest jetzt, wäre das ein Kinoprojekt, das heißt "60 Sekunden Einsamkeit im Jahre Null", und es findet statt im August, wobei etwa 100 Regisseure weltweit oder europaweit 60-Sekunden-lange Filme drehen, und diese werden dann alle in einer Vorführung gezeigt auf einer Leinwand, die im Meer gebaut wird, sodass das Publikum am Strand sitzt. Und von diesen Filmen existiert aber nur eine einzige Kopie, die nach der Vorführung verbrannt wird, und zum Schluss wird auch die ganze Leinwand in Feuer aufgehen, inszeniert von La Fura dels Baus aus Spanien. Das denke ich ist das absolute künstlerische Highlight des Jahres.
Heise: Sollte man sich also schon mal notieren. Danke schön, Maris Hellrand, für dieses Gespräch und die Information über Tallinn und das Programm als europäische Kulturhauptstadt 2011. Frau Hellrand, ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag!
Hellrand: Vielen Dank und herzlich willkommen in Tallinn!
Heise: Maris Hellrand war das, sie hat das Kulturprogramm in der Kulturhauptstadt Tallinn mit organisiert.
Geprägt ist das politische und kulturelle Leben Tallinns aber auch von der Jugendlichkeit der Führungsschicht und einer ganz großen Begeisterung für die Moderne, nicht zuletzt einer Begeisterung fürs Internet. Das ist jetzt mal in aller Kürze etwas über Tallinn gesagt, eine Stadt, die den Touristen sich wiederum vor allem mit einer malerischen Altstadt präsentiert.
Ich begrüße nun Maris Hellrand, sie ist Journalistin und Mitorganisatorin des Kulturhauptstadtprogramms. Schönen guten Tag, Frau Hellrand!
Maris Hellrand: Schönen guten Tag auch aus Tallinn!
Heise: Tallinn hat ja 400.000 Einwohner, liegt an der Ostsee, ist sehr geschichtsträchtig, stand acht Jahrhunderte lang unter wechselnder Fremdherrschaft und kommt jetzt aber sehr, sehr modern daher. Wie verträgt sich das alles miteinander in Tallinn, vor allem auch auf kultureller Basis?
Hellrand: Ja, in Tallinn trifft Mittelalter auf das Moderne. Das sieht man sowohl architektonisch im Stadtbild heute und im Kulturleben ebenfalls. Die Altstadt ist die Szene für viele traditionelle Veranstaltungen, die ganz klar von den Traditionen geprägt sind, und gleichzeitig nebenan sind dann Clubs und Theater und Konzertsäle, die ganz was Modernes und Neues machen.
Heise: Läuft das nebeneinander her oder geht das auch manchmal miteinander?
Hellrand: Das geht auch manchmal miteinander. Also es ist nicht ungewöhnlich, dass man klassische Konzerte begleitet von moderner Technik, mit Videoinstallationen und -projektionen.
Heise: Besonders auffällig ist ja doch die Jugendlichkeit in Estland, man hört immer wieder von der ungeheuren Affinität zum Internet. Gleichzeitig habe ich aber schon erwähnt die Tradition des Liedes, des Singens. Passt das eigentlich tatsächlich zusammen, singen die Jungen und die Alten, oder ist das eigentlich eine getrennte Angelegenheit?
Hellrand: Singen ist für die Jugend genau so wichtig, wenn nicht wichtiger als für die ältere Generation. Also es ist ganz normal, dass alle Gymnasien mehrere Chöre haben. Und diesen Sommer werden wir wieder das Jugendsommerfest haben, wo 30.000 Kinder und Jugendliche zusammen auf der Bühne stehen, und es ist bestimmt nicht so, dass alle, die wollen, hinkommen. Also, alle Chöre üben tüchtig und im Frühjahr werden dann die besten ausgewählt, die da mitsingen dürfen. Also es ist ganz, ganz klar, für die Kinder und die Jugendlichen ist das eine Ehrensache da mitzumachen.
Heise: Dieses Sängerfest, was Sie erwähnt haben, das findet sowieso alle fünf Jahre in Tallinn statt, das wird jetzt dieses Mal vorgezogen sozusagen, um ins Kulturhauptstadtjahr hineinzupassen. Aber auch unabhängig davon, auch außerhalb dieses Kulturhauptstadtjahres heißt es, wenn ich Sie richtig verstehe, steht dieses Singen ganz hoch im Kurs bei Jung und Alt. Sie haben sogar gesagt, bei den jungen Leuten sogar noch höher als bei den Alten. Wie kommt das?
Hellrand: Ja, das ist glaube ich so eine nationale Eigenart der Esten. Wir sind normalerweise sehr skeptisch und ironisch allem gegenüber, auch uns selbst inbegriffen, und diese Sängerfeste sind dann irgendwie die Momente im Leben, wo wir es uns erlauben, unsere Seele zu zeigen. Und wir können aufstehen und weltfremden Leute Hände halten und zusammen singen, Lieder, die wir schon immer gesungen haben. Und das ist so eine einmalige Gelegenheit, auch mal also sich emotional auch zu öffnen, nicht nur diese nordische Geschlossenheit und Selbstironie immer aufzubewahren.
Heise: Wir hier im Deutschlandradio Kultur lernen Tallinn, in diesem Jahr nicht nur estnische Hauptstadt, sondern eben auch europäische Kulturhauptstadt, etwas besser kennen mithilfe von Maris Hellrand. Frau Hellrand, im Kulturhauptstadtjahr gibt es noch einen Schwerpunkt, Meeresküste nämlich. Es wird eine Kulturmeile am Meer geben, ein neues Meeresmuseum. Wird damit auch so ein bisschen die Zeit der Hansestädte oder der bedeutenden Ostseestädte in Erinnerung gerufen, gibt es da eigentlich auch eine Zusammenarbeit?
Hellrand: Auf jeden Fall. Also es ist ja so, dass wirklich die Geschichte nach Tallinn über das Meer gekommen ist, die Reichtümer, die europäische Kultur, aber auch die Eroberer. Und wir wollen eigentlich dieses Stück in der Stadt, für die Bürger der Stadt auch zurückgewinnen. Weil es ist, in den letzten 50, 70 Jahren ist da nichts passiert, man konnte da nicht hin und es gibt jetzt auch keinen Grund dort hinzugehen. Und das wollen wir eben ändern.
Heise: Was heißt das, es gibt keinen Grund dort hinzugehen? Das heißt, eine Promenade am Wasser lang gibt es in Tallinn eigentlich so nicht und dass man da spazieren geht abends?
Hellrand: Nicht im Stadtzentrum. Und das vermissen aber die Leute hier schon sehr und das wird sich jetzt diesen Sommer ändern dadurch, dass das Meeresmuseum eröffnet wird im Juli, das ist direkt am Wasser, ein sehr spektakuläres Gebäude und auch mit einem klassischen Konzert eröffnet, und der Kulturkilometer, also eine Strandpromenade, wird das Meeresmuseum mit den Hafenterminals verbinden und führt auch am Kulturkessel, am Katel, vorbei, wo ebenfalls unsere Veranstaltungen stattfinden werden. Und hoffentlich zeigen wir dadurch auch das volle Potenzial dieser Gegend mit den eigentlich wunderschönen Sonnenuntergängen im Sommer.
Heise: Das heißt, es ist aber auch ein Projekt, was noch im Entstehen ist und auch noch nicht ganz fertig ist, diese Kulturmeile, habe ich Sie da richtig verstanden?
Hellrand: Das ist noch im Entstehen. Im Moment sind da Skilanglaufbahnen drauf, weil einfach so viel Schnee liegt. Aber sobald der Schnee weg ist, wird das fertiggestellt.
Heise: Inzwischen wird in Tallinn oder in ganz Estland neben dem Estnischen vor allem Englisch gesprochen. Bis vor wenigen Jahren war Russisch die erste oder beziehungsweise Zweitsprache, überhaupt ist Tallinns Einwohnerschaft, wenn ich das richtig gelesen habe, bis zu 50 Prozent russischer Herkunft. Wie spiegelt sich das eigentlich im Kulturhauptstadtjahr wider?
Hellrand: Das war natürlich für uns hier auch ein wichtiger Aspekt, den wir immer im Auge behalten. Und von den 250 Projekten, sagen wir mal, sind über 30 jetzt minoritätenbezogen. Das heißt, russische Kulturveranstalter machen mit, aber auch Ukrainer, alle, die hier wohnen. Und es sind einige sehr spannende Projekte dabei, die auch die Verbindung mit Russland widerspiegeln wie zum Beispiel "Stadt der Träume", eine Konzertserie im Park Kadriorg, den ja Peter der Große für seine Frau in Tallinn gebaut hat. Also das ist ein Park und das Schloss. Und diese Geschichten wollen wir da wieder erzählen. Und aber auch ganz moderne junge russische Künstler werden eine Möglichkeit haben, ihre Arbeit vorzustellen.
Heise: Jetzt ist das Zusammenleben zwischen den Russen und den Esten ja nicht immer ganz spannungsfrei, im Gegenteil, 2007 kam es auch zu Ausschreitungen. Wie waren denn die Vorbereitungen auf das Kulturhauptstadtjahr gemeinsam?
Hellrand: Also da gab es eigentlich keine Reibungspunkte, weil sich Leute, die sich für Kultur interessieren und die Kultur schaffen, von Politik eigentlich nicht manipulieren lassen und stehen dieser Koexistenz dieser zwei Kulturen ganz normal gegenüber.
Heise: Werden die verschiedenen Einflüsse, auch überwundene, also zum Beispiel dänischer, deutscher, schwedischer, russischer oder eben sowjetischer Herrschaft, eigentlich als Bereicherung kulturell empfunden, oder ringt man in Estland eher noch um eine kulturelle Identität nach so einer doch relativ kurzen Unabhängigkeit?
Hellrand: Ja, das ist ja irgendwo unsere kulturelle Identität, weil das unsere Geschichte ist. Also wir haben Bernt Notkes "Totentanz" hier in der Kirche, und das sehen wir ganz normal als Teil unserer estnischen Kultur an. Estnische Kultur hat immer einen großen Durst nach europäischer Kultur gehabt und diesen Durst löschen wir immer noch, aber wir sehen das eigentlich jetzt nicht so, dass diese Fremdherrschaften hier nicht dazugehören, sondern das ist ganz klar, dass alle kulturellen Spuren, die hinterlassen wurden, ein Teil unserer Kultur geworden sind.
Heise: Sie haben eben das schöne Bild gebraucht, dass die Esten ihren kulturellen Durst löschen und ihren europäisch-kulturellen Durst löschen. Jetzt sind sie europäische Kulturhauptstadt. Was erhoffen sich die Einwohner Tallinns eigentlich davon?
Hellrand: Also wir erhoffen uns natürlich, dass ganz Europa unsere Kultur sieht, herkommt und uns kennenlernen möchte, und gleichzeitig auch durch verschiedene Kunstresidenzen, dass europäische Künstler und Kulturschaffende auch herkommen und hier arbeiten wollen, damit diese Integration auch im kulturellen Feld weitergeht.
Heise: Und dadurch dann wieder eine Bereicherung stattfindet. Haben Sie einen kulturellen, einen persönlichen kulturellen Höhepunkt, den man auf gar keinen Fall verpassen sollte?
Hellrand: Also für mich, abgesehen von dem Sängerfest jetzt, wäre das ein Kinoprojekt, das heißt "60 Sekunden Einsamkeit im Jahre Null", und es findet statt im August, wobei etwa 100 Regisseure weltweit oder europaweit 60-Sekunden-lange Filme drehen, und diese werden dann alle in einer Vorführung gezeigt auf einer Leinwand, die im Meer gebaut wird, sodass das Publikum am Strand sitzt. Und von diesen Filmen existiert aber nur eine einzige Kopie, die nach der Vorführung verbrannt wird, und zum Schluss wird auch die ganze Leinwand in Feuer aufgehen, inszeniert von La Fura dels Baus aus Spanien. Das denke ich ist das absolute künstlerische Highlight des Jahres.
Heise: Sollte man sich also schon mal notieren. Danke schön, Maris Hellrand, für dieses Gespräch und die Information über Tallinn und das Programm als europäische Kulturhauptstadt 2011. Frau Hellrand, ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag!
Hellrand: Vielen Dank und herzlich willkommen in Tallinn!
Heise: Maris Hellrand war das, sie hat das Kulturprogramm in der Kulturhauptstadt Tallinn mit organisiert.