Erziehungskunst

Maria Montessori weist uns die Zukunft

04:44 Minuten
Maria Montessori, italienische Pädagogin, kolorierte Porträtaufnahme um 1920.
Bei der Beobachtung eines dreijährigen Mädchens machte Maria Montessori weitreichende Entdeckungen. © akg images
Überlegungen von Michael Klein-Landeck · 31.08.2020
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Wie keine zweite hat Maria Montessori das pädagogische Denken der Menschen rund um den Globus inspiriert und geprägt. Zu ihrem 150. Geburtstag wirbt Erziehungswissenschaftler Michael Klein-Landeck dafür, sich mehr mit ihren Ideen zu beschäftigen.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts studierte und erforschte Maria Montessori als Kinderärztin und Pädagogin die kindliche Entwicklung und verbreitete ihre Erkenntnisse über kindliche Lernprozesse in Büchern bei weltweit gehaltenen Vorträgen und in Ausbildungskursen.
Dabei spielte ein Schlüsselerlebnis eine besondere Rolle: Montessori beobachtete einmal ein dreijähriges Mädchen, das bei der Beschäftigung mit einem der von ihr kindgerecht entwickelten Lernmaterialien zu sehr tiefer, ausdauernder Konzentration fand. Dieses unerwartete Phänomen, das heißt, die ungeheure Konzentrationsfähigkeit eines kleinen Kindes auf eine Sache, nannte sie "Polarisation der Aufmerksamkeit". Es kam für sie einer Entdeckung gleich, die sie fortan weiter erforschte, denn was könnte es auch für die schulische Bildung Besseres geben als konzentriert lernende Schülerinnen und Schüler?

Montessoris Pädagogik-Grundsatz: "Hilf mir, es selbst zu tun!"

Montessori erkannte, dass Kinder besonders motiviert und nachhaltig lernen, wenn dies durch aktives Tun mit allen Sinnen geschieht, sie also vom Greifen zum Be-Greifen gelangen, und wenn sie selber entscheiden dürfen, wie lange, wo und mit wem sie arbeiten möchten. Sie benötigen dazu interessante Lernangebote, die sie frei auswählen und ungestört bearbeiten dürfen. Damit war das bis heute gültige und immer noch vorbildliche Konzept der Freiarbeit in pädagogisch vorbereiteter Lernumgebung mit dem speziell entwickelten Montessori-Material geboren.

Die stärkere Individualisierung und Handlungsorientierung des Lernens sind in den letzten Jahren zunehmend in den Fokus der Schulpädagogik gerückt. Lerngruppen an allen Schulformen werden, bedingt etwa durch Inklusion und Migration, immer heterogener. An Montessori-Schulen sind dies keine neuen Themen. Sie setzen sich schon seit über 50 Jahren für die Integration von Kindern mit Beeinträchtigungen ein und sind damit Vorreiter eines Verständnisses von schulischer Bildung, dass die Unterschiedlichkeit der Schüler ausdrücklich bejaht und niemanden ausgrenzt oder zurücklässt.

Montessori-Schulen sehen Vielfalt als Chance

Die individuelle Freiarbeit mit Montessori-Lernmaterial in den meist altersgemischten Lerngruppen von mehreren Jahrgängen ist dafür ein erwiesenermaßen bewährter Rahmen. Montessori-Schulen sehen diese Vielfalt als Chance zur umfassenden Förderung der kindlichen Entwicklung, die von Toleranz, Rücksichtnahme und Bereitschaft zu gegenseitiger Unterstützung geprägt ist.
Auch in Bezug auf den Anspruch einer Bildung für nachhaltige Entwicklung war Maria Montessori Vordenkerin. Schon ab den 1930er-Jahren entwickelte sie ihr Konzept der Kosmischen Erziehung mit seiner ökologischen, interkulturellen und friedenspädagogischen Ausrichtung, das vor allem im Grundschulbereich alle pädagogischen Bemühungen wie eine Klammer zusammenfasst und die Kinder auf ein Leben als verantwortungsvolle Weltbürger vorbereiten soll. Vernetztes Denken in Zusammenhängen und Erziehung zum verantwortlichen Handeln stehen dabei im Mittelpunkt.

Staatlichen Schulen können von Montessori lernen

Und wenn die aktuelle Coronakrise eines deutlich macht: Montessoris zentrales Anliegen, Schülerinnen und Schüler zu selbstständigem, eigenverantwortlichem Arbeiten zu erziehen, die auch im unfreiwilligen "Homeschooling" in der Lage sind, ihren Lernprozess weitgehend unabhängig vom Lehrer zu planen, zu strukturieren und zu evaluieren, ist zweifellos immer noch sehr modern. Hoffentlich übernehmen auch die staatlichen Schulen immer mehr ihrer pädagogischen Ideen, die seit mehr als 100 Jahren bewiesen haben, dass sie funktionieren und den Schülerinnen und Schülern guttun.
In diesem Sinne: herzlichen Glückwunsch, Maria Montessori!

Dr. Michael Klein-Landeck ist Gesamtschullehrer und Privatdozent an der Universität Hamburg; Autor und Herausgeber zahlreicher Werke zur Montessori-Pädagogik; Theoriedozent der Deutschen Montessori-Vereinigung (DMV) und der Deutschen Montessori-Gesellschaft (DMG); Schriftleitung der Zeitschrift Montessori.

Ein Mann mit Brille und Dreitagebart sitzt an einem Tisch und lächelt.
© privat
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