Essener Projekt gegen Corona-Folgen

Mit viel Bewegung gegen Lockdown-Defizite

08:37 Minuten
Ein Kind fährt in der untergehenden Sonne Roller.
Das spielerische Bewegen ist für Kinder unglaublich wichtig - es gibt ihnen unter anderem Selbstvertrauen. © dpa / Mascha Brichta
Von Vivien Leue · 22.06.2021
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Langsam beginnt das normale Leben wieder, auch für Kinder und Jugendliche. Doch viele kommen übergewichtig und mit Koordinations- und Konditionsproblemen aus dem Lockdown. Im Ruhrgebiet steuern Schulen und Vereine dagegen an.
Frank Striewe ist Trainer, Jugendwart und Vorsitzender des Essener Fußballvereins BV Altenessen – ehrenamtlich. Im Hauptberuf ist der 51-Jährige Wirtschaftsprofessor an der FH Münster. Jetzt, nachdem die Vereine aufgrund der Coronamaßnahmen monatelang geschlossen waren, müssten die Kinder noch mehr als zuvor wieder an die Regeln des Trainings – und an den Sport – gewöhnt werden, sagt er. Bei der Ausdauer und der Konzentration gebe es große Probleme:

Übergewicht, Konditions- und Konzentrationsschwäche

"Wir sind hier ein Stadtteil, der immer gerne als Brennpunkt bezeichnet wird, den ich aber überhaupt nicht so sehe."
Wie bei vielen Kindern heute, hätten auch seine Eltern ihn in Kindertagen nicht zum Training gebracht. Wichtig sei, dass es Anlaufpunkte und Strukturen gebe, die die Familien unterstützten. Orte wie den BV Altenessen zum Beispiel.
Dass diese Orte seit Beginn der Corona-Pandemie monatelang geschlossen waren, sei fatal, sagt Striewe. Die offensichtlichen Folgen zeigten sich jetzt auf dem Platz: Übergewicht, Konditions- und Konzentrationsschwäche. Was die Isolation, die Sorgen und Ängste allerdings im Inneren der Kinder verändert haben, werde sich wohl erst nach und nach zeigen.
Es bräuchte in jedem Fall langfristige Projekte und Unterstützung, meinen Striewe und mehr als ein Dutzend anderer Akteure aus dem Essener Norden. Sie haben eine Petition gestartet: "Bewegung tut Not!", heißt sie.
Sie solle darauf aufmerksam machen, "dass es uns auch jetzt nicht hilft, wenn man mal hier ein Milliönchen und da ein Milliönchen reinsteckt, sondern dass das strukturelle Probleme sind, die wir angehen müssen", erklärt Frank Striewe.

Statt Training und Schule monatelang Langeweile

Unterschrieben hat auch der Leiter der Hövel-Grundschule, Felix Busch. Auch er sagt: "Wir beobachten, dass viele Kinder einfach massive Schwierigkeiten haben im Bereich der Motorik, im Bereich der Kondition. Wir sehen Gewichtszunahmen. Wir haben eine Schülerschaft, die in ihrem privaten Umfeld nicht die Möglichkeiten hat, wie es sie vielleicht an anderen Schulen und in anderen Stadtbezirken gibt."
Kleine Wohnungen für große Familien, der nächste Park oder größere Spielplatz weit entfernt. Dazu Eltern, die manchmal zwei Jobs haben, um irgendwie über die Runden zu kommen.
Statt Training und Schule hatten die Kinder monatelang Langeweile. So haben viele, auch die Kleinsten, häufig am Handy gespielt oder andere Medien konsumiert. Nun können sie sich kaum zehn Minuten am Stück konzentrieren und sind auch konditionell schnell am Ende.
Einige Kinder seien im Unterricht eingeschlafen. Sie seien im Moment nicht wirklich aufnahmefähig für Lernangebote. Deshalb gibt es Bewegungsangebote.
Auf dem Schulhof sind drei Spiele-Stationen aufgebaut, jede wird von einem Sportstudenten betreut. Einmal pro Woche kommt das Spielzeitmobil vom "Verein Integration durch Sport und Bildung" an die Hövelschule.
Das sei "eine erste kleine Aktion, die Defizite, die die Kinder jetzt im Lockdown leider mitbekommen haben, wieder aufzuholen", so Schulleiter Felix Busch.
Chef des Spielzeitmobils und des dahinterstehenden Vereins ist Ulf Gebken, Professor für Sportsoziologie an der Uni Duisburg-Essen. Seit Jahren engagiert er sich in den benachteiligten Bezirken des Ruhrgebiets für die Kinder und Jugendlichen. Er hat die Petition ins Leben gerufen. "Nachhaltig heißt, nicht nächste Woche aufhören, weil das Projekt irgendwie um ist", sagt Gebken.

Mehr Selbstwertgefühl durch Bewegung

Die Landesregierung in Nordrhein-Westfalen hat 36 Millionen Euro zur Verfügung gestellt, um Kindern wieder den Anschluss zu ermöglichen: schulisch, aber auch sozial. Viel Geld fließt in Ferienprogramme, die nicht nur Englisch und Mathe, sondern auch Sport und Spiel auf dem Programm haben.
Für Kinder aus prekären Verhältnissen reicht das aber nicht, sagt Ulf Gebken. Sie brauchen länger Unterstützung, vielleicht jahrelang – aber bisher fehlte dafür zu häufig das Geld. Die Finanzierung des Spielzeitmobils zum Beispiel übernehmen größtenteils Stiftungen.
"Die Forschung weiß, dass vor allen Dingen Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen sehr stark über Bewegung erreicht wird. Wenn Kinder etwas können – und das können sie – jedes Kind hat Bewegungstalente, dann können sie Anerkennung und Wertschätzung bekommen."
Dem stimmt der Vereinsvorsitzende und Hochschulprofessor Frank Striewe zu. Vor allem deshalb widmet er einen Großteil seiner Freizeit diesem Ehrenamt. Striewe hofft, dass er damit auch ein bisschen helfen kann, die Folgen der Corona-Pandemie zu lindern.
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