Eine Lange Nacht über das heilige Buch der Muslime

Die Blumen des Koran

Koran und Gebetskette
Koran und Gebetskette © dpa / picture alliance / Roos Koole
Von Manuel Gogos · 16.03.2019
Für gläubige Muslime - 1,5 Milliarden weltweit - hat Mohammed den heiligen Koran in seinem Herzen empfangen. Der Koran aber spiegelt nicht bloß die Gedankengänge eines Einzelnen wider - er ist das Resultat eines jahrzehntelangen Dialogs zwischen dem Propheten, seiner Gemeinde und der jüdisch-christlichen Umgebung.
Der Koran ist eine Schrift zwischen zwei Buchdeckeln, er bedarf der Übersetzung. Ob rationalistisch, fundamentalistisch oder mystisch: Seit jeher wird der Koran interpretiert.
Die Lange Nacht stellt die spannungsreichen Lesarten des Koran vor, von der buchstabengläubigen, ahistorischen Lesart der Islamisten, die im Koran nur einen Aufruf zum Heiligen Dschihad gegen alle Ungläubigen sehen; bis zur allegorisch-mystisch Lesart eines Dschalal ad-Din Rumi, der im Koran den reinsten Ausdruck göttlicher Barmherzigkeit fand.
Die Lange Nacht will die Geisteswelt des Koran rekonstruieren und - um mit der Islamwissenschaftlerin Angelika Neuwirth zu sprechen - dabei das heilige Buch der Muslime von den "jahrhundertealten Schlacken der Islampolemik" befreien. Der Koran wird damit als "universaler Text" gelesen, als ein Zeugnis der Spätantike - und damit Teil der europäischen Geschichte.
Gleichzeitig will die Sendung hörbar machen, was der Autor Navid Kermani mit dem "ästhetischen Erleben des Koran" meint; oder spürbar, was der pakistanische Taxifahrer empfindet, wenn er in seinem Yellow Cab seine Fahrgäste quer durch Manhattan kutschiert - und dabei Ton für Ton mitsingt, was aus seinem Kassettenrekorder kommt.

Lesen Sie das komplette Manuskript zur Sendung in seiner ungekürzten Vorsendefassung hier: Manuskript als PDF/Manuskript als TXT.


Der Koran: das Buch mit sieben Siegeln
In den Augen gläubiger Muslime gilt der Koran als das eigentliche Wunder des Islam. Eines Nachts soll der Analphabet Mohammed ihn in seinem Herzen empfangen haben, vom Himmel herab, in nur einem einzigen Augenblick. Der Koran ist dabei nicht bloß ein Lesebuch. Er ist auch ein Lebensbuch. Viele Konvertiten haben über ihn ihren Weg zum Islam gefunden.

"Im Namen Gottes, des barmherzigen Erbarmers.
Siehe, wir sandeten ihn hernieder in der "Nacht der Bestimmung".
Und was lässt dich wissen, was die "Nacht der Bestimmung" ist?
Die "Nacht der Bestimmung" ist besser als tausend Monate
Es steigen in ihr nieder die Engel und der Geist –
Mit der Erlaubnis ihres Herrn zu jeglichem Geheiß.
Friede ist sie, bis zum Anbruch der Morgendämmerung."

So lautet die Sure, die der Koran der besonderen "Nacht der Herabsendung" widmet, der Laylat al-Quadr, hier in der Übersetzung Hartmut Bobzins wiedergegeben. Mohammed hat nicht wie Moses den Befehl erhalten: "Nimm eine Tafel und schreib." Stattdessen war das erste Wort, das Gott durch den Engel Gabriel an Mohammed richtet: iqra, trage vor! Seither wird der Koran interpretiert. Er ist nichts ohne die, die auf ihn hören. Ohne die, die ihn zum Sprechen bringen, ist er stumm. Natürlich gibt es dabei auch die Schattenseiten der Interpretation:
"All die Stellen, die es mit der Gewalt haben. Die eine Geste, eine Sprache haben, in der es um das Böse geht. In denen es um Bestrafung und Hölle geht. Sprachbilder, die uns in Ehrfurcht zurücklassen. Auch für mich als zutiefst gläubigen Muslim ist es interessant, dass der Koran auch diese Stellen hat. Dass er nicht glattgebügelt ist. Dass ich nicht einfach meinen eigenen Koran zusammenbastle. Ich erwarte auch vom Koran, dass er mich herausfordert. Mich anwidert und wieder anzieht. Ich hadere mit meinem Gott, indem ich mich mit dem Koran beschäftige." (Milad Karimi)
Der Religionswissenschaftler Ahmad Milad Karimi
Der Religionswissenschaftler Ahmad Milad Karimi© Deutschlandradio / Volker Finthammer
Über den Koran sind ganze Bibliotheken verfasst worden. Darunter Autoren, die der Koran begeistert; darunter auch Autoren, die den Koran verachten und die islamische Kultur, die er begründete. Doch genau dieser Deutungsstreit macht die Geschichte des Islams aus.
"Der Koran ist auch seine Rezeption. Es ist völlig unsinnig, irgendeine Meinung über den Koran zu äußern, und nur den Korantext zu Grunde zu legen. 28:55 Der Koran ist die Koraninterpretation und sonst gar nichts, würde ich sogar sagen. Der Koran ist nichts anderes als seine Interpretationen. Die füllen Bibliotheken. Die Interpretationen sind unendlich. Wenn wir den Koran von seiner Rezeptionsgeschichte abschneiden, dann ist er sinnlos. Denn die Muslime haben sich nie nach dem gerichtet, was da drin stand, sondern danach, wie der Koran verstanden wurde." (Stefan Weidner)
Ob Sufis aus dem Senegal, Wahabiten in Saudi-Arabien, Schiiten im Irak oder Aleviten in Berlin: Der Koran ist ihr gemeinsames kulturelles Fundament. Die Sprache des Korans hat dazu beigetragen, die Terminologie nicht nur der muslimischen Theologen oder Juristen zu formen, sondern auch die Sprache persischer Dichter und arabischer Kalligrafen:
"Gerade für die Architektur und Ornamentik war der Koran mehr als nur ein Zier-Element. Es gibt keine Moschee, wo man nicht irgendwelche Koranverse lesen könnte. Das gilt auch für säkulare Gebäude, da ist der Koran zentral! Und das Faszinierende ist natürlich, dass wir beobachten können, in Moscheen von Spanien, nehmen wir Cordoba, über Sarajewo, bis nach Sansibar, Indien, Indonesien, Pakistan, wo wir jedesmal ähnliche Koranverse finden, das selbe Gestaltungselement – woran man sieht, dass es doch eine sehr konsistente und homogene Kultur darstellte." (Stefan Weidner)
Der Journalist, Schriftsteller und Übersetzer Stefan Weidner hält am 16.09.2011 im Friedenssaal im Rathaus in Osnabrück eine Laudatio.
Der Journalist, Schriftsteller und Übersetzer Stefan Weidner © picture-alliance / dpa / Friso Gentsch
Aber der Koran durchdringt die islamische Gemeinschaft und ihren Alltag bis heute als lebendige Kraft. Reiche Saudis lassen sich Nano-Korane auf ihre Herzschrittmacher gravieren, und in Marokko kann man fromme Bärtige mit Stöpseln im Ohr sehen, die ihren MP3-Koranen lauschen.
"Für mich ist der Koran mittlerweile etwas ganz Gewohntes. Ich bin während meiner frühen Studienzeit, einer Zeit wo man besonders empfänglich ist für Faszinosa, in Jerusalem mit den Ausdrucksformen der drei monotheistischen Religionen in Kontakt gekommen, und seitdem fasziniert mich tatsächlich auch das Verhältnis des Koran zu den anderen beiden Rezitationstraditionen sehr stark. Inzwischen ist es zu einem Muss geworden, die irrtümlichen Wahrnehmungen des Koran sachte zu korrigieren." (Angelika Neuwirth)
In seiner berühmt-berüchtigten Regensburger Rede hat sich der damalige Papst Benedikt am 12. September 2006 auf den byzantinischen Kaiser Emanuel Paläologos den II. bezogen: Der Islam habe "außer Blutvergießen nichts Neues gebracht". Ein Ausspruch, wohl im Jahre 1391 getan, ist noch heute in den Köpfen wirksam.
Die Preisträgerin Angelika Neuwirth steht in einer Bibliothek der FU Berlin vor dicht gefüllten Bücherregalen.
Die Arabistin Angelika Neuwirth© picture-alliance / dpa / Privat
"Der erste, der eine Barriere gebaut hat vor den Koran, und seine Rezeption verhindert hat, ist ein alter Kirchenvater, nämlich Johannes von Damaskus- Uu behaupten, die anderen – in dem Fall die Muslime – seinen nicht in der Lage, die Bibel richtig zu lesen, der Koran habe ein sehr primitives Verhältnis zu den biblischen Schriften – das ist eine Unterstellung, die - wenn man den Koran kennt - absolut unhaltbar ist, aber sie hat sich gehalten." (Angelika Neuwirth)
Dabei will der Koran nach Aussage der mekkanischen Suren gar nichts Neues bringen. Vielmehr kleidet er bereits Verkündetes in eine neue Sprache. Der Koran ist Korrektur und zugleich Bestätigung dessen, was vor ihm war. Anders als seine Verächter liest Neuwirth den Koran als ein Dokument jenes Zeitraums, den wir heute als "Spätantike" bezeichnen – ein vielstimmiges Umfeld aus jüdischen Rabbinern und syrischen Christen, Manichäern und Neuplatonikern.
Neuwirth sieht den Koran als komplexen, intellektuell wie literarisch herausragenden und herausfordernden Text. Seine rhetorische Struktur, seine historische Vielschichtigkeit, sein Anspielungsreichtum sieht sie auf Augenhöhe mit den heiligen Schriften des Judentums wie des Christentums. Dabei wird der Koran weniger "hagiographisch" als "religionsgeschichtlich" gelesen. Ihr auf achtzehn Jahre angelegtes Forschungsprojekt "Corpus Coranicum" will die Entstehungs- oder besser Ereignisgeschichte des Korans möglichst detailgetreu rekonstruieren. Der Koran, als Mitschrift eines Dialogs verstanden, zwischen dem Verkünder – Mohammad – und seinen ersten Zuhörern.
Hamed Abdel-Samad (l.), deutsch-ägyptischer Politologe und Publizist und Mouhanad Khorchide (r.), Professor für Islamische Religionspädagogik an der Universität Münster.
Hamed Abdel-Samad (l.), deutsch-ägyptischer Politologe und Publizist und Mouhanad Khorchide (r.), Professor für Islamische Religionspädagogik an der Universität Münster.© dpa / picture alliance
"Ich erinnere immer wieder, dass der Koran selber, 113 von 114 Suren mit dieser Formel beginnen: Im Namen des Barmherzigen, des Erbarmers, als würde der Koran selber nahelegen, bevor man anfängt zu lesen diese Brille der Barmherzigkeit aufzusetzen und durch diese Brille den Koran auch zu lesen." (Mouhanad Khorchide)
Mohanad Khorchide bekämpft ein Koran-Verständnis, das die Gläubigen entmündigt und ihre "persönliche Beziehung zu Gott beschädigt". Manchem konservativen Muslim gehen diese Freiheiten des Geschöpfs gegenüber seinem Schöpfer zu weit. Andere wiederum finden es verharmlosend, wie Khorchide unter der Zentralperspektive der Barmherzigkeit die Gewaltpassagen des Koran relativiert. Wie der Islamkritiker Abdel-Samad, der in seinem Buch "Der Koran" den Islam insgesamt religionskritisch beleuchtet.
"Der Prophet taugt einfach nicht für das politische Handeln unserer Zeit. In einer Hadith mahnte Mohamed seine Gefährten: "Die wahrhafteste Mitteilung ist das Buch Allahs, und die beste Leitung ist die Leitung Mohameds. Das schlechteste der Dinge sind die Neuerungen, jede Neuerung ist Ketzerei. Auch der Begriff ibda’a, Innovation oder Kreativität, leitet sich aus dem Begriff bid’a für Ketzerei oder Häresie ab. Offensichtlich wollte Mohamed eben nicht, dass die nachfolgenden Generationen ihre eigenen Wege gehen." (Abdel-Samad)
Es sind korankritische Töne wie diese, die Autoren wie Hamed Abdel-Samad auch zu Helden deutscher Islamhasser machen.
"Alle unsere heiligen Texte, ich erinnere auch an das Alte Testament, geben Grundlagen her, wenn man böswillig sein wollte, daraus Gewaltlegitimation herauszulesen. Der Koran in der 9. Sure gerade gibt das her, an zwei, drei Stellen. "Tötet, bis der Islam die Religion ist", usw. Die berühmteste Stelle, die immer wieder vorkommt, 2 Sure Vers 191, wo es heißt: Tötet sie, wo immer ihr sie findet. Aber 190, der Vers davor, da kann man nachlesen, worum es geht: Kämpft gegen die, die gegen euch kämpfen. Und im selben Vers wird erinnert: Wenn sie aber aufhören, hört auch auf! Gott ist Allverzeihend allbarmherzig. (Das ist) keine Legitimation für Gewalt, sondern im Gegenteil: eine Einschränkung." (Mouhanad Khorchide)
Koran-Stories
Der Imam Husamuddin Meyer ist Mitglied Kompetenz-Team "muslimische Gefängnisseelsorge".
Der Imam Husamuddin Meyer ist Mitglied Kompetenz-Team "muslimische Gefängnisseelsorge".© Foto: Axel Kirchhoff
  • Hadayatullah Hübsch: "Ich kurbelte das Fenster runter. Luft, Kühlung, Erbarmen. Und ich wusste, ich hatte keinen Halt. Ich hatte Angst, Angst, Angst. Wo war der Anfang, das Licht, der Weg, was tun? Da sagte ich: Halt an, ich muss hier raus, laufen, ich ersticke in dieser Hitze. Ich riss mir Hemd und Hose vom Leib, nur diesen Rosenkranz mit dem Bildnis des Gekreuzigten wollte ich anbehalten. Und ich lief die heiße Landstraße entlang, nackt und weit weg von alten teuflischen Einflüsterungen, hin zu Gott. Und ich stöhnte und war am Ende, und sagte plötzlich hinein in diese arabische Luft: Oh Allah, bitte reinige mich!" In seinem Buch "Fanatische Krieger im Namens Allahs" versuchte Hadayatullah Hübsch, den Koran gegen die Leseart der hasserfüllten Terroristen des 11. September 2001 zu verteidigen. Heute ist Khola Maryam Hübsch selbst eine namhafte Autorin. Eine wichtige Stimme in den Debatten darum, inwieweit der Islam in Deutschland heimisch werden kann.
  • Cat Stevens: Es war im Jahre 1977, als Cat Stevens bei einem Bad im Pazifik vor der Küstenstadt Malibu nach einem Stoßgebet und nur dank einer Welle im letzten Augenblick vor dem Ertrinken errettet wurde. Und es war ein Koran aus der Hand seines Bruders, der ihm die Augen dafür öffnete, wem er dafür zu danken hatte: nämlich Allah. "Ich sagte, Gott, wenn Du mich aus dieser Situation rettest, werde ich dir mein Leben widmen. Da plötzlich kam eine Welle, sie erfasste mich und mit ihrer Hilfe konnte ich wieder zum Strand zurückschwimmen – und mit der Hilfe des Korans." Die Faszination, die das Nachtleben und die Jagd nach Vergnügung und Zerstreuung ausüben, hat Cat Stevens von Kindheit an miterlebt. Durch seine Konversion wird aus dem berühmten Softrocker und Mädchenschwarm ein muslimischer Hardliner und Glaubenseiferer, der – einer Weisung des islamischen Rechtsgelehrten Al-Ghazali aus dem Jahre 1111 gehorchend – die Gitarre an den Nagel hängt und jeder Musik, insbesondere der von Saiteninstrumenten begleiteten – abschwört. Er wählt den Namen Yusuf. Der "Mann, der einmal Cat Stevens war", ist heute kein Hardliner mehr. Stark betroffen vom Ansehensverlust seines geliebten Islam nach dem Anschlag auf das World-Trade Center am 11. September 2001 hat sich Yusuf der mystischen Strömung des Islam zugewandt, Jahr für Jahr besuchte er auf Zypern Nazım Kıbrısi, den Großmeister des Naqschbandi-Ordens, zu dem auch Christiane Backer Zuflucht nahm. Der Sufismus ist die Spielart des Islam, die in der Musik regelrecht einen Königsweg zu Gott sieht.
  • Imam Meyer: Imam Meyer ist mit dem Vornahmen Hans Martin aufgewachsen. Nach dem Zivildienst fuhr Meyer mit dem Motorrad monatelang durch die Sahara: Tunesien, Algerien – und nach Marokko: "Und dann war ich in Marokko und bin da alleine in der Wüste rumgefahren, hab auch zum ersten Mal Todesangst gehabt: vielleicht habe ich mich verfahren, vielleicht verdurste ich, das sind so Dinge, die so einen Prozess in Gang setzen können – tatsächlich eine tiefere spirituelle Reise." Noch mehr als vom arabischen Nordafrika fühlt sich Meyer von der Lebensweise im islamischen Schwarzafrika angezogen. Acht Monate ist er mit dem Motorrad in Burkina Faso, Kongo, Tansania und Kenia unterwegs. In einer Familie im Senegal findet er jene Güte und Barmherzigkeit, die ihn bis heute unwiderstehlich zum Islam zieht. Heute ist Imam Meyer Gefängnisseelsorger in der JVA Wiesbaden. Er bemüht sich darum, zornige junge Männer durch ein vertieftes Koranverständnis gegen den Salafismus und Dschihadismus zu immunisieren. Gegenüber der hasserfüllten Ideologie des Salafismus und seiner Lehre vom "heiligen Glaubenskrieg" gegen die Ungläubigen hält Meyer den Sufismus gewissermaßen für so etwas wie ein Gegengift. Meyer trägt den Turban und das Gewand des Naqschbandi-Ordens, und den muslimischen Namen Hossamuddin, das heißt, "der, der die Geister unterscheiden kann wie ein scharfes Schwert". Verliehen hat ihm den muslimischen Namen Scheik Nazım Kıbrısi. Bis zu seinem Tod 2012 zog er Pilger aus der ganzen Welt an. In seiner Gemeinschaft genoss er dieselbe herausragende Stellung wie der Prophet in seinem Volk.
Die Mystik im Koran
Die Entstehung des Mevlevi-Derwisch-Orden geht auf Dschalaluddin Rumi zurück. Hier eine Illustration mit tanzenden Derwischen aus dem 17. Jahrhundert.
Die Entstehung des Mevlevi-Derwisch-Orden geht auf Dschalaluddin Rumi zurück. Hier eine Illustration mit tanzenden Derwischen aus dem 17. Jahrhundert.© Imago/United Archives International
"Der Sufismus gewinnt seine Inspiration aus dem göttlichen Wort, wie es im Koran geoffenbart wird. Für jeden Muslim, und ganz besonders für die Mystiker, war der Koran das "einzigartige Lexikon, das grundlegende Textbuch". Die Worte des Korans haben den Eckstein für alle mystischen Lehren gebildet. Die Mystiker haben eine entscheidende Rolle in der Entwicklung der koranischen Wissenschaften gespielt; ihre hermeneutischen Methoden reichen von einfacher wörtlicher Interpretation zu symbolischer und allegorischer Exegese, ohne jedoch den Wert des äußeren Sinnes der koranischen Worte zu leugnen." (Annemarie Schimmel: "Mystische Dimensionen des Islam")
Die Sufis wähnen sich ganz in der Tradition des Koran - und seines Verkünders. Aussprüche wie "Sterbt, bevor ihr sterbt", die Mohammed zugeschrieben werden, lassen den Religionsstifter in den Augen der Mystiker auch als Mystiker erscheinen. Mehr noch, als Vater aller Mystik. Mohammed wird als erstes Glied in der geistigen Kette des Sufismus interpretiert, als schönstes Beispiel, als idealer Führer. Denn wie er als Analphabet den Koran empfangen haben soll, als leeres Gefäß, ganz ohne sein Zutun, so wollen sich auch die Mystiker entleeren und Gottes Offenbarungen empfangen.
"Die gesamte mystische Tradition, der berühmte Rumi, sein Werk hat den Titel "Persischer Koran". Weil er eigentlich alles koranische in einer völlig anderen Sprache wieder vermittelt: in persischer Poesie. Jedes Werk islamisch-mystischer Prägung ist Zwiesprache mit dem Koran. Von seinem ersten Wort seines Opus Magnum von Rumi bis zum letzten Wort ist das eine Anspielung auf den Koran." (Milad Karimi)
Dschellaledin Rumi hat über die äußere und die innere Dimension des Korans geschrieben: Das "Mathnawi", das Hauptwerk Maulana Dschelaleddin Rumis, gehört zu den wichtigsten Werken innerhalb der sufischen Tradition. Es beginnt mit dem berühmten Klagelied der Ney – dem Motiv des Trennungsschmerzes von Gott, für das er in seinem dichterischen Werk unzählige Variationen gefunden hat.
Tanzende Derwische in Istanbul
Tanzende Derwische in Istanbul.© AP
"Hör auf der Flöte Lied, wie es erzählt / Und wie es klagt, vom Trennungsschmerz gequält: Seit man mich aus der Heimat Röhricht schnitt / weint alle Welt bei meinen Klagen mit. Die Flöte ist der Freund all derer, die von ihrem Freund getrennt; die Flötentöne sind aus Wind nicht, sind aus Feuer, die Melodien zerreißen alle Schleier. O meine Freunde, hört: dies ist in Wahrheit unser Wesen."
Für Sufis ist ein Augenblick der wahren Gotteserkenntnis mehr wert als ein ganzes Leben bloßer religiöser Pflichterfüllung. Dazu praktizieren Sufis eine tiefere, allegorische, manchmal beinahe spekulative Lesart des Korans. Die Lehre vom idschaz, der Schönheit und Vollkommenheit der Koranischen Sprache, ist ein Topos in der islamischen und besonders in der mystischen Tradition. Nicht nur in der inhaltlichen Botschaft, sondern gerade in der formalen Unübertrefflichkeit des Korans sieht man auch einen Beweis für die Echtheit der Offenbarung.
"Der Koran ist durch und durch poetisch. Aber keine Lyrik. Der Koran ist kein Gedicht. Aber gedichtet. Im arabischen Kontext gibt es ganz klare Definitionen, was ein Gedicht ist, wie es aufgebaut sein muss. Der Koran ist etwas anderes, der passt sozusagen in kein Gefäß, der Koran lässt sich nicht einfangen. Dennoch ist die ganze Stimmung lyrisch." (Milad Karimi)
In der deutschen Orientalistik galt die Lehre von der "einzigartigen Schönheit" des Korans lange als Kuriosum, was auch der sprachlichen Sprödigkeit der ersten Koran-Übersetzungen liegen mag. Am ehesten ließ noch die bruchstückhafte Übertragung des Dichter-Orientalisten Friedrich Rückert seine ästhetische Faszination im Deutschen nachempfinden. Zum Beispiel in der Schwurserie aus der hundertsten Sure:

"Bei den schnaubend Jagenden,
Mit Hufschlag Funken schlagenden,
Den Morgenangriff Wagenden,
Die Staub aufwühlen mit dem Tritte
Und dringen in des Heeres Mitte!
Ja, der Mensch ist gegen Gott voll Trutz,
Was er sich bezeugen muß
Und liebet heftig seinen Nutz.
O weiß er nicht, wann das im Grab wird aufgeweckt,
und das im Busen aufgedeckt,
dass nichts vor ihrem Herrn dann bleibt versteckt?"

Wenn es um den ästhetischen Charakter des Korans geht, gerät Karimi ins Schwärmen. Über Gewalt und Zartheit, Klage und Hymnen, Zwischentöne, Atempausen. Auch er selbst hat sich an einer Koran-Übersetzung versucht. Die entstand wesentlich vom Hören her. Mit jeder klanglichen Einheit klopfte er auf den Tisch, zählte die Hebungen, verglich sie mit dem Arabischen. Tagelang konnte ihn ein einfaches Wort wie "Nacht" beschäftigen. Weil "Nacht" eher dunkel klingt, fast hart und bedrohlich. Während das arabische Wort "leil" zerbrechlich, nahezu sehsüchtig wirkt.
Natürlich haben Erzählungen wie diese auch einen wichtigen apologetischen Zweck. So wird die Koranrezitation auch zum wichtigsten Mittel der Missionierung. Während häufig politische, weltanschauliche, oder sogar militärische Gründe für die Ausbreitung des Islam verantwortlich gemacht werden, würden Muslime als Ursache dafür immer die Unwiderstehlichkeit des Koran an erster Stelle nennen, seine Schönheit, Anmut und Süße.
Sufis gibt es in Ägypten wie in der Türkei, in Marokko oder Pakistan. Navid Kermani hat in seinem Reportagen-Band "Ausnahmezustand" von 2013 die große Lebenskraft dieser immer wieder angefochtenen, doch machtvollen Unterströmung des Islam eingefangen. Gerade im Grenzland zwischen Indien, Afghanistan und Pakistan haben sufische Wanderderwische auch starke, eigene Musiktraditionen hervorgebracht, wie den "Qawwali", einen Gesangsstil, der aus der homophonen Rezitation der Gottesnamen besteht. Die gottesdienstlichen Aufführungen des Qawwali finden traditionell an Sufi-Schreinen statt. Doch der pakistanische Sänger Nursrat Fateh Ali Kahn hat diese Spielart des Sufi-Gesangs auch im Westen bekannt gemacht.
Während in Saudi-Arabien die Wahabiten schon seit Jahrzehnten die Sufi-Schreine konsequent zerstören, und im Iran unter Präsident Ahmadinedschad regelrechte Sufi-Verfolgungen stattfanden, sind es heute in Afghanistan und Pakistan die Taliban, die Krieg führen gegen die mystische Schrein-Kultur. Es ist ein Krieg gegen das Herzstück der eigenen Kultur. Dabei hat Stefan Weidner in einem Artikel für die Süddeutsche Zeitung am 6. August 2016 darauf hingewiesen, dass Sufismus nicht immer jedem Fundamentalismus widerspricht.
"Vom Anfang des 18. bis weit ins 20. Jahrhundert genoss die islamische Kultur einen ansehnlichen Ruf. Davon ist kaum etwas übrig geblieben. Allein der Sufismus, also die islamische Mystik, scheint noch davon zu zehren. Aber das Bild der islamischen Mystik als Gegner von Salafismus und Orthodoxie stellt sich komplexer dar. So soll der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan gemeinsam mit seinem ehemaligen Weggefährten Fethullah Gülen eine Zeit lang den im türkischsprachigen Teil Zyperns wirkenden Sufi-Meister des Naqschbandia-Ordens, Scheich Nazim, frequentiert haben. Scheich Nazim, so wird kolportiert, habe Erdoğans neuosmanische Visionen jedoch nicht teilen wollen, sodass sich ihre Wege bald trennten. Ein Sufi-Orden ist keine sich von der Welt abschließende Gemeinschaft wie ein christlicher Mönchsorden. Den Sufi-Orden kommt eine wichtige gesellschaftspolitische Funktion zu."
Wäre der Feuilleton-Sufismus also nichts, als eine Projektion der eigenen Sehnsüchte? Und das Koran-Verständnis der Sufis mit ihr? Kann man den Koran – vermittelt über die kreativ-Lektüren von Sufis und persischen Dichtern - nicht tatsächlich auch vollkommen zu Recht als modernen, poetischen Text ansehen? Je mehr der Koran als literarisches Werk gewürdigt wird, desto offener wäre er damit wiederum auch für Interpretationen. Stefan Weidner:
"Man erkennt die Modernität des Korans insofern, als der Koran ein hermetischer Text ist, als ein hermetischer, das heißt schwieriger, deutungsoffener Text begegnet. Man kann den Koran sogar als Hypertext lesen, als Text, der immer auf etwas anderes verweist, nie stehen bleibt, immer springt, aber das ist überspitzt. Für die moderne arabische Lyrik ist wichtig, dass er sich nicht an eine vorgegebene Konvention hält, wie etwa die traditionelle arabische Lyrik."
Mit Angelika Neuwirth hat ein neues historisch-kritisches Koranverständnis Einzug gehalten. Stefan Weidner und Navid Kermani würdigen ihn als literarischen Text. Mouhanad Khorchide interpretiert den Koran als Einladung zur Barmherzigkeit. Und Menschen wie Hadayatullah Hübsch, seine Tochter Khola Maryam Hübsch oder der Wiesbadener Imam Houssamedin Meyer leben es vor, was es heißt, wenn der Koran zum Lebensmittelpunkt wird. Damit wird der Koran zu einem Teil der europäischen Kulturgeschichte. Und zum Corpus Delicti für die Aussage, dass der Islam zu Deutschland gehört: Der Koran ist in Deutschland angekommen, und auch in der westlichen Populärkultur.
"Es ist Nacht. Alles Leben ruht. So scheint es. Ein Mann wird von Unruhe ergriffen. Er betritt leise die dunkle Garage. Hinter ihm herrscht Dunkelheit. Er kehrt den Boden, versucht eine Lampe zum Leuchten zu bringen, vergeblich. Kein künstliches Licht erhellt den Raum. So lässt er aus einer Nische des Garagentores Licht hineindringen in die Finsternis, die ihn umgreift. Wasser fließt über seine Hände, die einander berühren, als wollten sie eine Lotusblume versinnbildlichen. Er legt ein Stück Teppich auf den Boden, stellt sich voller Anmut aufrecht und eröffnet mit klarer Stimme das Gebet. Es ist die erste Sure des Korans, die erklingt. Und der Atem steht still."

Produktion dieser Langen Nacht:
Autor: Dr. Manuel Gogos; Redaktion: Dr. Monika Künzel; Regie: Claudia Mützelfeldt; Sprecher: Barbara Stoll, Jonas Baeck, Josef Tratnik, Edda Fischer; Webproduktion: Jörg Stroisch

Über den Autor Manuel Gogos:
Dr. Manuel Gogos ist freier Autor und Ausstellungsmacher. Seine Arbeiten bewegen sich zwischen wissenschaftlicher Essayistik, Hörbildern und Bildsprachen. Infos: www.geistige-gastarbeit.de