Europäische Russlandstrategie

Abschreckung statt Anbiederei

Lufteinheiten am Himmel
Ein glaubhafte militärische Abschreckungsstrategie der Nato gegenüber Russland fordert der Publizist Jörg Himmelreich © Master Sgt. Nick Hodge/U.S. Air force/dpa
Von Jörg Himmelreich · 23.06.2016
Eine europäische Russlandstrategie müsse die Interessen Osteuropas berücksichtigen, auf militärische Abschreckung setzen und russische Staatpropaganda im Internet entlarven, meint der Publizist Jörg Himmelreich. Nur so komme es dann auch zu Verhandlungen mit dem Kreml.
Sie überrascht immer wieder und lässt verständnislos zurück: die Aggression aus Moskau in Worten und in offenen wie verdeckten Taten. Aber wie soll der Westen darauf reagieren?
Wenn beispielsweise Frank-Walter Steinmeier von einer "säbelrasselnden" NATO spricht, dann biedert er sich dem Kreml verbal an. Eine kluge diplomatische Antwort hört sich anders an. Vielmehr ist eine umfassende europäische Russland-Strategie längst überfällig – allemal vor den beiden Gipfeltreffen der EU in Brüssel und der NATO in Warschau.
Natürlich würde sie variieren, was seit Jahrzehnten als Ostpolitik verstanden wird, in Gesprächen zu einvernehmlichen Lösungen zu kommen, eingedenk des gegenseitigen militärischen Vernichtungspotentials.

Kreml erscheint rätselhafter als früher

Doch der Kreml erscheint uns heute verschlossener und rätselhafter als früher, irgendwie auch unberechenbarer und gefährlicher, eben kaum noch der Diplomatie zugänglich.
Darum noch einmal gefragt: Wie soll der Westen reagieren? Wie soll er mit Wladimir Putin umgehen, der die ukrainische Halbinsel Krim annektiert und so 'mal eben die gesamte europäische Friedensordnung vom Tisch fegt?
Wie soll man mit Wladimir Putin reden, der Gespräche nur führt, um Zeit zu gewinnen und neue Fakten zu schaffen, und den deswegen ein mühsam ausgehandelter Kompromiss nicht interessiert? Wie schon Minsk-I wird auch Minsk-II nicht eingehalten, sodass bereits von Minsk-III gesprochen wird, auf dass der Konflikt um die Ostukraine am Kochen bleibt.

Russland sieht sich militärisch und ideologisch im Krieg

Wladimir Putin greift auf die jahrhundertealte, russische Tradition eines hybriden Imperialismus zurück und sucht den Konflikt mit seinen Nachbarn, mit Europa und mit den USA. Er sieht sich im Krieg – zuweilen militärisch, aber immer quasi-ideologisch.
Und so pumpt er sich zum populistischen Vorkämpfer einer Autokratie, die neonational, antiwestlich, antidemokratisch und dadurch moderner sein soll als die Demokratien eines dekadenten, postheroischen und kapitalistisch zerfressenen Westens.
Diese Pose dient nicht dazu, Wahrheiten zu finden, sondern kalkuliert zu spalten. Sie verfängt im Nahen Osten wie auch in China, im Ungarn Viktor Orbans wie unter Europas Rechtsextremen. Wo das nicht reicht, dringt seine Propaganda in soziale Netzwerke ein, um die öffentliche Meinung zu manipulieren.
Und mit der Propagandalüge als Methode nistet sich auch die beleidigte Sichtweise ein, die Osterweiterung der NATO oder der Kiewer Maidan würden Wortbrüche des Westens darstellen und letztlich nur Angriffe der USA auf Russlands Einflusssphäre tarnen.

Zu militärischer Abschreckung gehört publizistische Abwehr

Russlandnostalgiker gehen nicht nur auf diesen Leim, sie opfern zugleich völlig sorglos die völkerrechtlich garantierte Selbstbestimmung Osteuropas, sich von Moskau abwenden und Schutz in Brüssel suchen zu dürfen. Eine europäische Russlandstrategie dagegen wird immer das Sicherheitsbedürfnis des Baltikums und Polens respektieren. Sie erwarten von ihren Partnern in EU und NATO eine glaubhafte, auch militärische Abschreckung.
Aber nicht nur. Europa müsste ferner eine breite publizistische Abwehr aufbauen, um russische Staatspropaganda in Internet und Medien, um verführerische und gefährliche Lügen der Trolle systematisch zu entlarven.
Eine Russlandstrategie hat unbeirrt an europäischen Rechtsstandards festzuhalten – im Sport, in der Kulturpolitik und in der Wirtschaft. Deswegen ist die Politik der Sanktionen fortzusetzen.
Denn eine Strategie sollte glaubhaft, einheitlich und umfassend sein. Wladimir Putin versteht nur die Sprache der Macht. Erst wenn auch er eingesehen hat, dass Europa zu adäquaten Antworten fähig ist, erst dann wird er diplomatisch ausgehandelten Lösungen zum Erfolg verhelfen.

Jörg Himmelreich schreibt als Autor für die "Neue Zürcher Zeitung" und forscht zu kulturgeschichtlichen und außenpolitischen Themen Russlands und Asiens. Er war Mitglied des Planungsstabs des Auswärtigen Amts in Berlin sowie Gastdozent in Washington, Moskau, und London.


© Peter Ptassek
Mehr zum Thema