Ethik und Religion in "Serious Games"

Computerspiele mit Tiefgang

10:01 Minuten
Im Still aus "That Dragon, Cancer" liest der Spieleprotagonist etwas auf seinem Tablet, umgeben von religiösen Symbolen.
Hoffnung auf höhere Mächte: Im Spiel "That Dragon, Cancer" dreht sich alles um eine Familie, die gegen die Krebserkrankung des jüngsten Sohnes kämpft. © Numinous Games
Von Kirsten Dietrich |
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Wenn ethische und politische Anliegen in ein Computerspiel verwandelt werden, kommt das Interesse der Leute ganz von alleine – so die Theorie. „Serious Games“ heißt dieses Konzept. Auch religiöse Sinnanbieter versuchen sich daran.
Die Beschäftigung mit ernsten Themen und unangenehmen Aufgaben, leicht gemacht, weil sie in ein interessantes Spiel verpackt sind – mit Serious Games kann man Vokabeln lernen oder in Simulationen zum Beispiel Notarzteinsätze üben. Aber es gibt Serious Games, die wollen mehr: nämlich in ethische Grenzsituationen führen.

Schicksal spielen am Schreibtisch: Wer reist ein, wer nicht?

Im Spiel "Papers, please!" zum Beispiel müssen die Spielenden Einreisepapiere abstempeln und entscheiden, wen sie ins Land lassen – und wen nicht. Das fängt einfach und fast monoton an, aber Armut, Bestechung, persönliche Not und Terror machen den Schreibtischjob schnell zu einem Spiel der Entscheidungen auf Leben und Tod – und das trotz äußerst simpler Grafik.
"Ich habe das Spiel schon öfter bei Seminaren und Workshops Studenten gezeigt", sagt der Religionswissenschaftler Tobias Knoll, der an der Universität Heidelberg zu Religion und Moralsystemen in Computerspielen forscht. "Und von allen kam immer der Kommentar: Das ist total komisch, ich will nicht, dass das Spiel mir Spaß macht, aber es macht mir Spaß."
Für Knoll ein wertvoller Anstoß, "in die richtige Richtung zu denken und sich mit so einer Problematik auch mal in unserer Welt genauer auseinanderzusetzen."

Rollenwechsel: plötzlich Bestatterin, Soldat oder Transfrau

Wer möchte, findet viele solcher Spiele, vor allem auf Plattformen unabhängiger Anbieter. Man kann als Bestatterin über den Tod nachdenken, als Transfrau die eigene Identität entdecken oder versuchen, als Soldat in einem Krieg zwischen den Fronten anständig zu bleiben. Das ist manchmal sehr unterhaltsam, manchmal auch ein bisschen stereotyp – auf jeden Fall aber markiert es Computerspiele als ein Gebiet, auf das sich die Suche nach Orientierung abseits der traditionellen Religionen und Sinnstiftungen verlagert hat.
Vielleicht also gar nicht so verwunderlich, dass die Kirchen in diesen Welten nur zaghaft mitspielen. Die entwicklungspolitische Christliche Initiative Romero schickt die Spielenden auf ihrer Homepage in die "Ausbeuterfabrik". So heißt das kleine Spiel, bei dem man die Teile von Sportkappen und -taschen zusammenpuzzeln und anschließend zusammennähen muss: einmal mit der Maus rundherum fahren, und wenn man zu weit abweicht, wird die Kappe nicht angenommen, der sowieso karge Lohn noch knapper, und die Energieanzeige rutscht vor Hunger immer tiefer in den roten Bereich.
Zwischendrin muss die Spielerin Entscheidungen treffen, vor denen auch ein Tagelöhner steht: Schuhe für die Kinder kaufen? Sparen? Gewerkschaftsmitglied werden? Infotexte stehen bereit – wenn man sich lange genug vom Spiel lösen kann.
Menschen stehen vor dem missio-Truck mit der Ausstellung "Menschen auf der Flucht".
Der missio-Truck mit der Ausstellung "Menschen auf der Flucht": Im gleichnamigen Computerspiel werden Besucher in typische Fluchtgeschichten hineinversetzt.© Picture Alliance / dpa / Jens Wolf
Das wahrscheinlich bekannteste Serious Game eines christlichen Anbieters in Deutschland ist "Menschen auf der Flucht" vom katholischen Hilfswerk missio. "Hört mir bitte zu: Milizen haben unsere Stadt überfallen." Mit diesen Worten werden die Spielenden begrüßt und sofort ins Geschehen hinein gezogen.

Entscheidungen, die niemand treffen möchte

"Menschen auf der Flucht" ist kein Spiel für zu Hause, sondern eines, das bei Veranstaltungen von Projektwochen bis zu Kirchentagen für Rundumerlebnisse sorgt. Spielstationen mit interaktiven Monitoren sind eingebaut in einen Lastwagen, man fährt scheinbar auf ruckelnden Pritschen oder schleicht sich an der Schießerei auf dem Dorfplatz vorbei.
Wolf-Gero Reichert hat "Menschen auf der Flucht" mit auf den Weg gebracht. "Man begibt sich in die Situation von Flucht hinein und bekommt dann Entscheidungen vorgesetzt, die man eigentlich nicht treffen mag", erklärt er: "Was nehme ich mit, wenn ich nur 30 Sekunden Zeit habe?" Wasser, Proviant, Zahnbürste? Gut gewählt für einen Wochenendtrip, aber nicht für die Flucht. Dein Pass wäre wichtiger gewesen.
"Das Allerwichtigste, wenn man ein Computerspiel für die junge Zielgruppe erstellt, ist, dass man das Ganze so gestaltet, dass es 'Impact' erzeugt", sagt der Spieleentwickler Ralph Stock. "Das heißt: Die Leute müssen angezogen werden von dem Spiel." Stock ist Geschäftsführer von Serious Games Solutions in Tübingen. Seine Firma hat "Menschen auf der Flucht" im Auftrag der katholischen Kirche entwickelt.

Nervenkitzel in der Haut eines anderen

"Es knallt, es rumst, das erzeugt auch erst mal so eine klaustrophobische Atmosphäre", erklärt Stock, "und genau das ist es, was ich erstmal als Grundsetting erreichen muss, um überhaupt den Jugendlichen zu zeigen: Hey, hier kommt nicht irgend so ein Lernprogramm, sondern hier bekommst du jetzt wirklich diese Immersion, also diese Möglichkeit, dich wirklich in die Rolle dieses Jugendlichen aus Afrika hineinzuversetzen, und das merken die Leute dann."
"Es war ziemlich aufregend zu sehen, wie das abläuft", bestätigt eine Spielerin, "dass da auf Leute geschossen wurde, das fand ich schon ziemlich heftig, das ist schon ein Erlebnis." Und eine andere Spielerin ergänzt: "Vorher wusste man gar nicht, was da so los ist. Jetzt weiß man erstmal, was da alles ist und dass die Leute so gefährdet sind."
"Die Schüler werden zunächst mal emotional in das Thema reingezogen, und damit werden sie dann auch aufnahmebereit für Informationen", sagt Ralph Stock, der als einer der ersten in Deutschland Serious Games professionell entwickelt hat. Das ist zumindest die Theorie. In der Praxis gibt es Hindernisse. Die meisten kirchlichen Games können nur bei Veranstaltungen gespielt werden, eher selten gibt es Spiele für zu Hause. Einige davon wurden schon wieder eingestellt, zu aufwendig ist der Betrieb, zu gering die Nutzung.

Man merkt die Absicht - und ist verstimmt

"Ich glaube, dass diese Spiele einfach immer das Problem haben, dass sie nicht gespielt werden - oder selten gespielt werden", sagt Christian Gürtler beim Online-Interview in sein Headset, das ihn gleich als Gamer ausweist. Er forscht an der Universität Erlangen über religiöse Phänomene in Computerspielen.
"Das ist das große Problem, wenn eine Autorität, eine alte Autorität vor allem wie die Kirche zum Beispiel, ein Spiel vorgibt, dass immer dieser Charakter des Moralischen, des vielleicht sogar in irgendeiner Weise Missionierenden oder ein Bildungscharakter mitschwingt", sagt Gürtler. "Das schreckt immer ab, gerade bei Jugendlichen."
Tatsächlich gehen an kaum einem Punkt die Urteile über Serious Games so auseinander wie bei der Frage nach der Motivation: Ist es wirklich so, dass die Spiele Motivation erzeugen, wo vorher nur unter Druck gehandelt wurde? Oder lässt diese Motivation nach der ersten Begeisterung umso schneller nach, weil man die Absicht erkennt und verstimmt ist?

Kommerzielle Spiele mit sittlichem Mehrwert

Christian Gürtlers Empfehlung an Bildungseinrichtungen und Kirchen ist deshalb: Statt eigene Serious Games zu entwickeln, sollten sie lieber herkömmliche Computerspiele genauer wahrnehmen. Denn auch in denen müssten die Spielenden ständig ethische Entscheidungen treffen, auch wenn das vielleicht nicht auf dem Etikett stehe.
Ein Beispiel: das Spiel "Bioshock". Eigentlich einer der als Ballerspiele verschrienen Egoshooter, in dem man mit Waffe in der Hand eine postapokalyptische Unterwasserwelt erkundet. Dort könne man sich freundlich gegenüber Schwächeren verhalten oder nur für den Moment so viele Vorteile wie möglich erzielen, so Gürtler:
"In dieser Welt trifft man auf kleine Mädchen, die sogenannten Little Sisters, und man hat dann, wenn man eines dieser Mädchen findet, die Möglichkeit, sie auszubeuten, um einen gewissen Gegenstand zu bekommen, der heißt ADAM, der bringt einen im Spielfluss schneller voran. Das würde aber das Mädchen töten. Oder man rettet das Mädchen, und bekommt weniger ADAM, weniger Belohnung."

Moralisches Dilemma im geschützten Raum

Schaue ich auf meinen Nutzen oder auf den Nutzen anderer? Diese Entscheidung lässt sich im Spiel in einem geschützten Raum ohne Konsequenzen treffen. Für das Spiel aber sei sie wichtig, sagt Gürtler.
"Das beeinflusst dann das Ende des Spiels: dass man entweder als großer Held da steht, oder man erfährt ein Ende mit mehr Liebe, ein schöneres, mehr moralisches Ende - und diese Entscheidung trifft man, und mit der muss man dann als Spieler, Spielerin leben." (*)
Auch der Religionswissenschaftler Tobias Knoll lenkt den Blick weg von der direkten ethischen Nutzanwendung hin auf Spiele, die einen beim Gefühl packen. "Das, was mittlerweile viele Leute eher 'Emotional Games' nennen. Die können auch Spaß machen, aber sie behandeln halt ein Thema, das ein bisschen tiefer geht."
"That Dragon, Cancer" ist so ein Spiel: man vollzieht im Spiel den Kampf einer Familie gegen die Krebserkrankung des jüngsten Sohnes nach – den das Kind nach vier Jahren verliert. Die Entwickler des Spieles haben dabei ihre eigene Familiengeschichte verarbeitet.

Eine Chance für Empathie

"'That Dragon, Cancer' ist ein zutiefst religiöses Spiel", sagt Knoll. "Es ist teilweise schon fast unangenehm, wie stark da die religiösen Gefühle der Protagonisten - in dem Fall der beiden Entwickler, die das auch erlebt haben und die das in diesem Spiel verarbeitet haben - wie sehr sie das mit sich und dem Spieler diskutieren: was sie glauben, ob Gott ihr Kind noch retten wird, diese Hoffnung und gleichzeitig auch diese Machtlosigkeit, die man da fühlt."
Und dann schult das Serious Game vielleicht nicht unbedingt schnell und einfach Mitstreiter für die gute Sache. Aber es eröffnet die Chance, den Spielenden neue, tiefgehende Eindrücke zu verschaffen – und vielleicht sogar noch menschliche Grundtugenden wie Empathie zu stärken.
"Ich glaube, Spiele können dann wertvoll werden, wenn man wirklich Grenzen überschreitet", sagt Tobias Knoll. "Wenn man wirklich etwas erlebt im Spiel, was man im Alltag nicht erleben könnte."
(*) Redaktioneller Hinweis: Der Gesprächspartner hat uns gebeten, das Zitat zu präzisieren. Gemeint war: "Das beeinflusst dann das Ende des Spiels: man steht entweder als moralisch korrupter Sieger da, oder man erfährt ein Ende mit mehr Liebe ..."
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