Esskultur
Auch seit Jahren ein Foodtrend: Dim Sum, chinesische Teigtaschen. © picture alliance / dpa / HPIC / Stringer
Du bist, was du isst: Essen und Identität

Kulinarische Vorlieben sind für immer mehr Menschen ein Ausdruck ihrer Persönlichkeit. Ob es um Herkunft, Achtsamkeit, Umwelt oder Politik geht: All das spiegelt sich in der individuellen Esskultur wider. Und sorgt manchmal für Konflikte.
Jenseits der schnöden Nahrungsaufnahme ist Essen Ausdruck von Identität, von Traditionen, Werten und Zugehörigkeit. Rezepte aus der Familie oder der Heimatregion, bestimmte kulinarische Rituale, aber auch die Vermeidung bestimmter Nahrungsmittel: Die individuelle Esskultur ist heute Ausdruck der Wahrnehmung von sich selbst und von anderen. Darum kann Essen auch polarisieren.
Migration und ihre kulinarischen Spuren
Zwischen 1955 und 1973 kamen rund 14 Millionen Menschen als sogenannte „Gastarbeiter“ nach Deutschland. Spaghetti und Espresso aus Italien, Pita aus der Türkei, Zaziki aus Griechenland und Cevapcici aus Jugoslawien fanden ihren Weg in die deutsche Gastro-Szene. In der Folge änderten sich die Essgewohnheiten der Deutschen grundlegend.
Für viele Menschen mit Migrationshintergrund bedeutet Essen eine wichtige Verbindung zu ihren Ursprüngen, selbst für die zweite und dritte Generation. Der vertraute Geschmack ist ein Stück Heimat, auch für die in Peking geborene Berlinerin Sissi Chen, die mit sieben Jahren ihre Heimat verließ und seit einigen Jahren den erfolgreichen Instagram-Kanal Eating in Berlin betreibt, auf dem sie die besten asiatischen Restaurants Berlins vorstellt.
Heimat geht durch den Magen
Chens Eltern machten nach der Auswanderung einen kulturellen Cut und wollten sich schnellstmöglich assimilieren. Als Chen mit Mitte 20 begann, sich mit ihren chinesischen Wurzeln auseinanderzusetzen, fand sie den Zugang nicht über die Sprache, die sie nicht mehr gut beherrschte, sondern über das Essen. „Ich kann über das Essen und meine Erinnerungen mehr über mich und meine Kultur und meine Wurzeln lernen“, sagt sie. 2024 veröffentlichte Sissi Chen ihr erstes Kochbuch mit dem Titel „Einfach chinesisch: Rezepte für jeden Tag“.
Die Kulturwissenschaftlerin Meryem Choukri, Mitherausgeberin des Buchs „Biting Back – Essen, Diaspora, Widerstand“ sagt: „Essen ist etwas, was viel Geschichte transportiert. Und gerade, wenn Personen zwischen zwei, drei oder mehr Kulturen aufwachsen, dann ist es oft so, dass selbst wenn die Sprache nicht weitergegeben wird aus unterschiedlichen Gründen, so was wie Musik oder Essen trotzdem bleiben.“
Kulinarische Abgrenzung und kulturelle Aneignung
Die Koch-Kolumnistin Sissi Chen isst gerne „Ente kross“, obwohl es dieses Gericht in der Heimat ihrer Eltern gar nicht gibt. Überhaupt: Die als Fusion bezeichnete Vermischung verschiedener traditioneller Küchen und die Neukreationen, die dank der Globalisierung daraus entstehen, sind für sie ein spannender Prozess.
Allein in den letzten Jahren waren es erst Burger und Bowls in sämtlichen Varianten, dann wurden Ramensuppen, Donuts oder Bubble Tea zu Foodtrends. Der Kichererbsen-Dip Hummus steht in allen Supermarktregalen. Wo Hypes sind, ist die Kommerzialisierung nicht weit: Allein Hummus gibt es inzwischen mit Mango-, Rote-Beete-, oder Guacamole-Geschmack. Hummus-Puristen gefiel diese Entwicklung nicht: Unter dem Hashtag #leavehummusalone entbrannte vor wenigen Jahren eine Debatte zu dem Thema, ob das, was da verkauft wird, überhaupt noch Hummus genannt werden darf. Nach Mode, Musik und Kunst hatte die Debatte um kulturelle Aneignung auch die Kulinarik erreicht.
Authentizität vs. Ausbeutung
Darf ein US-amerikanischer Koch mexikanische Tacos anbieten oder ein deutscher Hersteller Hummus mit getrockneten Tomaten mischen? Der Ethnologe Sebastian Schellhaas findet Fusion und Neukreation grundsätzlich in Ordnung und hält die Unterscheidbarkeit zwischen authentischem und unauthentischem Essen oft für konstruiert: „Wir nehmen an, dass es da so einen Wesenskern gibt. Das ist natürlich Quatsch, weil Küchen schon immer in Veränderungen waren und auch immer in Veränderungen bleiben werden.“
Ähnlich sieht es die Kulturwissenschaftlerin Meryem Choukri. Für sie beginnen die Probleme dann, wenn sich über Essen gesellschaftliche Ungleichheiten und Machtverhältnisse transportieren, wo „sowohl das Wissen abgeschöpft wird als auch die finanziellen Ressourcen in andere Taschen fließen.“
Auch Sissi Chen freut sich zwar über die neue Vielfalt, die fremde Länder wie China gastronomisch inzwischen zeigen dürfen. Sie findet es aber bedenklich, wenn die Herkunft eines Gerichts gar nicht mehr auftaucht, „wenn man so tut, als hätte man was Neues erfunden.“ Als Beispiel nennt sie das japanische Dessert Motchi, ein aktuelles Trendfood: „Wie viele Start-ups es gibt, die mittlerweile Motchi machen, aber in keiner Art und Weise erwähnen, dass es Jahrtausende Kultur zum Beispiel in Japan hat.“
Essen und Selbstvergewisserung
„Der Mensch ist, was er isst,“ sagte der Philosoph Ludwig Feuerbach schon im 19. Jahrhundert. Buffets bei Feiern, das gemeinsame Angrillen nach der Arbeit oder die klassische Einladung zum Abendessen sind komplizierter geworden. Die einen sehen Fleisch als Symbol für Umweltzerstörung, für andere steht Eis nicht mehr für Genuss, sondern für die Volksdroge Zucker. Auch über Avocados, Quinoa oder Baguette lässt sich wunderbar streiten. Dazu kommen gesundheitliche Themen wie Alkohol-Abstinenz, Allergien, Laktose-Intoleranz oder Gluten-Unverträglichkeit. Jeder Gast bringt ein ganzes Paket an Vorstellungen, Vorlieben, an Dos und Dont’s mit.
Der Kulturanthropologe Gunther Hirschfelder sagte dazu in einer Betrachtung: „Essen stiftet Identität und Vertrauen, die Mahlzeit ist Ort der Kommunikation, der Statusrepräsentation und der Selbstvergewisserung.“ Essen ist ein kultureller Akt geworden, der Esstisch wird zur Bühne für die eigene Weltsicht und Persönlichkeit.
Ein gemeinsames Dinner birgt also viel Konfliktpotenzial. Gunther Hirschfelder plädiert dafür, sich davon auf keinen Fall entmutigen zu lassen, sondern stattdessen Mut zur Lücke zu haben und sich zu trauen, zum Beispiel auch mal – ganz retro – Würstchen (aus Fleisch oder Soja) und Kartoffelsalat zu servieren.
pj