"Es entsteht natürlich enormer Druck"

Lothar Schröder im Gespräch mit Katrin Heise · 06.05.2013
Digitalisierung, Handscanner, Benchmarks: Nicht nur bei Amazon werden Arbeitnehmer zunehmend mit hohen Leistungsanforderungen konfrontiert, die auf Vergleichswerten beruhen, analysiert Lothar Schröder von der Gewerkschaft Ver.di. Er fordert vernünftige Verabredungen statt Kontrolle und Druck.
Katrin Heise: Unser Thema: das Internetkaufhaus Amazon. Amazon hat, so konnten wir dieser Tage immer wieder lesen, seine Umsätze in den vergangenen fünf Jahren verdreifacht. Die Kunden und ihre Wünsche werden dank Internet immer perfekter analysiert, und die Geschwindigkeit, mit der diese Wünsche erfüllt werden, die ist rasant. Dazu müssen vor allem in den Logistikzentren alle ihr Bestes geben. Und dafür wollen sie nun auch bestens entlohnt werden. Darüber, wie das auszusehen hat, ist man sich bei der Betriebsleitung aber überhaupt nicht einig. Also droht der Arbeitskampf, Anke Petermann erklärt uns die Lage.

Heise: Und da geht es ja nicht nur um die Bezahlung, es geht auch um die Arbeitsbedingungen einer digitalen Gesellschaft. Ich bin jetzt mit Lothar Schröder verbunden vom Ver.di-Bundesvorstand, der gleichzeitig in der Enquete-Kommission Internet und Digitale Gesellschaft sitzt. Ich grüße Sie, Herr Schröder.

Lothar Schröder: Schönen guten Tag.

Heise: Die Arbeitnehmer beziehungsweise Ver.di verlangt bei Amazon die Bezahlung nach dem Tarifvertrag für Einzel- und Versandhandel. Amazon argumentiert, die Arbeit in den Versandzentralen falle in die Logistikbranche. Typische Tätigkeiten des Handels wie beispielsweise Beratung oder Kundenkontakt seien ja überhaupt nicht gegeben. Da hat das Unternehmen doch recht, oder? Wo haben Sie denn den Eindruck, dass es doch Einzelhandelstätigkeiten sind?

Schröder: Ich glaube, dass die Art und Weise, Produkte von Amazon zu kriegen, sich nicht vom Einzelhandel unterscheidet. Man ist gegenwärtig in dieser Arbeitswelt eher damit konfrontiert, dass sich Arbeitgeber gerne aussuchen, wo sie gerne ihre Tarife nach bezahlen. Und das Orientierungsmuster "so günstig wie möglich", das ist ein Leidwesen der neuen Arbeitswelt, mit dem wir gegenwärtig zu tun haben.

Heise: Aber konkret, wo Einzelhandelstätigkeiten ausgeübt werden, das ist so konkret auch nicht zu sagen?

Schröder: Na ja, Amazon ist nichts anderes als ein Versandhandel. Und da muss man sich ja die Frage stellen, warum man dann nach ganz anderen Bedingungen bezahlen soll, die aus Sicht des Arbeitgebers dann offensichtlich günstiger sind, sonst würden die diese Orientierung nicht eingehen. Ich glaube, dass Amazon wie jedes andere Unternehmen, das in dieser anders gearteten Ökonomie, die sich auf das Internet abstellt, eben soziale Verantwortung übernehmen muss und sich nicht immer das Billigste raussuchen darf.

Heise: Sie haben eben das Stichwort gesagt "sich auf das Internet bezieht" – wenn wir nämlich die konkreten Anforderungen auf Amazon-Mitarbeiter durch die digitale Gesellschaft ansprechen, fällt vor allem ja der Zeitfaktor ins Auge. Der Internetnutzer ist die schnelle Reaktion gewöhnt, und Amazon verspricht ja auch Auslieferung innerhalb von 24 Stunden. Was bedeutet das konkret für die Arbeitnehmer?

Schröder: Das bedeutet konkret, dass man mit Leistungsanforderungen konfrontiert wird, wo hochgerechnet wird, in welcher Zeiteinheit man was zusammenstellt – das sind Bedingungen, bei denen man sich an vermeintlichen Benchmarks orientiert, die aber allesamt darauf abstellen, immer stärker Druck auf Arbeitnehmer auszumachen. Dort, wo wir in der Vergangenheit eher in so einem industriegesellschaftlichen Arbeitsregime Bedingungen hatte, bei der man für eine bestimmte Zeiteinheit einen bestimmten Lohn gekriegt hat, versuchen Arbeitgeber heute immer mehr, ergebnisorientierte Arbeitsformen durchzusetzen.

Heise: Berichten wir mal über den Handscanner, der eingeführt wurde, mit dem die – Picker nennt man die –, also die Arbeiter, die die Waren aus den Regalen holen, denen wird durch diesen Handscanner angezeigt, ob sie ihr Arbeitssoll erfüllen. Der Handscanner hat so eine Art Countdown, also die Sekunden bis zum nächsten Pick werden dann runtergezählt. Das heißt, das sind Zustände, die einen unglaublichen Druck auf den Arbeitnehmer ausüben und auch sollen.

"Der gläserne Arbeitnehmer scheint Realität zu werden"
Schröder: Das ist korrekt. Es entsteht natürlich enormer Druck. Arbeit wird transparent, indem weit über das, was wir in der Vergangenheit als sinnliche Wahrnehmung der Vorgesetzten kannten, Arbeitsvorgänge im Einzelnen durchleuchtet und festgehalten werden können. Und das Netz, in dem das Ganze gespeichert wird, vergisst ja nichts. Da steht zusätzlich ein Anpassungsdruck so für Arbeitnehmer, weil man elektronisch kontrolliert wird. Das, was wir noch vor 20 Jahren als "gläserner Arbeitnehmer" befürchtet haben, scheint dort Realität zu werden.

Heise: Das heißt, nicht nur das Tempo hat angezogen, sondern die Kontrolle ist noch viel lückenloser geworden, auch nicht mehr irgendwie zu umgehen. Sind das generelle – ich meine jetzt, über Amazon auch hinaus – generelle Effekte von, sage ich mal, Digitalisierung auf dem Arbeitsmarkt?

Schröder: Dann, wenn man sie laufen lässt. Ich glaube, dass man dem gegensteuern kann, wenn man innerhalb der Betriebe zu vernünftigen Verabredungen kommt. Ich glaube nicht, dass Arbeitnehmer am besten dann arbeiten, wenn sie am meisten kontrolliert werden und elektronisch am meisten über sie erfasst wird. Da ist die Frage nach Führung gefragt, und nicht nach Druck und Kontrollmechanismen, wie sie dort offensichtlich bei Amazon praktiziert werden. Das ist aber ein Phänomen, das sich vielleicht bei Amazon kristallisiert, wir aber auch in anderen Bereichen der Wirtschaft immer häufiger sehen, dass man versucht, elektronische Kontrolle aufzubauen.

Heise: Mit Lothar Schröder, bei Ver.di Experte für digitale Arbeit, spreche ich über die Auswirkungen der Digitalisierung auf die Arbeitswelt. Herr Schröder, jetzt droht, bei Amazon auf jeden Fall, der Arbeitskampf. Welche Möglichkeiten hat denn die Gewerkschaft? Wie stellen Sie sich generell auf die Auswirkungen der Digitalisierung ein, die wir jetzt besprochen haben?

Schröder: Na ja, wir versuchen, den ergebnisorientierten Arbeitsformen Grenzen zu setzen, indem variable Systeme zivilisiert werden. Derartige Verabredungen machen wir. Wir versuchen, in verschiedenen Branchen, beispielsweise jetzt auch bei der Deutschen Telekom, Belastungsschutztarifverträge durchzusetzen, um normprägend zu wirken. Gesundheitsschutz steht dort oben auf der Tagesordnung und für uns die Absicht, die Menschen gesund ans Ende des Erwerbslebens zu führen. Heute sagen uns leider viele Menschen, der Druck, der da in den letzten Jahren entstanden ist, der führt dazu, dass die Befürchtung wächst, nicht mehr gesund das Ende des Erwerbslebens erreichen zu können.

Heise: Bisher hat eigentlich die Gewerkschaft in den letzten Jahrzehnten die Erfahrung gemacht, dass man sich dann immer wieder mit den Arbeitgebern an einen Tisch setzen konnte. Dass man eben eine Partnerschaft eigentlich in gewisser Weise angestrebt hat. Bröckelt das eigentlich in letzter Zeit?

"Preiswettbewerb statt Innovationswettbewerb"
Schröder: Die Tarifbindung geht in vielen Branchen zurück, im Osten Deutschlands ganz markant. Das ist jetzt auch ein Grund, warum wir in manchen Branchen, beispielsweise bei Amazon, dann einen Konflikt vorfinden. Die Bereitschaft, in einer Branche eine Norm zu setzen, wie man denn wechselseitig zwischen Arbeitgebern in der Branche nicht unterbietet, die schrumpft. Statt auf Innovationswettbewerb setzt man auf Preiswettbewerb und versucht, mit immer günstigeren Konditionen den Beschäftigten noch mehr abzutrotzen. Das ist ein Phänomen, das unsere Arbeitswelt prägt, und dabei kommen dann prekäre Arbeitsverhältnisse raus.

Heise: Und ist das auch ein Ergebnis vor allem der Digitalisierung der Arbeitswelt?

Schröder: Ich würde sagen, nicht allein der Digitalisierung. Der Digitalisierung sind so Phänomene wie leichte Verlagerbarkeit der Arbeit geschuldet. Da sind Betriebsräte mehr und mehr der Drohung ausgesetzt, wenn ihr euch in Deutschland nicht fügt, wir können auch morgen in Bratislava und übermorgen in Indien produzieren – das sind so Phänomene, die Arbeit leichter verlagerbar macht. Ich glaube aber, das hängt mit Benchmarking-Systemen ein gutes Stück zusammen. Also Vergleichswerte, bei der man die Abteilung, den Branchenteil mit anderen, vermeintlich günstigeren vergleicht, um den Druck auf Arbeitnehmer zu erhöhen. Die haben sich in den letzten Jahren rapide verbreitet.

Heise: Und was setzt die Gewerkschaft dem entgegen?

Schröder: Wir versuchen uns, sehr viel stärker als in den vergangenen Jahren, mehr international aufzustellen, Gewerkschaften in anderen Ländern zu helfen. Wir arbeiten in meinem Sektor sehr stark mit der Communication Workers Unit of America zusammen. In konkreten Projekten, wo es darum geht, Arbeitsbedingungen zu verbessern, um derartige Unterbietungswettbewerbe zu verhindern. Und wir haben eins gemacht: Diese Benchmarking-Systeme brauchen eine Antwort. Welches System führt im Grunde im Selbstlauf zu mehr Humanität oder mehr sozialer Verantwortung? Wir haben den DGB-Index "Gute Arbeit" aufgelegt, die Arbeitsqualitäten werden dabei an den Bedürfnissen der Beschäftigten gemessen, und wir verbreiten Vergleichsmaßstäbe dafür, um innerhalb der Branche, innerhalb der Betriebe aus einem Dilemma herauszukommen. Denn Arbeitnehmer argumentieren ja häufig aus einer subjektiven Betroffenheit gegen so vermeintlich objektive Benchmarks. Und wenn wir jetzt eigene auflegen, die die soziale Verantwortung und die Arbeitsqualität messen, dann können wir dem entgegenhalten.

Heise: Digitalisierung in der Arbeitswelt. Die Auswirkungen auf die Arbeitnehmer. Dankeschön sage ich an Lothar Schröder, Ver.di-Bundesvorstand und Mitglied der Enquete-Kommission Internet und Digitale Gesellschaft. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag.

Schröder: Danke für Ihr Interesse, tschüss.

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