Europas Einheit

Nietzsche über den Hornvieh-Nationalismus

Friedrich Nietzsche auf der Repro eines undatierten Plakates.
Schon Friedrich Nietzsche klagte über den absurden Zustand Europas. © picture-alliance / Zentralbild
Von Klaus Englert · 04.08.2016
Friedrich Nietzsches Traum eines modernen Europas scheint ausgeträumt. Stattdessen blühe in Europa ein Nationalismus, den Nietzsche schon als Makel der ersten deutschen Einheit ablehnte und als Hornvieh-Nationalismus bezeichnete, sagt der Journalist Klaus Englert.
"Gibt es irgendeinen Gedanken hinter diesem Hornvieh-Nationalismus? Welchen Wert könnte es haben, jetzt, wo alles auf größere und gemeinsame Interessen hinweist, diese ruppigen Selbstgefühle aufzustacheln?"
So wütend können Philosophen schreiben. Es war allerdings kein zeitgenössischer Europäer, der diese Fragen in seine Tastatur hämmerte, nachdem er vielleicht eine Fernseh-Talkshow verärgert abgeschaltet haben mag. Es war Friedrich Nietzsche, der seine wortstarken Tiraden zu Bismarcks Zeiten von Basel nach Berlin schickte.
Er klagte – für uns überraschend vertraut – über den absurden Zustand Europas, in dem feinere Vernunft der Barbarei gewichen sei, und er beschwerte sich – für uns vielleicht befremdlicher – über Winkelvölker, die ein Recht auf Sonder- und Selbstexistenz feiern würden. Nietzsche unterstützte voll und ganz, dass ein einheitlicher Nationalstaat – wenn auch ohne Österreich – dem Unwesen deutscher Kleinstaaterei ein Ende bereitet hatte. Dass dabei unterschiedliche Volksgruppen einen gemeinsamen Kulturraum herstellen, empfand er als jene nationale Selbstbestimmung, welche die bürgerliche Revolution von 1848 noch erfolglos gefordert hatte.

Nietzsche war gegen Nationalismus

Wohl aber wetterte der europäisch engagierte Philosoph gegen nationalistische Kräfte in Preußen. Voller Argwohn beobachtete er aus der fernen Schweiz, wie sich in seiner Heimat Rassenhass ausbreitete. Da mokierte sich beispielsweise der Schriftsteller Karl Scheffler über den "ungeheuren Mischmasch, der seit 1870 in Berlin" herrschen würde, das zu 60 Prozent aus Einwanderern romanischer und slawischer Abstammung bestehe.
Nietzsche wandte sich dagegen, dass unter dem Banner nationaler Identität gleich noch eine homogene Gemeinschaft eingefordert werde, die Völker "wie in Quarantänen abgrenzen und absperren" wolle. Der Philosoph, der sich als "Heimatloser" sah, empfand sich als nicht "deutsch" genug, um – wie er schrieb – an Nationalismus und Rassenhass, an der nationalen Herzenskrätze und Blutvergiftung Europas Freude haben zu können.
Nein, ganz im Gegenteil: Der Basler Freidenker erfreute sich am preußischen Völker-Mischmasch. Kruden Abstammungslehren konnte er nichts abgewinnen, auch nicht einem Europa der Vaterländer. Denn als Europäer seien wir eben moderne Menschen, die der Rasse und Abkunft nach zu vielfach und gemischt sind, als dass sie versucht seien, an einer verlogenen Rassen-Selbstbewunderung teilzunehmen.

Traum von einem solidarischen Staatenbund

Nietzsches Kritik zielte auf die ewig gestrigen, in vergangener Größe schwelgenden Nationalisten. Umso mehr verstört uns heute, wie intensiv der Philosoph posthum vereinnahmt wurde: erst zogen deutsche Soldaten mit "Also sprach Zarathustra" im Tornister in den Ersten Weltkrieg, anschließend entdeckten die Nationalsozialisten ihn für ihre Ideologie.
Dabei ist sein Europa ein Projekt der Zukunft, ein Appell an die "Europäer von übermorgen", an die "überreich verpflichteten Erben von Jahrtausenden des europäischen Geistes". Bereits vor 130 Jahren träumte Friedrich Nietzsche von einem friedlichen, offenen, dialogfähigen, von einem kooperativen und solidarischen Staatenbund. Ein Traum, der nach 30 Jahren Krieg und Krisen Schritt für Schritt über Jahrzehnte verwirklicht wurde, in einer europäischen Union, die jetzt wieder zu zerbrechen droht – am Wiedergänger "Nationalismus".

Dr. Klaus Englert, Architekturkritiker, schreibt für die Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Und den Hörfunk. Er war Kurator der Ausstellung "Architektenstreit. Brüche und Kontinuitäten beim Wiederaufbau in Düsseldorf" (Stadtmuseum Düsseldorf).


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