Ethik der Arbeit im Islam

Anerkennung für das Werk der eigenen Hände

13:38 Minuten
Ein Teppichhändler im Vakil-Basar, Shiraz, Iran, 2018.
Teppichhändler im iranischen Shiraz: Handwerker und Kaufleute werden im Islam traditionell besonders geschätzt, sagt Manfred Sing. © picture alliance / imagebroker / Karl-Heinz Schein
Manfred Sing im Gespräch mit Kirsten Dietrich · 12.09.2021
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Im Koran spiele Arbeit keine große Rolle, aber nach einem Ausspruch des Propheten verdiene Respekt, wer von eigener Hände Arbeit lebe, so der Islamwissenschaftler Manfred Sing. Mohammed selbst soll ein erfolgreicher Kaufmann gewesen sein.
Kirsten Dietrich: Die protestantische Arbeitsethik hat die Furcht vor der Hölle produktiv gemacht – so ließe sich, etwas salopp, der christliche Blick auf Arbeit zusammenfassen. In der Bibel wird beides gelobt: die Arbeit und die wohlverdiente Ruhe.
Der Islam hat biblische Traditionen aufgenommen, aber natürlich eine ganz eigenständige Religion und Überlieferung geformt. Wie in der islamischen Geschichte über Arbeit gedacht wurde, darüber spreche ich mit Manfred Sing. Er vertritt die Professur für islamische Geschichte an der Universität Freiburg und hat unter anderem zum Marxismus in der arabischen Welt geforscht.

Kein Ruhetag für den Schöpfer

Herr Sing, nach der hebräischen Bibel gehört zum Paradies zwar Arbeit, aber eben: erfüllte Arbeit. Wie sieht das im Islam aus, muss man da im Paradies arbeiten?
Manfred Sing: In der Genesis gibt es eben die Vorstellung, dass da sowohl Gott den Garten pflegt als auch den Menschen bestellt, den Garten Eden zu pflegen. Im Koran haben wir beides nicht. Da wird nicht von Gott geredet, dass er arbeitet, und auch von Adam und Eva wird nicht erzählt, dass sie dort arbeiten müssen.
Es ist auch so, dass Gott im Koran die Welt in sechs Tagen erschafft und dann sofort mit seiner Regentschaft beginnt, er braucht keinen Ruhetag. Es gibt also im Islam die Vorstellung, dass Gott die Erde und alles andere mühelos schafft. Er arbeitet in diesem Sinne auch gar nicht.
Das Bild dafür, wie die Menschen im Paradies, im Jenseits, leben, ist eigentlich eher, dass Bäche von Milch und Honig fließen. Die Menschen können den Wohlstand, den es dort gibt, einfach so genießen. Das ist die gängige Vorstellung, die der Koran vermittelt.

Zwei Verse, die von Arbeit handeln

Dietrich: Wenn wir über Arbeit im Islam reden, ist das natürlich ein bisschen pauschal formuliert: Es gibt nicht "den" Islam, und islamische Vorstellungen aus den Zeiten des Propheten unterscheiden sich von denen von heute. Wir versuchen es trotzdem mal und gehen mit großen Schritten durch die Geschichte. Und fangen beim Anfang an: beim Koran, der heiligen Schrift des Islam. Welche Aspekte von Arbeit behandelt der Koran, welche Normen setzt er?
Sing: Der Koran spricht nicht sehr oft von Arbeit im engeren Sinne. Der Begriff "al-amal" im Arabischen hat ein sehr weites semantisches Feld und deckt viele Begriffe ab. Zum Beispiel können damit die guten Werke gemeint sein, das Handwerk, sogar die Verwaltung. Von den zahlreichen Stellen, in denen der Begriff im Koran vorkommt – im Prinzip kann das auf zwei Verse reduziert werden, wo tatsächlich von Arbeit gesprochen wird.
Das heißt, es hat gar keinen so prominenten Platz. Wenn ich als Islamwissenschaftler darauf schaue, was in diesen Versen und den Überlieferungen gesagt wird, so ist vielleicht am einfachsten zu sagen, dass der Koran generell keine Extreme mag. Weder ein Übermaß an Arbeit noch ein Mindermaß an Arbeit, auch kein Übermaß an Armut und keines an Reichtum.

Almosenpflicht für Reiche

Reichtum wird sehr stark kritisiert. Arbeit ist eine moralische Pflicht, aber keine religiöse Pflicht. Eine moralische Pflicht, um sich vor Armut zu schützen und selbständig zu sein. Der Koran sagt auch, dass es für die Reichen Pflicht ist, Almosen zu geben – Almosenpflicht und Gebet sind die zentralen Pfeiler des Islams, die im Koran immer wieder genannt werden und einen Menschen zum rechtschaffenen Gläubigen machen. Das Betteln auf der anderen Seite wird auch wieder abgelehnt. Diese Punkte sind also ganz zentral.
Manfred Sing, Mit Brille, grau meliertem Bart. in einem schwarzen Hemd, lächelt freundlich in die Kamera.
Von der eigenen Hände Arbeit leben zu können, verdiene im Islam Respekt, sagt Manfred Sing. Ein überlieferter Ausspruch des Propheten bringe das zum Ausdruck.© IEG Mainz / Angelika Stehle
Es gibt in der Überlieferung schon mehrere Zitate, wo der Prophet Mohammed sagt, dass Muslime das Volk sind, das mit den eigenen Händen arbeitet. Es gibt auch eine Überlieferung, wo er kritisch darauf reagiert, wenn jemand sich ausschließlich dem Gebet widmet. Da fragt er zurück: Wer sorgt für deinen Unterhalt? Dann sagt derjenige: Das macht mein Bruder, meine Verwandten unterstützen mich. Und dann wird klar, dass das eigentlich nicht richtig ist. Sondern dass man eigentlich für sich selber sorgen soll.

Kaufmann nach dem Vorbild des Propheten

Dietrich: Diese Vorstellungen des Korans sind in den verschiedenen islamischen Staaten, vom 9. bis zum 19. Jahrhundert, gesellschaftliche Realität geworden. Das sind sehr verschiedene Staaten gewesen, schon allein geographisch. Aber gibt es Gemeinsamkeiten darin, wie letztlich eine Arbeitsgesellschaft gelebt wurde?
Sing: Zum einen haben wir das Kaufmannsideal, weil ja Mohammed und seine erste Frau Khadija Kaufleute waren. Der Handel, auch der Fernhandel, und die Gewinne, die man da erzielen kann, das ist durchaus medial da. Im Recht haben wir auch ganz viele Vorstellungen vom Vertragsrecht. Also, wie wird der Vertrag aufgebaut, dass Arbeitgeber und Arbeitnehmer gerecht miteinander umgehen. Das geht auch zurück auf dieses Kaufmannsideal.
Dann geht mit den Eroberungen auch oft die Sklaverei einher. Wir haben in der arabischen Geschichte ganz verschiedene Formen der Sklaverei. Die Militärelite bestand eigentlich aus angekauften Sklaven, die konnten in die Elite aufsteigen, und wir haben ganz viele Haushaltssklavinnen. Was wir nicht haben, ist Feldarbeit.

Moralische Pflichten gegenüber Sklaven

Zur Sklaverei wird immer wieder im Koran betont, dass man auch den Sklaven gerecht und menschlich behandeln muss. Das Ideal ist eigentlich, einen Sklaven wie ein Familienmitglied aufzunehmen und ihm tendenziell auch, wenn er treue Dienste geleistet hat – oder sie treue Dienste geleistet hat –, dann auch in die Freiheit zu entlassen. Das Ideal ist natürlich in der Praxis nicht unbedingt umgesetzt worden.
Der dritte Punkt ist, dass wir starke Herrscher in diesem Großreich haben, die vor allem vom Steuereintreiben, also von den Abgaben, leben. Das war etwas, was wir schon aus vorislamischer Zeit haben. Das bedeutet, dass wir auch eine relative Rechtswillkür haben. Das heißt, wenn Leute zu Reichtum kommen, kann es sehr gut sein, dass der Zentralherrscher dann einen größeren Teil abhaben will.
Von daher kann man vielleicht auch diesen Aufruf zur Mäßigung ganz anders verstehen als im Koran oder von Mohammed gemeint: als pragmatisches Umgehen mit einer starken Zentralgewalt nämlich, die einem die Früchte der eigenen Arbeit wegnehmen kann, so dass man sich quasi umsonst angestrengt hat.

Schlüssel zum Verständnis der Kolonialzeit

Dietrich: Mit dem 19. Jahrhundert veränderte sich diese Welt sehr, denn diese Staaten kamen in Kontakt mit der modernen Weltwirtschaft. Was bedeutete das für die Arbeit und vor allem für die Arbeitenden?
Sing: Der Kontakt mit der Weltwirtschaft geht eigentlich schon viel früher los, diese Verflechtungen sind eigentlich von Anfang an schon da. Was sich im 19. Jahrhundert ändert, ist, dass sich das Verhältnis deutlich umkehrt, dass also die islamischen Reiche die schwächeren werden und von den Europäern kolonisiert werden. Dadurch fragt man sich plötzlich auf islamischer Seite, warum sind wir "kolonisabel" geworden, was ist passiert?
Da stellen die Reformkräfte, ob sie nun nationalistisch oder islamisch sind oder auch sozialistisch angehaucht – im 20. Jahrhundert dann – als ersten Punkt fest, dass es einen Mangel an Bildung gab. Dass die islamische Welt also genau diesen Wissenserwerb, die Wissensvermittlung irgendwie hat schleifen lassen und den Anschluss verpasst hat. Dann eben die Arbeitsethik: Was die Reformer gesagt haben, sowohl von der Bildung bis zum Arbeiten und zum Kämpfen fehlt uns die Entschlossenheit oder auch Tiefe oder Geschäftigkeit.

Hadern mit protestantischer Arbeitsethik

Man hat die protestantische Ethik an den Kolonialherren gesehen. Dann wurde das das Vorbild, das Modell. Man hat gesagt: Warum sind wir eigentlich nicht so? Eine der Ursachen, die dann die Reformer genannt haben, war eben auch der fehlende Arbeitseifer und das Sich-Genügen mit dem, was man hat. Selten, dass man nach mehr strebt.
Dietrich: Man hätte aber doch die Gelegenheit nutzen können, um zu sagen: Wir machen einfach etwas ganz anderes, wir entwickeln ein Modell von Arbeit, das zum Beispiel nicht auf der unmenschlichen Ausbeutung basiert, die es in den Fabriken des vielgerühmten protestantischen Arbeitsethos gegeben hat?
Sing: Ja genau. Das ist natürlich die zentrale Kritik. Es gab im Grunde drei unterschiedliche Bewegungen, wie Muslime darauf reagiert haben: Zum einen haben sie sich ein Beispiel an der protestantischen Arbeitsethik genommen und haben versucht, etwas Entsprechendes für den Islam zu formulieren. Also, den Eifer, den Fleiß, die Pünktlichkeit, die Rechtschaffenheit etc. kann man auch ganz gut aus dem Koran ableiten.
Die zweite Möglichkeit war, das komplett abzulehnen. Und die dritte Möglichkeit war eben, zu sagen: Ja, der Islam hat schon eine Arbeitsethik, aber die ist unterschiedlich vom Kapitalismus und vom Kommunismus. Die berühmte Idee des Dritten Weges.

Globalisierung ohne internationale Standards

Dietrich: Jetzt haben wir einen weiten Bogen geschlagen, vom Koran bis heute. Heute haben wir eine digitalisierte und globalisierte Arbeitswelt, die noch mal vor ganz neuen Herausforderungen steht. Lassen sich irgendwelche Normen, irgendwelche Vorstellungen aus der Welt des Koran auf diese Arbeitswelt übertragen, gibt es da Ansätze?
Sing: Auf jeden Fall. In der heutigen Zeit sehen wir, dass es bestimmte Herausforderungen gibt, dass bestimmte Länder wie Pakistan zum Beispiel stark in die globale Wirtschaft integriert sind und dort eben auch internationale Standards konsequent unterlaufen werden. Da gibt es schon den Versuch, auf islamischer Grundlage zu argumentieren, dass diese Arbeitsrechte festgelegt und eingehalten werden müssen.
In der islamischen Welt haben wir generell ja das Problem, dass die Arbeitstätigkeit geringer ist als im globalen Durchschnitt, die Arbeitslosigkeit höher, dass die Frauenarbeit auch niedriger ist als im Durchschnitt und dass vor allem die jungen Menschen sehr stark von Arbeitslosigkeit bedroht sind. Und dort auch wiederum vor allem die jungen Frauen.
Das sind Probleme, die auch muslimische Autoren klar sehen. Das muss irgendwie gelöst werden. Wie das gelöst werden kann – das ist ein strukturelles Problem.

Sorge um den Arbeitsplatz

Die einzigen Länder, die von diesen strukturellen Problemen nicht betroffen sind, sind eigentlich die Erdöl- und Gas-Länder, die Arbeitskräfte anwerben, wo die Mehrzahl der schweren Arbeiten eigentlich von Nicht-Einheimischen übernommen wird. Da haben wir wiederum die Diskussion, siehe Katar und die Fußball-Weltmeisterschaft, dass das schwierige Bedingungen sind, unter denen die Arbeiter dort arbeiten, die nicht den Rechtsstandards entsprechen.
Ähnliches lässt sich auch sagen über die ganzen Housemaids, die in der ganzen arabischen Welt, den Golfstaaten vor allem oder auch im Libanon gang und gäbe sind, die auch unter Rechtsunsicherheit arbeiten.
Wenn man Umfragen liest, ist es tatsächlich so, dass für die islamische, speziell auch die arabische Welt die Menschen sagen: Was ist das größte Problem, das sie sehen, ist es tatsächlich Arbeit und Wirtschaft. Die Frage, ob man nächstes Jahr noch seine Arbeitsstelle hat oder nächstes Jahr noch genügend Geld verdient, um überleben zu können.
Es ist wirklich so, dass ein ganz hoher Prozentsatz der Menschen sagt: Das belastet mich am meisten, das ist das Hauptproblem. Ein ganz anderer Blick natürlich als der, den wir von außen haben.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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