EU-Kampagne "Reclaim Your Face"

Gesichtserkennung stoppen, bevor sie Fahrt aufnimmt

17:08 Minuten
Gitternetz über menschlichem Gesicht
Automatisierte Gesichtserkennung zur Überwachung gehört in der EU noch nicht zum Alltag. Eine Initiative kämpft jetzt dafür, dass das auch so bleibt. © imago images / Ikon Images / Gary Waters
Von Marcus Richter und Vera Linß · 27.02.2021
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Sicherheitsbehörden fordern regelmäßig mehr Überwachung. An einem Berliner Bahnhof wurde die automatisierte Gesichtserkennung vor einer Weile bereits getestet. Eine Initiative möchte diese Technologie jetzt stoppen, bevor sie sich etablieren könnte.
"Reclaim Your Face", also "Verlange dein Gesicht zurück", so heißt eine europäische Bürgerinitiative, die Mitte Februar in mehreren Ländern angefangen hat, Unterschriften für eine Petition zu sammeln. Die deutsche Variante heißt schlicht und einfach "Gesichtserkennung stoppen". Es geht den beteiligten Menschen und Organisationen um eine gesetzliche Regelung automatisierter, anlassloser Massenüberwachung durch biometrische Systeme.
Gemeint ist ein Zusammenspiel verschiedener Technologien: Einerseits die Aufnahme von Menschen – meistens durch Videokameras, aber in Zukunft vielleicht auch durch andere Systeme. Dann eine algorithmische Verarbeitung der dadurch entstandenen Daten, also zum Beispiel zur Gesichtserkennung. Und abschließend eine Anbindung an Datenbanken, um die erkannten Personen zu identifizieren.

Die EU-Kommission hat bereits über ein Moratorium nachgedacht

Charlotte Burmeister vom Verein "Digitale Freiheit", der die Kampagne für Deutschland initiiert und organisiert, findet deutliche Worte für das Ziel der Aktion:
"Es geht wirklich schon um eine Ächtung. Dann gibt es natürlich Einsätze von Gesichtserkennungstechnologien oder biometrischen anderen Erkennungen wie dem Fingerabdruck jetzt auf dem Handy. Das ist eine ganz andere Sache, wo man sich wirklich nur bei seinem Handy authentifiziert. Aber um den flächendeckenden Einsatz im öffentlichen Raum: Da geht es wirklich um das Verbot insgesamt."
Das klingt nach einer klassischen netzpolitischen Debatte und Aktion, ähnlich wie bei Vorratsdatenspeicherung oder den Uploadfiltern. Doch anders als bei diesen Themen gibt es aktuell noch gar kein geplantes Gesetz, um den Einsatz der Überwachungstechnologien ganz allgemein zu erlauben. Doch Burmeister warnt:
"Es wird halt ausprobiert in verschiedenen europäischen Ländern. In Deutschland wurden am Berliner Bahnhof Südkreuz Tests zur Gesichtserkennung durchgeführt und das braucht ein Verbot und ganz strenge Richtlinien."
"Reclaim Your Face" will also nicht erst warten, bis diese Überwachungstechnologien Fuß gefasst haben und gesetzliche Befugnisse dafür beschlossen wurden. Stattdessen wollen die Organisation und ihre Unterstützer im Vornherein dem Ganzen einen Riegel vorschieben – und das europaweit. Damit liegt die Kampagne auch im Zeitgeist: Das EU-Parlament hatte vor geraumer Zeit über ein Moratorium für Gesichtserkennungstechnologien nachgedacht. Dazu ist zwar dann nicht gekommen, aber Skepsis ist in fast allen politischen Lagern vorhanden.

Auch der Bundesdatenschutzbeauftragte mahnt zur Zurückhaltung

Neben den Bedenken rund um Datenschutz spielt dabei auch die Zuverlässigkeit der Technik eine Rolle. Denn bisherige Tests haben gezeigt: Bislang sind die Erkennungsraten der verfügbaren Systeme unzureichend. Ein biometrisches System kann aktuell noch nicht garantieren, dass es sich wirklich um dieselbe Person handelt, sondern immer nur, dass dies sehr wahrscheinlich der Fall ist.
Das klingt nach einem feinen Unterschied, aber der sehr wichtig ist, wenn man sich klarmacht, dass biometrische Überwachungen zu polizeilichen Maßnahmen führen könnten. Und auch wenn Sicherheitsbehörden darauf bestehen, dass Überwachung zu weniger Verbrechen führt: Belege für diese These existieren nicht.
Befürworter von stärkeren Überwachungsgesetzen wurden immer wieder in ihre Schranken verwiesen, wie der Bundesdatenschutzbeauftragte Ulrich Kelber erklärt:
"Das Verfassungsgericht hat an mehreren Stellen deutlich gemacht, dass die große Gefahr schon dann existiert, wenn sich ein subjektives Gefühl 'Es gibt keinen überwachungsfreien Raum mehr' einstellt. Dann verändert sich das Verhalten bewusst oder unbewusst. Die Schere ist da. Man versucht sich, um ein möglichst unauffälliges Verhalten zu bemühen. Und das können wir alle nicht wollen. Es hat eher negative Entwicklung für unsere Gesellschaft."

Verschärfte Sicherheitsgesetze sind häufig verfassungswidrig

Kelber sagt: "Wir glauben tatsächlich, dass eine Rechtsgrundlage für diesen allgemeinen öffentlichen Raum nicht herstellbar wäre. Denn wir haben seit vielen Jahren - also seit dem 11. September - erlebt, dass trotz solcher Warnungen Sicherheitsgesetze gemacht wurden, die regelmäßig in dichter Folge vom Verfassungsgericht für unwirksam erklärt wurden oder wesentlich verändert werden müssten."
Die Skepsis des Bundesdatenschutzbeauftragten scheint sich in der Bevölkerung allerdings nicht abzubilden. Das legt zumindest eine Studie der FU Berlin und der Universität St. Gallen nahe, welche die Akzeptanz von Gesichtserkennungstechnologie in China, Deutschland, Großbritannien und den USA ermitteln wollte.
Das Ergebnis schildert die Professorin Genia Kostka, Co-Autorin der Studie, so: "Da war es interessanterweise so, dass die Akzeptanz für den öffentlichen Gebrauch höher ist als für den privaten Gebrauch. Da war generell die Skepsis gegenüber den großen Technologiefirmen wie Google oder Facebook schon sehr hoch in Deutschland."
Detailliert zeigen die Ergebnisse: 14 Prozent der Befragten sind hart gegen Gesichtserkennung, 38 Prozent würden es akzeptieren und der Rest – fast die Hälfte – ist eher unentschieden, aber in Richtung: öffentlich eher ja.
Kostka erklärt das Ergebnis so: "Der Hauptgrund, warum in Deutschland die Leute dafür sind, ist das Thema Sicherheit. 55 Prozent der Befragten gaben an, dass sie diese Technologie sozusagen unterstützen, weil sie sich daraus erhoffen, die Sicherheit in Deutschland zu erhöhen.
Für die Kampagne "Reclaim Your Face" heißt das: Im Prinzip ist Potenzial da, aber es muss auch viel Überzeugungsarbeit geleistet werden. Eine Million Unterschriften will die Kampagne europaweit sammeln, um die EU-Kommission dazu zwingen zu können, sich mit dem Thema zu befassen.
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