Wir brauchen eine politische Vision von Europa

Von Bernd Wagner · 10.02.2012
Die gegenwärtige Krise hat keinen breiten Diskurs darüber ausgelöst, welche Gestalt das zukünftige Europa annehmen soll. Ohne eine politische Vision werden wir unter das Diktat einer Finanz- und Wirtschaftsoligarchie geraten, meint Bernd Wagner.
Krisen sind, wie jeder Mediziner bestätigen kann, die notwendige Voraussetzung für eine Heilung. Dazu müssten wir uns aber erst klar werden, um welche Krise es sich überhaupt handelt, die Europa zurzeit heimsucht. Tatsächlich nur um eine Finanzkrise, oder doch um eine Wirtschafts- oder gar eine Gesellschaftskrise? Ich schlage vor, sie als Identitätskrise zu begreifen, weil uns das zu einem gründlicheren Nachdenken zwingt.

Was überhaupt ist dieses Gebilde namens "Europäische Union", wo steuert es hin, wo kommt es her? Es ist beileibe nicht der erste Versuch einer europäischen Einigung, allerdings der erste auf nichtkriegerische Weise, der erste, der nicht auf der Vormachtstellung einer Nation beruht, die ein ihr höriges Imperium errichten will. Was aber kann stattdessen einen Zusammenhalt verbürgen, den Europa zwar immer wieder auf kultureller Ebene, aber nie auf staatlicher erreichte, eines Kontinents, dessen Einzigartigkeit gerade in der Vielfalt, im Wettbewerb seiner sich aneinander steigernden und häufig sich auch zerstörenden politischen Realitäten besteht?

Nun, es mag sein, dass für eine solche Mannigfaltigkeit in einer immer enger zusammenrückenden "globalisierten" Welt kein Platz mehr ist. Doch die Bestrebungen zu einer engeren Einheit, die nach dem letzten Krieg einsetzten, damit dieser tatsächlich der letzte bleibe, wurden einerseits begrenzt durch eine so tiefe Spaltung des Kontinents in Ost und West, wie es nie eine zuvor gab, und deuteten andererseits in eine rein ökonomische Richtung, die die weitere Entwicklung bestimmen sollte. Die Namen der Vorläufer der Europäischen Union, nämlich EFTA für Europäische Freihandelsgemeinschaft und EWG für Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, bezeichnen diese Zielrichtung recht genau. Und auch als aus ihnen die EU wurde, bekam sie zwar eine Flagge und eine Hymne, aber damit noch keine das Ökonomische wirklich überragende Identität.

In den wenigsten Fällen wurde die Bevölkerung befragt, und unter den europäischen Intellektuellen gab es nie eine umfassende Diskussion darüber, welches geistige Konzept, welche ethische oder welche staatsbürgerliche Idee diesem sich vereinigenden Europa zugrunde liegen soll. Weder die Erweiterung nach Süden noch die Aufnahme der Staaten, deren ohnehin nur spärlich vorhandene bürgerliche Gesellschaft unter kommunistischer Herrschaft zerstört wurde, hat daran etwas geändert - und die eingeführte gemeinsame Währung ist nie den Makel losgeworden, dass sie der Preis war, den die Deutschen für ihre Einheit zu zahlen hatten.

Ja, ihr zum Trotz verfestigt sich der Eindruck, dass von einer kulturellen Einheit Europas mehr in den Zeiten der Dublonen, Taler, Franken, Kreuzer und Drachmen zu spüren war als heute. Damals wurden die Eliten des Kontinents durch das Lateinische oder später das Französische auf eine Weise verbunden, die das Englische nicht leisten kann, da es längst zur globalen Allerweltssprache mit Zentren außerhalb Europas geworden ist.

Umso verwunderlicher ist es, dass die gegenwärtige Krise keinen breiten Diskurs darüber auslöst, welche Gestalt das zukünftige Europa annehmen soll. Ob wir überhaupt eine Gemeinschaftswährung brauchen oder nicht; ob deshalb nationale Souveränitätsrechte aufgegeben werden müssen oder nicht; ob wir uns mit dem Gedanken an einen Staatenbund anfreunden sollten oder lieber den Rückweg antreten.

Ohne diesen Diskurs und ein sich daraus ergebendes Ziel, das nicht wie bisher über die Köpfe der Wahlvölker hinweg definiert werden dürfte, werden wir weiterhin das unwürdige Schauspiel von Krämern bieten, die darum feilschen, wie viel von dem Geld zurückgezahlt werden muss, das wir verborgt haben, damit unsere Daimlers und Volkswagen gekauft werden. Ohne eine politische Vision von Europa werden wir unter das Diktat einer Finanz- und Wirtschaftsoligarchie geraten, die von einer staatsbürgerlichen Kultur, egal ob im nationalen oder einen darüber hinausgehenden Rahmen, nicht mehr viel übriglassen wird.

Bernd Wagner, Schriftsteller, 1948 im sächsischen Wurzen geboren, war Lehrer in der DDR und bekam durch seine schriftstellerische Arbeit Kontakt zur Literaturszene in Ost-Berlin. 1976 erschien sein erster Band mit Erzählungen, wenig später schied er aus dem Lehrerberuf. Von Wagner, der sich dem Protest gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns anschloss, erschienen neben einem Gedichtband mehrere Prosabände und Kinderbücher. Als die Veröffentlichung kritischer Texte in der DDR immer schwieriger wurde, gründete Wagner gemeinsam mit anderen die Zeitschrift Mikado. Wegen zunehmender Repression der Staatsorgane siedelte er 1985 nach West-Berlin über. Zu seinen wichtigsten Büchern zählen "Die Wut im Koffer. Kalamazonische Reden 1-11" (1993) sowie die Romane "Paradies" (1997), "Club Oblomow" (1999) und "Wie ich nach Chihuahua kam". Zuletzt erschien "Berlin für Arme. Ein Stadtführer für Lebenskünstler".
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