Europäische Integration

Wir brauchen einen europäischen Geschichtsunterricht!

Auf einer 3D Grafik ist Europa auf einem Globus dargstellt.
Die europäische Integration vorantreiben: Deswegen spricht sich Konstantin Sakkas für einen europäischen Geschichtsunterricht aus. © imago / CHROMEORANGE
Ein Plädoyer von Konstantin Sakkas · 02.11.2018
Der Historiker Timothy Snyder schlägt in seinem neuen Buch, "Der Weg in die Unfreiheit" einen gemeinsamen Geschichtsunterricht für die Europäische Union vor. Diesem Vorschlag kann Konstantin Sakkas einiges abgewinnen.
Alles ist Narrativ. Nach Nietzsche ist der Mensch "das Tier, das nicht vergessen kann", und so definieren wir Menschen uns über unsere Geschichten, also darüber, wie wir uns an unsere Vergangenheit erinnern. Individuell, aber auch kollektiv. Das, was wir am Ende Identität nennen, ist im Grunde nichts anderes als unsere geschichtliche Selbstwahrnehmung.
Identität und Integration stehen in einem dauernden Spannungsverhältnis. Einerseits will Integration die Identitäten der einzelnen Gruppenmitglieder nach Möglichkeit erhalten und stärken. Andererseits aber gelingt Integration nur, wenn die jeweiligen Identitäten zumindest teilweise hinter das Kollektiv zurücktreten. Hier liegt die große Herausforderung globalisierter Gesellschaften.

Die Gleichberechtigung der Erzählungen

Der Vorschlag des US-amerikanischen Historikers Timothy Snyder, einen gemeinsamen Geschichtsunterricht für die Länder der Europäischen Union einzuführen, zielt nicht darauf ab, die Unterschiede zwischen den einzelnen nationalen Geschichtserzählungen zu leugnen oder einzuebnen. Er zielt vielmehr darauf, die Europäer für das Kämpfen, Leiden und Siegen des jeweils anderen zu sensibilisieren. Denn mit dieser Sensibilisierung steht und fällt jede Toleranz und damit der Grundwert der Demokratie.
Bei Toleranz und Integration geht es zuvörderst darum, gehört zu werden. Jede gute Psychotherapie beginnt damit, dass der Therapeut dem Patienten das Gefühl gibt, dass seine Lesart der Dinge genauso viel zählt, dass sie den gleichen Wert hat wie die der anderen. Weibliches Empowerment begann damit, dass den Frauen zugestanden wurde, dass ihre Stimme, ihre Meinung und ihre Heldengeschichte genauso viel zähle wie die der Männer. Über die Richtigkeit der jeweiligen Erzählung im Einzelnen sagt das erstmal nichts aus. Aber der entscheidende Schritt zur Gleichberechtigung im Leben ist die Gleichberechtigung der Erzählungen.

Unterricht bei Lehrern aus anderen EU-Ländern

Ein gemeinsamer europäischer Geschichtsunterricht müsste Schritt für Schritt ins Werk gesetzt werden. Ein Weg wäre, regelmäßig Geschichtsstunden von Lehrern aus einem anderen EU-Mitgliedsstaat halten zu lassen. Was würde das konkret bedeuten? Nordeuropäer etwa würden lernen, dass für die Griechen die glorreiche Antike bis weit in unser germanisches Mittelalter andauerte und erst mit dem Fall ihres geliebten Konstantinopels 1453 zu Ende ging. Griechen wiederum würden lernen, dass das Wort olokávtoma, also Holocaust, nicht nur, wie bei ihnen, einzelne Repressalien der Nazis gegen die Zivilbevölkerung meint, sondern die Vernichtung des europäischen Judentums – eine entscheidende Nuance.
Wenn man schließlich die orientalischen Minderheiten insbesondere in West- und Nordeuropa betrachtet: Dann wäre viel erreicht, wenn englische, französische und deutsche Schüler sich mehr mit dem Sykes-Picot-Abkommen 1916 und der Vertreibung der Palästinenser nach 1948 auseinandersetzten – und umgekehrt die arabischen Schüler nach Auschwitz und Treblinka führen und dabei vielleicht begriffen, dass die Juden im nordischen Europa tausend Jahre lang eine Minderheit waren, die verzweifelt und heroisch um ihr Überleben kämpfte. Wer aber das Leiden und den Heroismus des anderen erkennt, behandelt ihn automatisch mit mehr Respekt, denn er erkennt sich selbst in ihm wieder.

Europäische Empathie

Aus gegenseitigem Geschichtsverständnis erwüchse so Schritt für Schritt eine gemeinsame europäische Geschichtserzählung.
Dabei geht es nicht darum, sich den Schuh des anderen anzuziehen. Aber es geht darum, zu verstehen, wie der andere sich in seinen Schuhen fühlt. Integration heißt nicht Gleichmacherei. Integration heißt: ich lasse mich so weit auf die Geschichte des anderen ein und er sich auf meine, dass wir beide künftig entspannter miteinander umgehen können, weil wir die Geschichte des anderen jetzt kennen und ihre Schwere ermessen können. Denn jede Geschichte ist ein Lied von Eis und Feuer.

Konstantin Sakkas, Jahrgang 1982, studierte Rechtswissenschaften, Philosophie und Geschichte und schloss sein Studium 2009 an der Freien Universität Berlin mit einer Magisterarbeit über Hannah Arendt ab. Er lebt und arbeitet als Publizist und Kommunikationsberater in Berlin.

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