Europäische Zeitenwende

Rezensiert von Eberhard Straub · 22.03.2009
Der Kulturjournalist Philipp Blom versucht, die Stimmungslage und den kulturellen Diskurs in Europa zu Beginn des 20. Jahrhunderts einzufangen, und zwar aus dem Geist der damaligen Zeit heraus. Er beschreibt die Menschen vor dem Ersten Weltkrieg als "Übergangsmenschen", die zu einer neuen Zeit mit neuen Menschen aufbrechen wollten. Worin dies Neue jedoch bestehen sollte, dazu gab es mannigfaltige Positionen, die Blom dezidiert darstellt.
Keine Zeit ist nur der Nachhall einer früheren oder Vorläufer der folgenden Epoche. Jede ist unmittelbar zu Gott, wie Leopold von Ranke es theologisch ausdrückte, also ein ganz eigenes Reich, eine Welt für sich alleine mit nur zu ihr gehörenden Formen und Widersprüchen, Hoffnungen, Ängsten und Enttäuschungen.

Insofern sollten bei der Bemühung, eine Welt von Gestern zu verstehen und sie sich in einer ganz anderen Gegenwart zu vergegenwärtigen, historische Gestalten erst einmal in der Beziehung zu ihren Zeitgenossen und deren Ideen beobachtet werden mitten in einem sozialen und geistigen Raum, der sie beeinflusst und auf den sie ihrerseits einwirken. Hugo von Hofmannsthal, der große Dichter und eminente Historiker, sprach in diesem Sinne vom "Geheimnis der Contemporaneität".

Der Kulturhistoriker und kulturelle Journalist Philipp Blom lebt in Wien. Er ist ein kultureller Journalist im Sinne Hugo von Hofmannsthals: soviel Philologe wie unvermeidlich, soviel Weltmann und Historiker wie erforderlich.

Das hilft Philipp Blom bei der Absicht, das Europa von 1900 bis 1914 in vierzehn gut aufeinanderbezogenen Essays oder Kapiteln seines Buches "Der taumelnde Kontinent" unter den Voraussetzungen und Möglichkeiten dieser Welt von Gestern zu betrachten und zu schildern. Er versucht ...

""eine Epoche aus sich selbst heraus zu erzählen und zu interpretieren, unter den Gesichtspunkten, die damals wichtig schienen, und nicht ausschließlich retrospektiv"."

Das ist nicht mehr selbstverständlich. Vor allem seit sich die Eingeborenen im ehemaligen Trizonesien, in der Bonner Bundesrepublik, in der besten aller Welten wähnten. Zu ihr gäbe es, wie es immer wieder hieß, keine Alternative. Nach dem Ende der Geschichte beanspruchte man in Bielefeld und anderswo zumindest vorübergehend den Vorsitz beim Jüngsten Gericht.

Philipp Blom fasst die Weltgeschichte nicht als Weltgericht auf. Denn er weiß gar nicht, was das Ziel der Weltgeschichte ist und welche Aufgabe die jeweiligen Zeitgenossen zu erfüllen haben, unter dem Druck des Weltgeistes ihre jeweilige Neuzeit zur allerneuesten Neuzeit umzugestalten. Der Zwang zur ununterbrochenen Modernisierung, alles zu verändern, damit alles bleibt, wie es ist, wird längst als rasender Stillstand beschrieben.

Philipp Blom irritieren Modernisierungsdefizite entschiedener Modernisierer überhaupt nicht.

""Schnitzler verabscheute experimentelle Malerei, hielt Egon Schiele für einen 'affektierten Scharlatan' und spielte lieber Brahms als Anton Webern auf seinem Klavier; Strawinsky besuchte niemals ein Theater, wenn er nicht musste, und hatte einen dezidiert konservativen Geschmack in bildender Kunst; Picasso langweilte Kunstmusik jeder Art und von Schnitzler hatte er nie gehört. Mentalitäten und Identitäten verweben sich über Generationen hinweg, schaffen miteinander verbundene, zusammengesetzte und gebrochene Persönlichkeiten, und dieses Phänomen selbst ist ein Teil der Modernität, das von ihr aufgenommen und dramatisiert wird"."

Die Menschen vor dem Ersten Weltkrieg sind "Übergangsmenschen". Sie wollen heraus aus ihrer veraltenden, sie quälenden Welt; sie wollen in einer neuen Zeit zu neuen Menschen werden. Damit begannen die Schwierigkeiten und Gegensätze, aus denen sich die mannigfachen Katastrophen im 20. Jahrhundert nach der Ur-Katastrophe des Ersten Weltkrieges ergaben. Denn wie soll die neue Zeit und der neue Mensch "sein" und sich in der Welt als Geschichte aus Gewordenem ein weiteres Werden entwickeln? Darüber gab es keine Gewissheit, wie Philipp Blom eindringlich schildert.

Ein Sozialist hatte mitten im technisch-kapitalistischen Industrieprogress, den er begrüßte, weil er von der Idiotie des Landlebens befreite, ganz andere Erwartungen als ein ländlicher Aristokrat und kapitalistischer Agrarunternehmer. Ein liberaler Beamter, der im Staat die Inkarnation der Vernunft anerkannte, sah im Markt ein Reich der Unvernunft und Leidenschaft. Der Staat war gerade deshalb eingerichtet, Egoismen und Irrationalitäten "zur Vernunft zu bringen".

Aber in der Vernunft des Staates und der bürgerlichen Gesellschaft, die den Instinkten misstrauten, und der Kontrolle vertrauten, sah das bürgerliche Individuum, also der bürgerliche Ästhet, ob Sozialist geworden, Ausdruckstänzer, Katholik, Wagnerianer oder präfaschistischer Futurist wie Marinetti, den Feind, der Zwang und weitere Entfremdung bewirkt. Gerade die organisierende, gar nicht schlafende Vernunft, schuf Monstren.

Im Zeitalter konsequenter Rationalisierung muss sich auch der Protest dagegen rational-wissenschaftlicher Argumentation bedienen. Die bewusste Rückkehr zum natürlichen, ursprünglichen Leben, die Befreiung der Instinkte, um rassisches Erbe wieder freizusetzen, das die Kultur verdrängte, die Heimkehr in dorische Welten oder nach Walhalla, die neue Mythisierung der entzauberten Welt, kurzum das Irrationale bis zum Wahnsinn gehören unvermeidlich zum ehernen Gehäuse des modernen Maschinenparks.

Wird "das Leben" und "die Lebenskraft" zum höchsten Wert erhoben, liegt es nahe, dass wertefühlende Menschenfreunde zu dem Begriff des unwerten Lebens kommen. Damit Leben sich des Lebens freut unter wahren Menschen, erbgesunden Volksgenossen und sportlich-schönen Klassenkameraden, darf wertloses Leben vernichtet oder dessen Entstehen verhindert werden.

Die liebes- und lebensvollen Träumer von einer schöneren Welt mit schöneren Menschen ließen sich nicht von Konzentrationslagern auf den philippinischen Inseln oder in Südafrika stören oder vom einzigartigen Völkermord am Kongo mit seinen rund elf Millionen Toten. Es handelte sich schließlich nur um Neger, die der Weiße ohnehin für minderwertig hielt.

Philipp Blom versteht den Willen, die Kolonien zu beherrschen oder Minderheiten in ihren Rechten einzuschränken, als Männlichkeitsbeweis des durch die neu entdeckte Sexualität und durch die Frauenfrage verunsicherten Mannes. Ihm fallen daher die sexuellen Dimensionen politischer und sozialer Fragen auf.

Da er Sigmund Freud nicht nur als einen Wiener um 1900 begreift und ihn nicht in seiner Zeit belässt, verfängt er sich zuweilen wie der von der Sexualität beunruhigte Sigmund Freud in schöngeistigen Spekulationen, die jeder Sozialhistoriker rasch als feuilletonistische Einfälle widerlegen kann und die Friedrich Engels, August Bebel oder Clara Zetkin als solche schon widerlegt hatten.

Doch einige Schrullen können nicht das intellektuelle Vergnügen trüben, das dies politisch unkorrekte, also kluge Buch jedem willigen Leser verschafft.

Philipp Blom: Der taumelnde Kontinent. Europa 1900-1914
Carl Hanser Verlag, München 2009
Cover Phillip Blom: "Der taumelnde Kontinent. Europa 1900-1914"
Cover Phillip Blom: "Der taumelnde Kontinent. Europa 1900-1914"© Hanser Verlag