Europa braucht Großzügigkeit, nicht Härte

Von Ulrike Guérot · 11.06.2012
Deutschland als Hegemon Europas – das muss nicht schlecht sein. Doch eine Hegemonie braucht ein sichtbares Konzept. Die ureigenen Werte Europas gegenüber aufstrebenden Autokratien zu verteidigen, könnte ein solches Konzept sein.
Manchmal hilft es, Wahrheiten auszusprechen und sie mit einem einschlägigen Begriff zu versehen. Der diesjährige Karlspreis-Laureat, Wolfgang Schäuble, hat sich mit seinem Plädoyer für eine politische Union wohltuend abgehoben von der Euro-Schelte eines Thilo Sarrazin. In Zeiten, in denen Europa-Kritik zur politischen Grundbefindlichkeit zu gehören scheint, fordert er neue Institutionen für die EU. Das ist bemerkenswert.

Nur eins hat Schäuble nicht gesagt: Seine Vorschläge würden de facto die Schaffung einer Europäischen Republik bedeuten, eine Fortentwicklung des westfälischen Staatenmodells von 1648! Denn in diesen Krisenwochen geht es um nichts anderes als um eine Neubestimmung des Begriffes der Souveränität und um das, was ein Nationalstaat und ein nationales Haushaltsrecht im Rahmen einer Währungsunion schlechthin noch sein können.

Sie können nicht so bestehen wie zuvor, sollte sich die EU tatsächlich in eine Haftungsgemeinschaft begeben und Eurobonds, also gemeinsame europäische Staatsanleihen, anstreben. Schon bald könnte es anlässlich der griechischen Parlamentswahlen notwendig werden, eine gemeinsame Garantie für alle europäischen Bankeinlagen abzugeben. Ein solcher Schritt erforderte mittelfristig den Umbau der europäischen Institutionen in Richtung transnationale Demokratie.

Schäuble nennt hierfür die Elemente: die Direktwahl des europäischen Präsidenten, eine gleiche und allgemeine Wahl zum Europäischen Parlament und ein Initiativrecht für letzteres, dazu eine zweite, degressiv proportionale Länderkammer sowie die Abschaffung des Entsenderechts für EU-Kommissare.

Dies käme in vielfacher Hinsicht der Durchbrechung nationaler Souveränität gleich. Denn was wären die Folgen? Der europäische Präsident würde direkt gewählt von den Unionsbürgern, er wäre der Embryo einer europäischen Exekutive, flankiert von einem Europäischen Parlament, das dem Prinzip "one man, one vote" genügt und das endlich auch volles Legislativrecht hätte.

Überspringen wir die Problematik, wie "deutsch" diese europäische Demokratie wäre: Den Deutschen mit fast 65 Millionen Wahlberechtigten fiele bei der Direktwahl des EU-Präsidenten der Löwenanteil der Stimmen zu. Zudem würde Deutschland in diesem neuen Europaparlament auch die relative Mehrheit der Abgeordneten stellen.

Stellen wir uns einen Moment vor, die kleinen europäischen Mitgliedsstaaten ließen sich darauf ein und verzichteten auch noch auf ihren Kommissar. Dann wird deutlich: Europa wird deutscher, Deutschland wird Hegemon Europas. Das muss nicht schlecht sein.

Aber eine Hegemonie braucht ein sichtbares Konzept. Europa zu einer führenden Weltmacht im 21. Jahrhundert zu machen, um die ureigenen Werte Europas gegenüber aufstrebenden Autokratien zu verteidigen – also Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte –, das könnte ein solches Konzept sein.

Und noch eins: Hegemonie funktioniert mit Großzügigkeit, nicht mit Härte. Deutschland müsste also bereit sein, seine wirtschaftliche Stärke mit dem politischen Resonanzboden Europas zu verbinden, es müsste den Euro in den Dienst politischer Stärke Europas stellen. Und vor allem müsste Deutschland verstehen - und zwar bald! -, dass Geld, und damit auch der Euro, politisch ist. Europa kann nicht von der Europäischen Zentralbank regiert werden.

Deutschland muss nun Weitsicht und strategische Führungsqualitäten beweisen. Wenn es sich stattdessen auf Rechenschieber-Charaktere à la Sarrazin verlässt, dann verpasst es diesen Moment der Weltgeschichte. Deutschland ist durch den Euro zur Weltmacht geworden. Trotzdem ist das Land dabei, ihn zu verspielen, weil es nicht versteht – oder nicht verstehen will –, dass der Euro in seiner Essenz politisch ist. Im Rahmen einer Europäischen Republik sollte Deutschland den Euro zu dieser Blüte führen.


Ulrike Guérot, Politikwissenschaftlerin, leitet seit 2007 das Berliner Büro des European Council on Foreign Relations. Zuvor war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin des German Marshall Fund, der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik und des Auswärtigen Ausschusses des Deutschen Bundestages. Als Juniorprofessorin lehrte sie an der amerikanischen Johns Hopkins Universität. Für ihr europäisches Engagement wurde sie mit dem Ordre pour le Mérite ausgezeichnet.
Ulrike Guérot, Politikwissenschaftlerin
Ulrike Guérot© privat
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