EU-Flüchtlingspolitik

Migrationsforscher kritisiert Abschottung als "Illusion"

Ungarische Polizisten mit Hunden vor dem Zaun an der Grenze zu Serbien. Jenseits des Zaun stehen Flüchtlinge.
Die ungarische Grenze zu Serbien wird mit Polizisten und Hunden gesichert. © Dmitriy Vinogradov, dpa picture-alliance
Stefan Luft im Gespräch mit Liane von Billerbeck |
Vor dem Zerbrechen der EU oder einem Mini-Schengen warnt der Migrationsforscher Stefan Luft. Er hält die Vorstellung, man könne die Europäische Union an ihren Außengrenzen hermetisch abriegeln, für eine Illusion.
"Die Abschaffung der Kontrollen an den Binnengrenzen, dafür war der Preis die Verlagerung der Kontrollen an die Außengrenzen", sagte der Politikwissenschaftler Stefan Luft im Deutschlandradio Kultur. "Wir sind ja weit entfernt von einer Abschottung." Es gebe im Gegenteil zur Zeit einen unkontrollierten Massenzustrom. "Das wird auf Dauer so nicht aufrecht zu erhalten sein, weil sonst die EU tatsächlich überfordert wäre in ihrer jetzigen Verfassung." Es bestünde die Gefahr, dass die EU zerbreche und die Mitgliedsstaaten auf ein Stadium vor Schengen oder ein "Mini-Schengen von europäischen Kernstaaten" zurückfielen. "Das würde natürlich in der Tat die Akzeptanz der europäischen Politik in der europäischen Bevölkerung stark gefährden."

Roboter und Drohnen im Einsatz

Das Ziel europäischer Grenzpolitik sei lange gewesen, die Außengrenzen mittels moderner Überwachungstechnik flächendeckend zu kontrollieren, sagte Luft. Man habe die Vorstellung gehabt, die Außengrenzen ließen sich mit Hilfe von Robotern oder Drohnen hermetisch abriegeln. "Das ist erstens faktisch eine Illusion, das gelingt nicht", sagte der Migrationsforscher. Er frage sich, was geschehe, wenn so ein Roboter auf eine Gruppe von Flüchtlingen zusteuere. Die Flüchtlinge würden natürlich weitergehen. Sollten die Roboter dann bewaffnet werden? All diese Fragen seien ungeklärt. Schließlich gebe es auch Normen des internationalen Flüchtlingsschutzes und der Menschenrechte, sagte Luft.

Das Interview im Wortlaut:

Liane von Billerbeck: Bundeskanzlerin Angela Merkel gibt heute im Bundestag eine Regierungserklärung ab vor dem Treffen der EU-Regierungschefs in Brüssel morgen und übermorgen, und vermutlich wird sie wieder für eine europäische Lösung der Flüchtlingskrise werben, also auch eine stärkere Sicherung der Außengrenzen, um die Zahl der Flüchtlinge zu reduzieren. Allerdings steht die deutsche Regierungschefin mit dieser Politik in Europa ziemlich allein. Gerade die osteuropäischen Staaten sind dabei, ihre Binnengrenzen dichtzumachen. Aber ist das – gute Grenze, schlechte Grenze –, ist eine stärkere Sicherung der Außengrenzen tatsächlich humaner als die Wiedererrichtung von Grenzen innerhalb Europas? Das wollen wir jetzt mit Stefan Luft besprechen. Er ist Politikwissenschaftler an der Universität Bremen und Experte für Flucht und die Steuerung von Migration. Schönen guten Morgen!
Stefan Luft: Guten Morgen, Frau von Billerbeck!
von Billerbeck: Das klingt so einfach, Grenzen innerhalb Europas sind schlecht, und eine Grenze um Europa herum, die ist gut. Stimmt das denn?
Luft: Zunächst mal haben sich die wesentlichen politischen Kräfte ja grundsätzlich darauf verständigt, dass die sogenannte Sicherung der Außengrenze der EU das anzustrebende Ziel ist und eine Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen innerhalb des Schengen-Raums abzulehnen sei, weil damit auch das europäische Projekt gefährdet wäre. Das ist zunächst mal die Grundlage, auf der die politische Diskussion geführt wird.

Hochtechnologie an den EU-Grenzen

von Billerbeck: Welche Konsequenzen hat denn eine stärkere Sicherung der Außengrenzen? Dann muss man doch – und wir erinnern uns an die AfD-Politikerin Frauke Petry, doch auf Flüchtlinge schießen, wenn sie diese Grenzen via Mittelmeer verletzen.
Luft: Das Ziel der europäischen Grenzpolitik war ja, die Grenzen mittels modernster Überwachungstechnik flächendeckend zu kontrollieren. Deswegen hat man neben den sichtbaren Grenzen, also meinetwegen den Grenzzäunen oder -mauern, die wieder hochgezogen werden, hat man sogenannte integrierte intelligente Systeme, sogenannte intelligente Grenzen, Smart Borders, geschaffen, die die konventionellen Kräfte, also Flugzeuge, Schiffe ergänzen und entlasten sollen. Da hat man Hochtechnologieprojekte eingesetzt, die häufig aus dem militärischen Bereich kommen, und hat eben die Vorstellung gehabt, man kann die Außengrenzen mit radar-basierten Luftüberwachungssystemen, Robotern, Überwachungsplattformen, Drohnen flächendeckend so überwachen und damit dann Europa quasi hermetisch abriegeln.
Das ist erstens faktisch eine Illusion. Das gelingt nicht, denn stellen Sie sich mal vor, was passiert denn, wenn so ein Roboter an der Grenze, an der Außengrenze der EU auf eine Gruppe von Flüchtlingen zusteuert und dann mit dem Lautsprecher sagt "Stop! Don't go on – go back"? Wird sich dann diese Gruppe tatsächlich danach richten und wird sagen, oh, der Roboter sagt uns jetzt, wir müssen zurückgehen? Die werden natürlich weitergehen. Was passiert dann? Muss dann der Roboter eventuell bewaffnet sein? Das sind alles Fragen, die ungeklärt sind, was dann dazu führt, dass eben diese vollständige Abriegelung nicht erfolgen kann.
Und es ist auch normativ hoch problematisch, denn es gibt ja Normen des internationalen Flüchtlingsschutzes und der Menschenrechte, die Genfer Flüchtlingskonvention beispielsweise, die ja sagen, dass die Menschen ein Recht haben, ihren Antrag auf Asyl, auf Flüchtlingsschutz vorzutragen, und ein Recht haben auf ein faires und effizientes Verfahren. Und wenn das abgebügelt wird, indem man die Grenzen so stark abriegelt, dass gar niemand hineinkommt und diese Anträge stellen kann, dann wird gegen diese Verfahren verstoßen.
Deswegen haben ja auch die beiden europäischen Gerichtshöfe erklärt, dass beispielsweise Maßnahmen von Frontex oder von Nationalstaaten, Mitgliedsstaaten der EU nicht zulässig seien, Personen auf See, außerhalb des Hoheitsgebietes der EU, zurückzuschieben, ohne Anhörung ihres Begehrens, zurückzuschieben in die Herkunftsländer. Das wäre ein Verstoß gegen das Zurückschiebungsverbot, das sogenannte Refoulement-Verbot der Genfer Flüchtlingskonvention.

Unkontrollierter Massenzustrom

von Billerbeck: Alles, was wir jetzt erleben, ist ja eigentlich das Gegenteil eines kontrollierten Zugangs. Es klingt doch sehr nach Abschottung. Und wenn wir gerade hören und sehen, wie die osteuropäischen Staaten, die ja sehr von der Freizügigkeit für Arbeitnehmer profitieren – und laut einer gestern veröffentlichten Studie der Bertelsmann-Stiftung ist ja die Reisefreiheit für Osteuropäer noch wichtiger als für die Menschen in Westeuropa – da kommt die Frage, ist also die Abschottung nach außen quasi der Preis für die Freiheit nach innen in der EU?
Luft: Das stand immer schon in einem direkten Zusammenhang. Die Abschaffung der Kontrollen an den Binnengrenzen, dafür war der Preis die Verlagerung der Kontrollen an die Außengrenzen.
Und wir sind ja weit entfernt von einer Abschottung. Wir haben ja das Gegenteil, Sie haben es ja gesagt. Wir haben ja einen unkontrollierten Massenzustrom zurzeit. Das wird auf Dauer so nicht aufrechtzuerhalten sein, weil sonst die EU tatsächlich überfordert wäre in ihrer jetzigen Verfassung. Und die Gefahr bestünde, dass die EU zerbricht, dass wir zurückfallen auf ein Stadium vor Schengen oder auf ein Mini-Schengen von europäischen Kernstaaten, die ja im Übrigen Schengen ins Leben gerufen haben, nämlich die Benelux-Staaten, Frankreich und Deutschland.
Und das würde natürlich in der Tat die Akzeptanz der europäischen Politik in der europäischen Bevölkerung stark gefährden.
von Billerbeck: Gute Grenzen, schlechte Grenzen innerhalb oder um die Europäische Union. Der Politikwissenschaftler Stefan Luft war das. Ich danke Ihnen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

Stefan Luft, Die Flüchtlingskrise. Ursachen, Konflikte, Folgen
C.H.Beck Verlag, 8,95 Euro.
Das Buch erscheint am 9. März 2016

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