EU - Türkei

SPD-Politiker: Beitrittsgespräche mit Türkei auf Eis legen

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan
"Gnadenlos" entledige sich der türkische Präsident RecepTayyip Erdogan aller politischen Gegner, kritisiert der SPD-Politiker Arne Lietz. © Imago / Zuma press
Arne Lietz im Gespräch mit Korbinian Frenzel · 22.11.2016
Vor der Debatte im EU-Parlament über die künftigen Beziehungen zur Türkei fordert der EU-Abgeordnete Arne Lietz klare Signale gegenüber Erdogan: Man müsse diesem zeigen, "dass wir nicht über jedes Stöckchen springen, das er jetzt hinhält".
Angesichts der sich weiter verschlechternden Menschenrechtssituation in der Türkei plädiert der SPD-Europaabgeordnete Arne Lietz dafür, die Beitrittsgespräche zwischen EU und Türkei einzufrieren.
Es gehe darum, "Erdogan aufzuzeigen, dass wir nicht über jedes Stöckchen springen, das er jetzt hinhält", sagte Lietz im Deutschlandradio Kultur. Neben einem Einfrieren der Beitrittsgespräche fordert der SPD-Politiker, auch "Nachbarschaftsinstrumente" wie die Zollunion auf den Prüfstand zu stellen. Die Privilegierung, die der Türkei eingestanden worden sei, sei "ganz klar zu minimieren".

EU-Parlament soll sich gegen Visaliberalisierung aussprechen

Auch der türkischen Forderung nach einer Visaliberalisierung im Zusammenhang mit dem Flüchtlingspakt erteilte Lietz eine klare Absage. Eine der Voraussetzungen für eine Visaliberalisierung sei die Aufhebung der Anti-Terror-Gesetzgebung. Diese werde aber gerade von Erdogan missbraucht, um sich seiner politischen Gegner zu entledigen.
"Und vor dem Hintergrund ist es wichtig, auch hier das klare Zeichen erneut zu setzen, dass das Europäische Parlament, was darüber mitbestimmt, einer Visaliberalisierung auf keinen Fall zustimmen wird."

Keine Aufkündigung des Flüchtlingsdeals durch die EU

Ein Aufkündigen des Flüchtlingspakts durch die EU steht für den SPD-Europaabgeordneten hingegen nicht zur Debatte. "Weil wir hier das gemeinsame Interesse haben, dass die Kriegsflüchtlinge, die Europa ja eh nicht aufnimmt, auch gut versorgt werden innerhalb der Türkei", betonte er. "Das trägt zur auch langfristigen Stabilität vor Ort bei."

Das Interview im Wortlaut:
Korbinian Frenzel: Es gibt viele Anlässe, über die Türkei zu reden, wenig Hoffnungstimmende dabei dabei. Das Europäische Parlament wird heute debattieren in Straßburg, zentrale Frage wird dabei sein: Müssen wir die Beitrittsverhandlungen mit dieser Erdogan-Türkei auf Eis legen, vielleicht sogar ganz begraben? Das kann man sicher besser beurteilen, wenn man nicht nur über die Türkei redet, sondern sich vor Ort ein Bild macht. Getan hat das eine Delegation des Europäischen Parlaments, mit dabei der deutsche Sozialdemokrat Arne Lietz, frisch zurückgekehrt zur Plenartagung in Straßburg. Herr Lietz, guten Morgen!
Arne Lietz: Einen schönen guten Morgen!

Die Türkei entfernt sich immer weiter von Europa

Frenzel: Wie sieht dieses Bild aus, das Sie sich machen konnten? Eine Türkei, die sich immer weiter von Europa entfernt?
Lietz: Leider muss man das sagen. Ich war gestern in einer Delegation von europäischen Sozialdemokraten in der Türkei und wir wollten dort den Kovorsitzenden der prokurdischen Partei HDP treffen, der ist inhaftiert worden, nachdem im Mai die Dämonisierung der Abgeordneten, vieler HDP-Abgeordneten aufgehoben wurde, und das war uns nicht möglich. Wir hatten eine Polizeiblockade, Polizisten sprangen aus den Autos mit Maschinengewehren, ließen uns nicht weiter gewähren.
Demonstranten protestieren gegen das Vorgehen gegen die Zeitung "Cumhuriyet".
Demonstranten protestieren gegen das Vorgehen gegen die Zeitung "Cumhuriyet".© AFP / OZAN KOSE
Und wir haben weitere Gespräche geführt in der Zeitung, die heißt "Cumhuriyet", die regierungskritische Zeitung, die ihren Chefredakteur mittlerweile in Deutschland hat und wo in den letzten Tagen erneut zwölf Redakteure verhaftet wurden. Alle Zeitungen und Presseorgane müssen fürchten, geschlossen zu werden oder an den Pranger gestellt zu werden oder aber mit einer Prozesswelle überrollt zu werden. Und so ging es auch gestern in der "Cumhuriyet", die sagte, dass der Druck weiter zunimmt, nicht abnimmt.

Die Angst im Land wächst

Das heißt, die Angst im Land nimmt weiter zu, selbst die Partei, die noch für die Aufhebung der Immunität jedenfalls einiger ihrer Abgeordneter gestimmt haben, hat mittlerweile Prozesse der Abgeordneten. Es gab eine gemeinsame Demonstration mit Gewerkschaftern, die mittlerweile des Terrorismus bezichtigt wurden. Und vor dem Hintergrund versucht Erdogan, diesen Schleier der Terrorismusangst und dass alle sozusagen, die gegen ihn sind, terroristische Tendenzen haben, hier weiter auf das Land zu legen und gleichzeitig natürlich antieuropäisch dementsprechend ausrichten.
Wir haben eine Verhaftungswelle von mehreren Zehntausend Akademikerinnen und Akademikern, Richtern, Journalisten und jetzt eben auch Politikern und das nimmt nicht nach, sondern nimmt in der Zeit weiter zu und es schließen sich immer mehr die Situationen um Menschen, die noch aktiv auch in der Zivilgesellschaft in der Türkei sind.
Frenzel: Was sagen Ihnen diese aktiven Menschen der Zivilgesellschaft, die Opposition? Wie soll Europa, wie soll die Europäische Union reagieren auf das, was Sie da gerade beschrieben haben?
Lietz: Sie sind sich unsicher, aber sagen dennoch, Europa muss ein klares Zeichen setzen. Wir müssen die proeuropäischen Kräfte unterstützen, deswegen waren wir gestern vor Ort, haben Politiker getroffen, die noch ihre Immunität im Parlament haben, haben eben Journalisten getroffen und versucht, auch inhaftierte Politiker zu treffen. Auch hier die Solidarität zu zeigen ist sehr, sehr wichtig. Und es geht darum, auch Erdogan aufzuzeigen, dass wir nicht über jedes Stöckchen springen, was er jetzt hinhält. Es gab beispielsweise die Frage …
Frenzel: Herr Lietz, lassen Sie mich das gerade nachfragen: Wie zeigt man das einem Präsidenten Erdogan? Zeigt man ihm das am besten, indem man dann die Entscheidung trifft, mit dieser Türkei verhandeln wir nicht weiter über einen Beitritt?
Lietz: Wie Sie schon gesagt haben, haben sich die Fraktionen noch auf keine Textfassung geeinigt. Wir debattieren heute darüber, ein Abbruch hilft dort ganz gewiss nicht. Dennoch kann man ganz klar sagen, dass nach der Verhaftungswelle und dem Ausnahmezustand, der ja gilt, aktuell ja keine Beitrittsgespräche stattfinden. Und ich denke, diesen Zustand sollten wir auch benennen und deutlich aufzeigen, und gleichzeitig auch Nachbarschaftsinstrumente, beispielsweise das Instrument der Zollunion hier angehen.
Das ist eine Situation, die die Türkei gerne weiterentwickeln möchte, bessere Zollbedingungen zu haben, und hier sollten wir ein klares Zeichen setzen oder auch andere Nachbarschaftsinstrumente jetzt aufs Radar legen und überlegen, inwiefern wir jetzt keine Sanktionen eingehen, aber die Privilegierung, die wir der Türkei eingestehen, auch hier ganz klar sozusagen zu minimieren oder zu reduzieren, um dem Regierungschef Erdogan zu zeigen, dass wir hier nicht einer Meinung sind. E
s gab darüber hinaus eine parlamentarische Versammlung der NATO, wo sehr viel Kritik geäußert wurde. Wir sind nicht nur gemeinsam mit der Türkei in der Frage der Beitrittsgespräche, sondern wir sind auch gemeinsam, weil wir gemeinsame Interessen haben, auch in der NATO: Und auch hier wurden viele Kritikpunkte geäußert, auch von deutschen Abgeordneten.

Einfrieren der Beitrittsgespräche wäre "ein klares Zeichen"

Frenzel: Herr Lietz, aber ich verstehe Sie richtig: Sie sagen, kein Abbruch der Beitrittsgespräche. Ist das ein starkes Zeichen in Richtung Ankara?
Lietz: Wenn man zumindest schon mal das Einfrieren der Beitrittsgespräche deutlich macht, so ist das auch schon ein klares Zeichen und auch eine klare Ansage. Und insofern wäre das beispielsweise ein Punkt, den es ja zu debattieren gibt innerhalb der europäischen Gruppen im Europaparlament.
Frenzel: Wie weit müsste man da weitergehen? Es gibt ja andere Formen der Kooperation, Sie haben die militärische angesprochen, wir haben den Flüchtlingsdeal. Müsste man den jetzt an dieser Stelle aufkündigen?
Lietz: Wir müssen deutlich machen, dass die militärische Situation basiert auf gemeinsamen Interessen, die hat Erdogan auch. Wir müssen gemeinsam weiter den Daisch bekämpfen, es bringt nichts, das, was er jetzt versucht, alle sozusagen Terrorgruppen und Gruppen, die sich auch innerhalb der Türkei – beispielsweise die PKK – gegen ihn auflehnen, hier gleichzuziehen beziehungsweise muss man hier militärisch gegenüber dem Daisch weiter vorgehen.

Flüchtlingsdeal steht nicht zur Debatte

Der Flüchtlingspakt, der ist zwischen den Regierungen und Erdogan geführt worden, da war das Europäische Parlament nicht mitbeteiligt, aber darum kann es nicht gehen und sollte es auch nicht gehen, weil wir hier dieses gemeinsame Interesse haben, dass die Kriegsflüchtlinge, die Europa ja eh nicht aufnimmt, auch gut versorgt werden innerhalb der Türkei. Das prägt auch langfristige Stabilität vor Ort bei. Ein klarer Punkt ist beispielsweise die Forderung der türkischen Regierung, die Visa-Liberalisierung jetzt schnellstmöglich einzuführen, das wurde auch mit dem Pakt verbunden. Das sehe ich als sehr schwierig an und ich spreche mich klar dagegen aus.
Denn eine Visa-Liberalisierung braucht das Einhalten von 72 Kriterien, eben auch die Aufhebung der Antiterrorgesetzgebung. Die wird ja eben gnadenlos jetzt von ihm missbraucht, um sich aller politischen Gegner, kritischer freier Presse und Journalisten zu entledigen. Und vor dem Hintergrund ist es wichtig, auch hier das klare Zeichen erneut zu setzen, dass das Europäische Parlament, was darüber mitbestimmt, einer Visa-Liberalisierung auf gar keinen Fall zustimmen wird.
Frenzel: Sagt Arne Lietz, Europaabgeordneter für die SPD, frisch zurück aus der Türkei. Herr Lietz, ich danke Ihnen für das Interview!
Lietz: Ich danke Ihnen auch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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