EU-Flüchtlingspolitik

Quo vadis, Großbritannien?

Die Flaggen der EU und Großbritanniens
Die EU und Großbritannien - ein Widerstreit der Interessen? © imago stock & people
Die Labour-Politikerin Gisela Stuart im Gespräch mit Dieter Kassel · 13.05.2015
Die EU-Kommission will heute eine Strategie zur Migrations- und Flüchtlingspolitik vorlegen. Wie wird sich Großbritannien gegenüber den Regelungen verhalten? David Cameron stecke in einem Dilemma, sagt die Labour-Politikerin Gisela Stuart.
"Denn er kann entweder seine eigene Bevölkerung befriedigen und ihnen geben, was sie wollen. Oder er kann auf Brüsseler Ebene ganz viel guten Willen, den er ja brauchen wird, ganz schnell verlieren."
Cameron wolle, dass das geplante Referendum über den weiteren EU-Verbleib Großbritanniens mit einem "Ja" ausgehe, meinte Stuart. Deswegen könne er seine neue Regierungsperiode nicht damit beginnen, "dass er plötzlich der Europäischen Union ein unwahrscheinliches Recht übergibt, das uns, wie er das sehen würde, verpflichtet, mehr Flüchtlinge aufzunehmen."
Die britische Bevölkerung sei einerseits "sehr stolz" auf die bisherige Aufnahme von Flüchtlingen, sagte Stuart. Man sehe aber angesichts der derzeitigen Vorfälle im Mittelmeer und des dortigen Menschenhandels, dass viele Flüchtlinge nur aus wirtschaftlichen Gründen kommen wollten:
"Und das will man nicht weiter fördern."


Das Interview im Wortlaut:
Dieter Kassel: Man kann natürlich sagen, ein Verhandlungsergebnis akzeptiere man erst dann, wenn man mit diesem Ergebnis einverstanden ist. Das ist relativ normal. Aber das tut der britische Premierminister Cameron nicht. Im Zusammenhang mit der Verteilung von Flüchtlingen innerhalb Europas, die nach einem bestimmten System stattfinden soll, das die EU heute vorstellen wird, in diesem Zusammenhang sagt er: Egal, was da beschlossen wird – Großbritannien wird das nicht umsetzen.
Geht es bei dieser klaren Ansage um Flüchtlingspolitik oder um das neue Verhältnis Großbritanniens zur EU oder um beides? Das wollen wir jetzt mit Gisela Stuart klären. Während ihre Partei Labour die Wahl verloren hat, hat sie wieder gewonnen: Zum fünften Mal bekam sie in ihrem Wahlkreis in Birmingham die Mehrheit der Stimmen und sitzt deshalb auch im neuen britischen Parlament. Schönen guten Morgen, Frau Stuart!
Gisela Stuart: Guten Morgen!
Kassel: Was hören Sie denn bei dem, was Cameron, was seine Regierung sagen? Sagen die nur, wir lassen uns von Brüssel nichts vorschreiben, oder sagen die auch, wir wollen keine neuen Flüchtlinge?
Stuart: Die sagen beides, und die sagen aber auch noch ein Drittes, und deshalb ist es jetzt so ein großes Problem: Rein rechtlich haben wir ja diesen Opt-Out, den sowohl die Iren als auch die Dänen haben, das wir also bei bestimmten Sachen wie der Flüchtlingspolitik eigentlich nicht machen müssen, wenn wir nicht wollen. Und normalerweise würde man den Verhandlungsprozess antreten und sich dann am Ende entscheiden. Cameron hat aber jetzt gerade eine Wahl gewonnen, überraschenderweise hat er eine Mehrheit, und er hat von der UKIP, der Partei, die also aus der Europäischen Union austreten will, Schaden genommen, aber nicht so sehr wie er fürchtete.
Geplante Volksbefragung zur EU-Mitgliedschaft
Er will aber auch jetzt eine Volksbefragung über unseren weiteren Beitritt in der Europäischen Union. Und Cameron selber will ja, dass die britische Bevölkerung sich dazu entscheidet, ja zu sagen. Er will das jetzt auch so schnell wie möglich machen. Deshalb kann er nicht seine Regierungsperiode damit anfangen, dass er plötzlich der Europäischen Union ein unwahrscheinliches Recht übergibt, uns, wie er das sehen würde, verpflichtet, mehr Flüchtlinge aufzunehmen.
Kassel: Das heißt, Cameron will quasi jetzt zeigen, Großbritannien ist ohnehin unabhängig von der EU, kann, etwas übertrieben gesagt, die Vorteile genießen dieser Mitgliedschaft, ohne die Nachteile in Kauf zu nehmen, so dass die Bevölkerung quasi den Eindruck hat: Wir müssen gar nicht austreten.
Stuart: Ja. Ich glaube, Sie haben das besser gesagt, als ich das sagen hätte können. Und deshalb steht er jetzt vor einem ganz schwierigen Dilemma, denn er kann entweder seine eigene Bevölkerung befriedigen und ihnen geben, was sie wollen, oder er kann auf Brüsseler Ebene ganz viel guten Willen, den er ja brauchen wird, ganz schnell verlieren.
Kassel: Nun haben Sie aber auch am Anfang schon gesagt, Frau Stuart, auf die Frage, geht es um Flüchtlinge oder geht es um die EU: Es geht um beides. Die Regierung in London sagt ja, Großbritannien brauche deshalb keine Vorgaben dazu aus Brüssel, weil man auf eine großartige Geschichte der Aufnahme von Menschen, die es wirklich nötig hatten, zurückblicken kann. Dem kann man sicherlich zustimmen, aber streng genommen sagt die Regierung ja nur etwas über die Geschichte, sie sagt ja eigentlich nicht, wie sie diese Geschichte jetzt fortsetzen will.
Das Beispiel Birmingham
Stuart: Wenn Sie aber in einer Großstadt wie zum Beispiel Birmingham leben, die ich vertrete: Die allgemeine Bevölkerung sieht auf täglicher Ebene, dass wir Flüchtlinge sowohl aus Syrien als auch Nordafrika, also auch Irak, Afghanistan, Kosovo aufnehmen. Sie nennen das „Land, das wir sehen". Und man ist aber auch auf das Flüchtlinge-Aufnehmen sehr stolz. Man sieht aber auch vieles, was sich im Augenblick im Mittelmeer abspielt und mit dem Menschenhandel zusammenhängt. Und dass viele auch aus wirtschaftlichen Gründen kommen wollen. Und das will man nicht weiter fördern.
Kassel: Täuscht mich der Eindruck, dass man in Großbritannien auch auf politischer Ebene im Moment Asyl und Migration ziemlich durcheinanderbringt?
Stuart: Das hat man schon immer unwahrscheinlich durcheinandergebracht. Und man muss das auch verstehen, dass in Großstädten, wo bestimmte Flüchtlingsgruppen schon in der zweiten, dritten Generation hier sind, dass die genauso dagegen sind, dass mehr Leute reindürfen als die ursprüngliche Bevölkerung. Es ist also erheblich komplizierter, diese ganze Debatte. Man will fair sein, man will, dass die einen Job haben, man will, dass, wenn sie kommen, sie dann auch Steuern zahlen und Mitglied der Gesellschaft sind. Aber man hat eben die Befürchtung, dass, wenn das zu unkontrolliert wird, dass dann alles aus der Hand fällt.
Kürzung von Sozialleistungen
Kassel: Die Regierung, die alte und neue, sagt ja auch, sie will auch Sozialleistungen für EU-Bürger, die in Großbritannien leben, deutlich reduzieren. Das klingt schon ein bisschen nach der Frage - Menschen aus Pakistan, Bangladesch, die seit Jahrzehnten in Großbritannien leben, neue Flüchtlinge - als ob man darüber hinaus auch zu Europa sagt: Wir wollen jetzt eigentlich unter uns bleiben.
Stuart:Als ich damals zum ersten Mal vor 40 Jahren nach England kam, war es ja so, dass man einen Job haben musste und dass man kein Arbeitslosengeld bekommen konnte für ganz lange Zeit, bis man endlich dann im Land war. Es war auch so, dass man Kindergeld zum Beispiel nur für Kinder haben konnte, die auch im Land waren.
Gegen was sich die Leute empören, ist, wenn man plötzlich sagt: Leute kommen her, und die haben keine Arbeitsmöglichkeiten. Oder wenn von Familien die Kinder überhaupt nicht in England sind und man trotzdem dann das Kindergeld ins Ausland schickt. Man hat das Gefühl, dass wenn man im Land ist, dann soll man hier auch arbeiten und Steuern zahlen, aber nicht das Land nutzen als eine Basis. Und ich glaube, das ist so ziemlich allgemein in der Bevölkerung, ob das jetzt im Norden oder Süden ist.
Kassel: Aber diese Argumente, die Sie gerade genannt haben, die wollen alle nur Sozialleistungen ausnutzen, die schicken das Kindergeld nach Rumänien oder sonst wo hin, das hört man in Deutschland auch jeden Tag. Und in Deutschland gibt es dazu auch konkrete Zahlen, die immer wieder seriös belegen: Das ist nur eine Minderheit, die das wirklich tut. Das Problem ist gefühlt viel größer als in der Realität. Versuchen die Medien, versuchen Aufklärer in Großbritannien auch ein bisschen dagegen zu halten?
Was Wähler als ungerecht empfinden
Stuart: Ich glaube, Politiker müssen manchmal auch anerkennen: Wenn unsere Wähler und die Bevölkerung irgendetwas als ungerecht empfinden, und ob das jetzt ein kleines Problem ist oder ein großes Problem ist, dann sollten wir doch das Problem lösen. Und ich sehe also wirklich keinen Grund, warum man nicht sagt: Das ist einfach falsch, und deshalb hören wir auf damit. Und der David Cameron in der letzten Wahl und sogar auch die Labour-Partei und unsere Manifeste – wir waren da ganz klar, dass das aufhören muss, dass man dem Grenzen setzen muss. Und deshalb ist das etwas, das für das Königreich so wichtig ist, dass das einfach passieren muss.
Kassel: Aber nun ist es ja so – und da können wir jetzt ja vielleicht doch noch Unterschiede finden zwischen den Torys und Labour –, dass die Labour Party jetzt mit ihrer neuen Regierung ja nicht nur bei den Sozialleistungen für Einwanderer sparen will, man will das generell tun. Man will unter anderem auch die Maximalsumme an Sozialleistungen pro Jahr reduzieren. Wenn man jetzt Zahlen nennt und sagt, die soll von 27.000 Pfund auf 23.000 runtergehen, mag sich noch einer denken, das ist ja nun auch relativ viel. Andererseits ist das auch die Maximalsumme, die nur unter relativ extremen Umständen gezahlt wird. Müssen Sie da nicht doch als Labour-Abgeordnete mal feststellen: Das ist der Versuch, Politik auf Kosten der Schwachen zu machen?
Stuart: Das passiert, und für mich ist das Allerwichtigste auch, was man mit den Mindestlöhnen macht. Und was die Torys dann vielleicht sagen würden, ja, aber wir haben die ganzen Steuergrenzen erhöht, die Steuerbeiträge, wo man überhaupt anfangen muss, Steuern zu zahlen, worauf ich dann sagen würde: Was ist aber, wenn man keine Steuern zahlt? Was ist denn mit den Leuten, die auf dem Minimumeinkommen sind? Und das ist für mich das Gebiet der Politik, das mir die größten Sorgen macht. Es sind nicht nur die Schwächsten, sondern auch die jüngste Bevölkerung, die am schlimmsten unter diesen Sachen leidet, die Unter-30-Jährigen, für die ist das im Augenblick am allerschwierigsten.
Erinnerungen an die Thatcher-Ära
Kassel: Auch wenn David Cameron sicherlich kein eiserner Gentleman ist – mich erinnert das, was jetzt gerade zu beginnen scheint, so ein bisschen doch an die Thatcher-Ära, auch, was die Spaltung der Bevölkerung angeht. Es gibt ja auch extreme Proteste jetzt gegen die neue Regierung. Sehen Sie das auch so ein bisschen? Ist Großbritannien auch sehr gespalten zwischen denen, die hundertprozentig hinter der Cameron-Regierung stehen, und denen, die sie hundertprozentig ablehnen?
Stuart: Der Unterschied zwischen Thatcher und Cameron ist, dass Margaret Thatcher sich selber ganz klar war, was sie machen wollte, und sie war sich bewusst, dass bestimmte Aktionen Konsequenzen haben würden. Sie war aber der Meinung, dass auf lange Sicht das für das Land besser wäre. Cameron hat keine wirkliche Sicht, wie er glaubt, dass sich das Land entwickeln soll, macht aber dieselben Sachen, die Thatcher macht, die ganze Struktur des Staates in gewissen Gebieten, wie zum Beispiel in Erziehung, wie zum Beispiel auch im Gesundheitswesen. Das ist so wie Eis, das bricht. Er hat aber keine Vorstellung, wie das neue England unter seiner Regierung aussehen könnte. Und deshalb ist er in gewisser Weise für mich sogar gefährlicher als Thatcher war. Denn er hat keine Vorstellung, was die Konsequenz seiner Politik ist. Und das ist immer gefährlich.
Kassel: Sagt die Labour-Abgeordnete Gisela Stuart im Deutschlandradio Kultur. Frau Stuart, vielen Dank für das Gespräch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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