Europäisches Fernsehen mit höchstem Anspruch

Hans-Günther Brüske im Gespräch mit Joachim Scholl · 30.05.2012
Eigentlich als deutsch-französisches Versöhnungsprojekt gedacht, machte sich der Fernsehsender "arte" vor allen Dingen einen Namen als ambitionierte Experimentierwerkstatt mit eigenwilliger Ästhetik. Dabei mussten unterschiedliche Mediengewohnheiten verknüpft werden, sagt der ehemalige Geschäftsführer von arte Deutschland, Hans-Günther Brüske.
Joachim Scholl: Eigentlich hat dieser Fernsehsender einen unmöglichen Namen: Association Relatif à la Télévision Européenne – Zusammenschluss bezüglich des europäischen Fernsehens, so heißt der Sender wortwörtlich, der heute vor 20 Jahren als deutsch-französische Kooperation auf Sendung ging. Doch wenn man die französischen Initialen aneinanderreiht, kommt ein wunderbarer Klang zustande: arte. Am 30. Mai 1992 wurde das erste Programm ausgestrahlt.

Und wer diesen Tag, den 30. Mai 1992 miterlebte, das ist Hans-Günther Brüske. Er war sozusagen von Geburt an dabei, hat bis 2001 die Geschäfte von arte Deutschland geleitet, und er war auch arte-Koordinator beim ZDF. Guten Morgen, Herr Brüske!

Hans-Günther Brüske: Guten Morgen!

Scholl: Wie war denn dieser Tag, der Knopfdruck zur ersten Sendung, für Sie damals?

Brüske: Das war aufregend und erregend. Aufregend, weil jetzt etwas losging, was so gegen den Strich gebürstet zu sein schien, und erregend, weil es mich persönlich als frankophilen Deutschen eben ein Stück Vollendung bedeutete.

Scholl: Ein Sender mit drei Standorten, in Deutschland Baden-Baden, in Frankreich Straßburg und Issy-les-Moulineaux bei Paris. Wie verlief denn diese Zusammenarbeit zu Beginn, wie muss man sich das vorstellen? Konnten Sie in Deutschland zum Beispiel alle Französisch und umgekehrt die Franzosen Deutsch?

Brüske: Nein, das geht auch heute noch nicht, und das muss auch nicht sein. Es können auch nicht in der UNO alle Leute Englisch und im Vatikan können auch nicht alle Leute Lateinisch. Das ist Quatsch, es gibt immer – auch wenn man die Sprache des anderen nicht kennt oder nicht beherrscht – Möglichkeiten der Kommunikation, manchmal auch der nonverbalen beim Abendessen.

Scholl: Ich stelle mir nur vor, dass es am Anfang eben viele Redaktionskonferenzen, viele Treffen gibt, und was war das für eine Atmosphäre, für eine Stimmung?

Brüske: Das war eine Aufbruchsstimmung, das war eine euphorische Stimmung, das war Freude, gemeinsame Freude am Neuen, am völlig Unbekannten – und das ist ja bis heute in seiner Art noch fast einzigartig in der Welt, dass es zwei Länder gibt mit ganz unterschiedlichen Mediensystemen, die sagen, wir machen einen gemeinsamen Kanal, trotz aller Hindernisse – mein Gott, warum kann man nicht auch mal mit Hindernissen leben, diese akzeptieren, diese versuchen zu überwinden? –, und wir machen das in gemeinsamer Verantwortung für einen Kulturraum, der Europa heißt. Also ich finde das nach wie vor faszinierend. Es ist gewagt, das ist einfach visionär und ambitiös.

Scholl: Können Sie sich denn an Schwierigkeiten erinnern, an besondere Details oder Geschichten, über die Sie heute lachen vielleicht, aber die damals ganz entscheidend waren?

Brüske: Ja, ich meine, die Leute mussten sich ja kennenlernen, und als Ergebnis des Kennenlernens musste Vertrauen entstehen. Und ich war beim ZDF, und ich war lange Jahre als Programmdirektor des Saarländischen Rundfunks in der ARD, und ich kann Ihnen sagen, dass in sehr etablierten Systemen es nicht so ist, als dass es da eine 100-Prozent-Dosis gegenseitigen Vertrauens gibt. So, nun mussten eben euphorische, engagierte jüngere Menschen aus Deutschland und Frankreich versuchen, miteinander sich über ein Programm, über Inhalte, Erzählformen, Dramaturgie zu verständigen, die in beiden Ländern doch recht unterschiedlich sind, wenn man mal von den internationalen Erfolgsprogrammen, die in beiden Ländern funktionieren, absieht. Da gab es immer wieder auch Streitereien, aber ich finde, Streit ist produktiv.

Scholl: arte war gedacht als deutsch-französisches Versöhnungsprojekt, also bewusst von Bundeskanzler Kohl und Präsident Mitterand so annonciert. Inwieweit spielte denn dieser politische Gründungsgedanke eine Rolle bei Ihrer Arbeit?

Brüske: Gar nicht. Und vielleicht schockiere ich Sie damit und die Hörerinnen und Hörer, und das würde mir sogar in dem Fall guttun, denn 1992, oder 1990 von noch Versöhnung zu sprechen, war doch arg rückschätzig. Also die Versöhnung war im Großen und Ganzen auch wegen Adenauers und de Gaulles Politik abgeschlossen. Man hat auf dem Versöhnten aufgebaut. Man hat quasi jetzt eine neue Etappe nicht der Versöhnung in Angriff genommen, sondern der gemeinsamen Verantwortung für Kultur in Deutschland, Frankreich und Europa. Also das war nie der große innere Themenkreis, dass wir nun Programme machen, die eine Versöhnung dokumentieren. Dass es immer wieder Themen gibt, die mit der Vergangenheit von Frankreich, Deutschland zu tun haben, ist klar. Aber die gibt es bei ARD und ZDF auch.

Scholl: 20 Jahre arte, Deutschlandradio Kultur im Gespräch mit Hans-Günther Brüske, ehemals Geschäftsführer von arte Deutschland. Wie schwierig war es denn, Herr Brüske, eine gemeinsame Programmästhetik zu finden, zu entwickeln? Hier unterscheiden sich deutsche Gewohnheiten sehr von den französischen. Sie haben es schon angespielt, es soll ja auch zum Beispiel auch Schwierigkeiten gegeben haben mit den Anfangszeiten zu Beginn. Also in Frankreich beginnt der Fernsehabend um 20:40 Uhr, in Deutschland traditionell um 20:15 Uhr nach der Tagesschau – da musste man ja auch Kompromisse finden.

Brüske: Salopp formuliert war und ist es sauschwierig, die Strukturen, die gewachsenen Strukturen und Sehgewohnheiten so zu vereinbaren, dass sie für beide Länder gültig sind. Mein Gott, das muss ja auch nicht sein, inzwischen gibt es das Zeitversetzte, die zeitversetzte Ausstrahlung, da kann das französische Publikum seine Gewohnheiten beibehalten, und das deutsche Publikum ebenfalls seine. Also es gibt auch immer wieder Wege des Ausgleiches, des Kompromisses.

Sehen Sie, es ist einfach verdammt schwierig, wenn man mit Menschen unterschiedlicher, auch kultureller Prägung in dem Bereich, der am meisten nationalkulturell und sprachlich besetzt ist, nämlich in den Medien, versucht, ein gemeinsames Programm zu machen, was nicht nur die beiden Länder, sondern auch die Länder darum interessieren soll.

Scholl: In Frankreich hat arte stets mehr Zuschauer gehabt als in Deutschland. Also bei uns hierzulande kommt Arte so auf circa ein Prozent knapp Marktanteil, in Frankreich immerhin 2 bis 2,5 Prozent, gibt es dafür eigentlich eine Erklärung?

Brüske: Ja, aber lassen Sie mich erst erklären, dass die aktuellen Werte, von denen wir ausgehen müssen, nämlich die 24-Stunden-Betrachtung, in Deutschland derzeit 0,75 Prozent Marktanteil bedeutet und in Frankreich 1,7 Prozent. So, das ist das eine, das andere ist: In Deutschland gab es deshalb auch immer geringere Marktanteile, weil am Anfang arte von allen Spezialsendern in Deutschland eher der sperrigste war, auch eben durch seine Ästhetik, auch durch seine lang anhaltenden oder intensiven Programmstrecken.

Und in Deutschland gab es von Anfang an mehr Konkurrenz, allein 3sat steht hier vor arte. In Frankreich zählte arte zu den Happy Few, um mal Stendhal zu zitieren, zu den Happy Few der national-terrestrisch ausgestrahlten Programme, da waren es nämlich nur fünf oder sechs. So, und seitdem sich die Situation in Frankreich auch geändert hat, gibt es, wie wir an den Werten sehen, eine Annäherung, was das Akzeptanzpotenzial angeht.

Scholl: Nun mischen sich in die vielen Stimmen der Gratulanten auch Kritiker, denn inzwischen regiert auch die Quote mit bei arte. Also es gibt Doku-Soaps oder Serien wie "Die Tudors", die vom Privatfernsehen übernommen werden. Kritiker beklagen, dass die Ausgaben für Dokumentarfilme stark gekürzt wurden. Wie geht es Ihnen denn heute, wenn Sie arte einschalten? Ist das noch der Sender, den Sie richtig gut finden?

Brüske: Ja. Es ist aber nicht mehr der Sender, der 1992 an den Start gegangen ist. Also, Sie können auch nicht – und übrigens, das britische Königshaus macht so was in ganz anderem Kontext auch –, Sie können auch nicht im Mittelalter stehen bleiben mit Ihrem Programm, mit Ihren Angeboten. Sie wollen ja auch die Zuschauer erreichen. Und Jobst Ploog sagte unter anderem auch, dass ein Programm nicht deshalb gut ist, weil es keine Zuschauer erreicht.

Man muss da schon sehen, auch bei der Gebührenfinanzierung, dass man mit bestimmten "Trägerraketen", wenn ich das – oder Programmträgerraketen, wie "Die Tudors" –, mal ein paar große Krater in das Publikum schlägt, aber nicht jetzt tödlich gedacht, sondern von der Akzeptanzbreite gesagt, und dann auch viele, viele andere anspruchsvolle Dinge wie vor kurzem die Übertragung der Oper von Julius Cäsar – ein extrem schwieriges Werk – durchführen zu können. Also Sie müssen auch immer wieder Mehrheiten – nein, umgekehrt, bei arte müssen Sie Minderheiten mit Mehrheiten bekannt machen und umgekehrt, sonst verspielen Sie die Glaubwürdigkeit eines gebührenfinanzierten Programms.

Scholl: Heute vor 20 Jahren ging arte auf Sendung, und dabei war Hans-Günther Brüske, damals Geschäftsführer von arte Deutschland. Herr Brüske, schönen Dank für das Gespräch!

Brüske: Okay, Ihnen einen schönen Tag noch, tschüss!


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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