„Es ist ganz klar, dass massiver Handlungsbedarf besteht“

Moderation: Liane von Billerbeck |
Die Kapitalismuskritik in Davos reihe sich ein in eine schon länger geführte Debatte, sagt Daniel Binswanger vom „Züricher Tagesspiegel“. Jedem sei klar, dass „großer wirtschaftlicher Leidensdruck“ schwere politische Folgen haben könne.
Liane von Billerbeck: Das System Kapitalismus in seiner heutigen Form passt nicht mehr in die Welt. Wenn die üblichen Verdächtigen so einen Satz sagen, dann wundert das niemanden. Wenn so ein Satz zu Beginn des Weltwirtschaftsforums Davos gesagt wird und dann noch von dessen Gründer Klaus Schwab, dann reiben sich zumindest einige die Augen. Kapitalismus kehrt marsch! Und was dann? Das ist mein Thema im Gespräch mit Daniel Binswanger, Redaktor beim „Züricher Tagesanzeiger“. Schönen guten Tag!

Daniel Binswanger: Guten Tag!

von Billerbeck: Der Kapitalismus in seiner jetzigen Form passe nicht mehr in die Welt, wie es Klaus Schwab, der Gründer des Davoser Weltwirtschaftsforums, gesagt hat. Wird da eine Gesellschaftsordnung grundlegend infrage gestellt?

Binswanger: Nun, so weit würde ich nicht gehen. Bei Davos ist ja auch immer ein guter Teil etwas rhetorisch zu interpretieren, aber es ist ja nun so, dass schon seit einiger Zeit eben auch gerade die großen Wortführer der Marktgesellschaft, also beispielsweise auch das „Wall Street Journal“ oder die „Financial Times“ nun angesichts der großen Krise – und das ist ja auch eine sehr ernste Krise – sich nun die Frage stellen müssen, wie viel Reformbedarf besteht, und Klaus Schwab stimmt nun eben in diesem Chor der selbstkritischen – ich würde einmal sagen – Kapitalismusreformer ein, ja?

von Billerbeck: Das heißt, Davos klappert so ein bisschen hinterher?

Binswanger: Ja, ich glaube, das kann man schon so sagen, nicht, also gewissermaßen den Startschuss hat Nouriel Roubini vor einiger Zeit gegeben im „Wallstreet Journal“, als er gesagt hat, Marx hatte Recht. Das war natürlich ein Statement, das einigermaßen überraschend war, Nouriel Roubini, einer der weltführenden Ökonomen, der auch seit Jahren regelmäßig am WEF [World Economic Forum] auftritt, und dann wie gesagt, wir hatten Frank Schirrmacher, nun nicht gerade ein Ökonom, aber sagen wir einmal, einer der Chefideologen des deutschen Bürgertums, der ja dann auch in dieses Horn geblasen hat. Wir haben seit einiger Zeit eine sehr intensive Debatte in der „Financial Times“. Also es ist ganz klar, wir haben ja auch die Krise, und es ist ganz klar, dass massiver Handlungsbedarf besteht, und natürlich will nun auch das WEF seinen Beitrag dazu leisten.

von Billerbeck: Nun sagen ja Umfragen, viele Umfragen, dass das Misstrauen gegenüber Unternehmern, Politikern und vor allem Bankern sehr gestiegen ist. Ist das eigentlich bei denen angekommen, oder schütteln die sich und dann geht es weiter?

Binswanger: Nein, das ist tatsächlich bei ihnen angekommen – also bei dem Teilnehmern am WEF. Es gibt dazu sehr interessante Zahlen: Jedes Jahr wird eine Studie im Vorfeld von den Organisatoren des Weltwirtschaftsforums gemacht, wo die Teilnehmer – also eben diese Banker und Wirtschaftsführer – gefragt werden, was sie für das größte aktuelle Risiko im Weltwirtschaftssystem halten. Und dieses Jahr wurde zum ersten Mal unter diesen Toprisiken die Einkommensungleichheit aufgeführt, und zwar wurde sie nicht nur aufgeführt, sondern sie wurde auch gleich noch auf den ersten Platz gesetzt. Also es hat da wirklich nun relativ plötzlich und auf neue Art und Weise sich die Einsicht durchgesetzt eben, dass es wirklich zu einem massiven Problem für die Weltwirtschaft und auch für die Elite dieser Weltwirtschaft, die sich jetzt in Davos versammelt, werden könnte, wenn einfach die Einkommensschere immer weiter und weiter auseinander geht.

von Billerbeck: Daniel Binswanger ist mein Gesprächspartner, Redaktor beim „Züricher Tagesanzeiger“. Die Zweifel am Kapitalismus auch unter Kapitalisten – unser Thema. Nun hieß ja die Formulierung, der Kapitalismus in seiner heutigen Form sei reformbedürftig. Was heißt das, in seiner heutigen Form? Schwächt man da ein bisschen ab, nimmt ein bisschen mehr Steuer von den Millionären und verteilt den Armen ein bisschen mehr nach unten, und dann geht es weiter wie gehabt?

Binswanger: Ja, das dürfte in etwa wahrscheinlich schon so der Vorstellung der Teilnehmer des WEF entsprechen. In seiner heutigen Form, dazu müsste man vielleicht etwas präziser sagen, in seinem heutigen Zustand. Also dieses Verständnis für Reformbedarf, das entspringt ja der Krise. Leitend ist dabei nicht so sehr die Vorstellung von sozialer Gerechtigkeit, sondern leitend ist dabei die Vorstellung, dass wir ein System haben müssen, das stabil ist. Und wir wissen, im Moment haben wir ein System, dem es eben an Stabilität mangelt. Und da gibt es zwei Aspekte. Es gibt einmal den rein ökonomischen Aspekt, und da ist das Stichwort Euro-Krise, Konjunkturschwäche, Arbeitslosigkeit, nicht?

Das ist allen klar, dass der Zustand, in dem die Weltwirtschaft heute ist, so nicht wird andauern können, und dass es da aus rein ökonomischen Gründen Reformbedarf gibt. Und dann gibt es natürlich auch den politischen Aspekt. Das heißt, es gibt das Problem, dass in vielen Gesellschaften, unter anderem natürlich in Südeuropa, nun der Leidensdruck so hoch zu werden droht – das Hauptproblem ist hier natürlich die Arbeitslosigkeit –, dass das System politisch nicht mehr haltbar ist. Und auch dafür besteht in Davos ein großes Bewusstsein.

Wenn Sie zurückblicken, vor genau einem Jahr ging ja der Arabische Frühling los, zeitgleich gewissermaßen mit dem Weltwirtschaftsforum vom letzten Jahr, allerdings vollkommen unabhängig. Das heißt, vor einem Jahr saßen die ganzen Leader in den Schweizer Bergen und mussten als unbeteiligte, uninformierte und auch vollkommen einflusslose Zuschauer eben zusehen, wie da plötzlich eine große tektonische Verschiebung im Machtgleichgewicht des arabischen Raumes sich vollzog, und man hat, glaube ich, diese Lektion gelernt. Man war damals vollkommen überrascht von den Zuständen und hat eben gemerkt, hier gehen ganz massive politische Umwälzungen vonstatten, die natürlich auch mit ökonomischen Faktoren etwas zu tun haben. Und wir müssen uns darauf einstellen, wir müssen sehen, dass großer wirtschaftlicher Leidensdruck eben dann auch plötzlich schwere politische Folgen haben kann.

von Billerbeck: Das heißt, ich schließe aus dem, was Sie mir sagen, dass diese ganzen Leader, wie Sie sagen, die da in Davos versammelt sind, schlicht Angst haben, dass es Aufstände geben könnte von den Unterprivilegierten, die sie selbst – also diese Weltwirtschaftsführer – dann hinwegfegen könnten?

Binswanger: Das ist ganz klar Teil der Sache. Also ich glaube nicht, dass diese vornehmlich ja westlichen Leader nun noch notgedrungenermaßen dem Arabischen Frühling feindselig gegenüber stehen würden. Da tun sich ja dann auch wieder Geschäftsmöglichkeiten auf – wenn wir an Libyen denken –, aber ja, ganz klar, das man insbesondere in Europa die Situation mit einer gewissen Sorge analysiert, ganz einfach weil man sich sagt, wenn die Wirtschaftskrise zu lange andauert, und dann die soziale Ungleichheit zu sehr zunimmt, dann bekommen wir ein politisches Problem, das ist so, ja.

von Billerbeck:Daniel Binswanger war das, der Redaktor beim Züricher „Tagesanzeiger“ war mein Gesprächspartner zum Thema Kapitalismuskritik während des Weltwirtschaftsforums in Davos. Danke Ihnen!

Binswanger: Danke!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Mehr zum Thema