"Es war schon ein wichtiger Einschnitt"

Jürgen Kocka im Gespräch mit Marietta Schwarz · 06.06.2011
Der Historikerstreit habe viel für das Bewusstsein der Bundesrepublik gebracht, sagt Geschichtswissenschaftler Jürgen Kocka. Die Deutschen hätten sich zu einer "vergleichsweise ehrlichen Haltung" gegenüber "diesem Zivilisationsbruch in der deutschen Geschichte durchgerungen".
Marietta Schwarz: Heute vor 25 Jahren, also am 6. Juni 1986, erschien ein folgenreicher Text in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", und zwar die Rede des Historikers Ernst Nolte, in der er den "Roten Terror" des revolutionären Russlands und die Verbrechen der Nazis in einen ursächlichen Zusammenhang stellte und die These einer möglichen Opferrolle der Nationalsozialisten aufwarf. Die Veröffentlichung löste den sogenannten Historikerstreit aus, eine monatelange öffentliche Auseinandersetzung in Form von Artikeln, Leserbriefen, Aufsätzen. Die Gegenseite führte Jürgen Habermas mit seinem in der "Zeit" veröffentlichten Essay "Eine Art Schadensabwicklung" an. 25 Jahre später wirkt dieser Historikerstreit ja irgendwie historisch. Warum eigentlich? Dazu Fragen an den Historiker Jürgen Kocka, der seinerzeit zusammen mit Hans-Ulrich Wehler die sogenannte Bielefelder Schule gründete. Guten Morgen, Herr Kocka!

Jürgen Kocka: Guten Morgen!

Schwarz: Hat diese Debatte um die Singularität des Holocaust heute noch Aktualität, Herr Kocka?

Kocka: Es ist interessant, dass sie nach 25 Jahren erinnert wird, und immer mal wieder kommt man in der Öffentlichkeit darauf zu sprechen. Es war schon ein wichtiger Einschnitt, weniger fachwissenschaftlich – für die geschichtswissenschaftliche Forschung hat die Debatte wenig gebracht –, aber doch für das politische Bewusstsein der Republik. Denn es ging eben letztendlich um den Ort des Holocausts in der deutschen Geschichte, besser im deutschen Geschichtsbewusstsein, und um die Frage, mit welcher Offenheit und Ehrlichkeit die Deutschen sich zu dieser dunklen Seite ihrer Geschichte öffentlich bekennen sollten oder nicht. Und es ging um grundsätzliche Fragen der Geschichtspolitik, denn damals waren ja auch große Unternehmungen im Gange wie die Gründung zweier historischer Museen, des Deutschen Historischen Museums in Berlin, des Hauses für die Geschichte der Bundesrepublik in Bonn. All das war eine komplizierte, spannungsreiche Situation, die durch diese öffentliche Debatte von Historikern und Publizisten geklärt wurde.

Schwarz: Eine intensive öffentliche Auseinandersetzung mit über 1000 Veröffentlichungen insgesamt, in der sich die Fronten unvereinbar gegenüberstanden. Ist es allein das Thema Holocaust, oder – Sie haben es ja eben bereits angedeutet –, das für diese ausgedehnten Streits sorgte, oder auch dann doch die Zeit, die 80er-Jahre unter Helmut Kohl?

Kocka: Vieles kam sicher zusammen, auch Konkurrenzen zwischen den Historikern. Es entstanden Gruppen von Allianzen, von Personen, die sich im Übrigen sehr voneinander unterschieden, und es war auch eine Debatte, die sehr stark von den Medien her, ja ich will nicht sagen inszeniert, aber mit beeinflusst worden ist. Aber gleichzeitig war das die Zeit, in der Bundespräsident von Weizsäcker 1985, also schon davor, seine berühmte Rede über die Bedeutung des Jahres 1945 nicht nur als Niederlage, sondern auch als Befreiung der Deutschen gehalten hatte. Es war eine Zeit vor der Wiedervereinigung, an die damals kaum jemand dachte, in der es um das Selbstverständnis dieses westdeutschen Staates, seiner Gesellschaft – nicht als Nationalstaat verstanden – ging. Und das erklärt vielleicht mit auch die große internationale Öffentlichkeit, die große internationale Aufmerksamkeit, die diese Debatte gewann und auch auf Jüngere ausübte.

Schwarz: Eine singuläre Debatte vielleicht. Wurde denn später noch einmal so ausführlich öffentlich gestritten wie damals?

Kocka: Man vergleicht diesen sogenannten Historikerstreit bisweilen mit der großen Fritz-Fischer-Debatte um 1960, als Historiker auch in der Öffentlichkeit sehr grundsätzlich über Ursachen des Ersten Weltkriegs und Schuld der Deutschen am Ersten Weltkrieg und Kontinuität zwischen Erstem Weltkrieg und Drittem Reich debattierten. Nach dem Historikerstreit ... Nun ja, wir hatten immer wieder Streit über Goldhagens These vom besonderen Antisemitismus der Deutschen, und natürlich nach 1990 immer wieder über die DDR, über ihren Platz in der deutschen Geschichte, über Opfer und Täter, über die Vergleichbarkeit der beiden deutschen Diktaturen. Aber in dieser geballten, massiven und auch über längere Zeit sich haltenden Form sehe ich keine Debatte, die mit dem Historikerstreit danach vergleichbar gewesen wäre.

Schwarz: Haben Sie eine Erklärung dafür? Fehlt das Thema?

Kocka: Nun, einerseits sind die Streitfragen, um die es im Historikerstreit ging, entschieden worden. Die deutsche politische Kultur, wir mit unserem Selbstverständnis haben uns zu einer vergleichsweise offenen, vergleichsweise ehrlichen Haltung gegenüber diesen Untaten, diesem Zivilisationsbruch in der deutschen Geschichte durchgerungen, das ist uns gut bekommen. Die Museen, die damals gegründet wurden, wurden alles andere als Beschönigungs- und Entsorgungsanstalten, wie Habermas das seinerzeit fürchtete. Zum anderen: Die Zeit hat sich geändert, Deutschland ist wiedervereinigt, es hat dazu geführt, dass auch eine entspanntere, eine gelassenere Haltung gegenüber dem deutschen Nationalstaat Platz griff, und schließlich wird man vielleicht auch darauf hinweisen können, dass die Medien noch kurzatmiger geworden sind, als sie Mitte der 80er-Jahre waren, und deswegen von einem Thema zum nächsten Thema so schnell weiter springen und weiter treiben, dass es zu solch intensiven Debatten gar nicht mehr so recht kommen kann.

Schwarz: Der Historiker Jürgen Kocka über den Historikerstreit und seine Folgen, heute vor 25 wurde die Rede Ernst Noltes, die den Streit auslöste, in der "FAZ" veröffentlicht, und dieses Gespräch mit Herrn Kocka können Sie natürlich im Internet unter www.dradio.de nachhören. Herr Kocka, vielen Dank!

Kocka: Bitte schön!
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