Europäische Bühnen unter Druck

Theaterinstitut beklagt zunehmende Zensur

Am Berliner Gorki-Theater wurde Oliver Frljics Skandalstück "Der Fluch" aufgeführt. Bei Vorstellungen in Polen kam es zu tumultartigen Zuständen.
Am Berliner Gorki-Theater wurde Oliver Frljics Skandalstück "Der Fluch" aufgeführt. Bei Vorstellungen in Polen kam es zu tumultartigen Zuständen. © Magda Hueckel/HUECKEL-STUDIO
Thomas Engel im Gespräch mit Janis El-Bira · 30.12.2017
In repressiven System sind Zensur und Boykott der Kunst an der Tagesordnung. Im vergangenen Jahr haben sie auch in Europa zugenommen, so das Fazit von Thomas Engel vom Internationalen Theaterinstitut. Zensur funktioniere heute aber eher subtil.
Als im Februar dieses Jahres Oliver Frljics kirchenkritische Inszenierung "Der Fluch" in Polen Premiere hatte, war der Protest groß. Radikale Katholiken und Rechtsextreme liefen Sturm gegen die vermeintlich beleidigende Produktion und das zuständige Ministerium strich dem Festival, das "Der Fluch" eingeladen hatte, kurzerhand die Fördermittel. Nur eine von vielen Aktionen, mit denen im Jahr 2017 versucht wurde, die Kunst in die Schranken zu weisen. Die Übergriffe auf Künstler und ihre Institutionen, die Eingriffe in die Kunst- und Pressefreiheit – sie waren eines der großen Themen dieses Theaterjahres, auch und gerade in Europa.

Neues Austesten, wie weit man gehen kann

"Arts under Attack" heißt deshalb auch das Jahrbuch, in dem sich das Deutsche Zentrum des Internationalen Theaterinstituts nun diesen Entwicklungen widmet. Dessen Direktor, Thomas Engel, sagte im Gespräch mit Deutschlandfunk Kultur über die zunehmenden Zensurversuche:
"Wir haben (hier) ein Austesten von Situationen: Was geht gesellschaftlich und politisch, was kann man durchsetzen, wieviel Unberechenbarkeit kann man sähen. Das ist eine Qualität, die in Europa zugenommen hat, die weltweit in den unterschiedlichsten repressiven Systemen immer vorhanden gewesen ist, aber die wir jetzt in Europa stärker wahrnehmen."
Dabei funktioniere die Zensur heute nicht mehr klassisch, indem eine Behörde etwas verbiete, sondern zunehmend über Umwege, so Engel. Es gebe "eine Riesenspanne von ökonomischer Zensur, über die relativ subtil, über Zuwendungen und Finanzierungen, aber auch über das Mobilisieren von gesellschaftlichen Mehrheiten bis hin zum Boykott Künstler mundtot gemacht werden. Und dann gibt es eine ganze Reihe von Maßnahmen, die wie Zensur interpretiert werden können, die aber im Grunde gesellschaftliche Strukturen gegeneinander ausspielen, (…) indem man einen Teil der gesetzlichen Vorgaben gegen den anderen ausspielt: Es gibt vielleicht formal Kunstfreiheit, aber dann gibt es auch wieder den Schutz von Minderheiten, den Schutz von religiösen Überzeugen etc.

Beleidigung als neuer Kampfbegriff

Dass der Vorwurf der "Beleidigung" oder der Verletzung religiöser Gefühle dabei so häufig zum Tragen komme, findet Thomas Engel zeittypisch:
"Man versucht den Konflikt zu individualisieren, um dadurch eine Art Schutzfunktion (für) diese Repression zu bereiten. Es geht um den Schutz des Einzelnen, um die Würde des Einzelnen, um die Freiheit des Einzelnen. (…) Man hat das ja auch bei uns bei dem Fall Böhmermann beobachten können, wie im Grunde genommen dort mit diesem Austesten von genau dieser Doppelbödigkeit eine sehr komplexe Situation geschaffen wurde, in der es gar nicht mehr so einfach war, Stellung zu beziehen. Und dort, wo man das erreichen kann, Leute über eigene kulturelle Setzungen zu bestimmten Überzeugungen zu bringen, funktioniert das natürlich am besten."
Für das kommende Jahr hofft Thomas Engel, dass die Solidarisierungsprozesse zwischen den Künstlern anhalten und weiter ausgebaut werden können. Außerdem sei ein professionelles Monitoring der Übergriffe auf die Kunstfreiheit, wie sie etwa die NGO "Freemuse" betreibe, wichtig:
"Da tut sich derzeit ziemlich viel", findet Engel.
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